Bahnbrechendes Urteil für behinderte Berufstätige

Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest: Auch ein behinderter Mensch hat das Recht, seine Berufslaufbahn selbst zu gestalten.

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Die Urteilsbegründung des Bundesverwaltungsgerichtes zu Az BVerwG 5 C 9.16 (Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz) - direkt zur Urteilsbegründung

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 23. Januar 2018 (Az: BVerwG 5 C 9.16) über den Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz entschieden - dbsv-direkt 03-18 berichtete.

Zum konkreten Fall: Der blinde Kläger steht in einem Beamtenverhältnis. In den vergangenen Jahren reduzierte er diese Tätigkeit schrittweise auf 50 Prozent, um daneben eine Künstleragentur zu betreiben. Die dafür notwendige Arbeitsassistenz wurde ihm vom Integrationsamt in Schleswig-Holstein verweigert.

Das Bundesverwaltungsgericht hat dem Kläger Recht gegeben und nun die Urteilsbegründung zugestellt. Rechtsanwalt Dr. Michael Richter von der rbm gGmbH, der Rechtsberatungsgesellschaft des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V. (DBSV), hat den Kläger vertreten und stellt fest: "Die Rechtsprechung ist im Berufsleben des 21. Jahrhunderts angekommen!"

Erstmals wird festgehalten, dass der Anspruch auf Arbeitsassistenz für behinderte Menschen nicht nur der Vermeidung von Arbeitslosigkeit dient, sondern auch zur Chancengleichheit dieses Personenkreises auf dem Arbeitsmarkt beitragen soll: "Dem liegt das Verständnis eines Menschen zugrunde, bei dem sich auch im Beruf die Persönlichkeit entfaltet und der seine Arbeitskraft hierfür einsetzt. Deshalb ist es (ebenso wie bei einem nichtbehinderten Menschen) grundsätzlich Sache des schwerbehinderten Menschen zu entscheiden, welchem Beruf er nachgeht, ob er diesem seine Arbeitskraft vollumfänglich widmet oder ob er sie anteilig für mehrere Erwerbstätigkeiten einsetzt, und ob er eine Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung ausüben möchte."

Den Gedanken der Chancengleichheit hat das Gericht in der Urteilsbegründung gleich mehrfach aufgegriffen. Bemerkenswert zudem, wie ausdrücklich das Gericht sich auf die UN-Behindertenrechtskonvention bezieht. Für Michael Richter ist das Urteil der erhoffte Meilenstein: "Hier wird in aller Klarheit gesagt, dass auch ein behinderter Mensch das Recht hat, seine Berufslaufbahn selbst zu gestalten", stellt er zufrieden fest.

Der DBSV veröffentlicht im Folgenden die vollständige Urteilsbegründung, weil sie über den verhandelten Einzelfall hinaus von Bedeutung ist:

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

BVerwG 5 C 9.16
OVG 3 LB 17/15

In der Verwaltungsstreitsache des Herrn (. . .),

Klägers, Berufungsklägers und Revisionsklägers,

- Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. Michael Richter,
Freiherr-vom-Stein-Straße 24, 35041 Marburg -

gegen

das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung

Beklagten, Berufungsbeklagten und Revisionsbeklagten,

Beteiligter:
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht, Bundesallee 216-218, 10719 Berlin,

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 23. Januar 2018
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen-Weiß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Harms und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Holtbrügge

ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Schleswig-Holstein vom 18. Februar 2016 aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

GRÜNDE

I

  • 1 Der blinde und als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 100 anerkannte Kläger begehrt die Übernahme der Kosten einer Arbeitsassistenz.
  • 2 Er steht seit 2000 als Beamter im Dienst des luxemburgischen Staates. Bis 2013 reduzierte er schrittweise diese Tätigkeit auf 50%, um daneben eine von ihm 2008 gegründete Firma zu betreiben, die Künstler vermittelt und managt. Am 14. Januar 2014 beantragte der Kläger für seine selbstständige Tätigkeit die Kostenübernahme für eine selbst organisierte Arbeitsassistenz gemäß §102 Abs.4 SGBIX im Umfang von wöchentlich 13Stunden. Das beklagte Ministerium lehnte den Antrag unter Hinweis darauf ab, dass die Kostenübernahme dem Abbau der Arbeitslosigkeit diene, der Kläger aber nicht arbeitslos, sondern durch seine Berufstätigkeit als Beamter bereits in das Arbeitsleben integriert sei. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung des Klägers im Wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Leistungen des SGB IX die Teilhabe am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen, erleichtern oder sichern sollten. Der Kläger sei durch seine Tätigkeit als Beamter in Luxemburg bereits hinreichend in das Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingegliedert. Aus der freiwilligen Reduzierung dieser Tätigkeit könne nicht folgen, dass die Eingliederung nachträglich wieder entfalle. Auch aus verfassungsrechtlichen Grundsätzen ergäbe sich keine andere Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der notwendigen Arbeitsassistenz.3.
  • 3 Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Der Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht treten dem entgegen.

II

  • 4 Die Revision, über die im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist begründet. Das angefochtene Urteil steht nicht im Einklang mit Bundesrecht. Es verletzt §102 Abs.4 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGBIX) in der bis zum 31.Dezember 2017 geltenden Fassung (a.F.) und die gleichlautende Nachfolgeregelung des §185 Abs.5 SGBIX (n.F.) in der seither geltenden Fassung (BGBl. I 2016, 3234 <3292>). Entgegen der entscheidungstragenden Annahme des Oberverwaltungsgerichts steht das Innehaben eines sicheren Arbeitsplatzes im Rahmen einer hälftigen Teilzeitbeschäftigung der Bewilligung von Mitteln für eine notwendige Arbeitsassistenz zur Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nicht entgegen. Weil das Oberverwaltungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus zutreffend - keine Feststellungen getroffen hat, die eine abschließende Entscheidung erlauben, ob die übrigen Voraussetzungen einer "notwendigen Arbeitsassistenz" im Sinne der genannten Bestimmungen vorliegen, ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
  • 5 1. Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz kommt bis zum 31.Dezember 2017 § 102 Abs. 4 SGBIX a.F. und für die Zeit danach §185 Abs. 5 SGB IX n.F. in Betracht.
  • 6 Der Senat hat die Gesetzesänderung zu beachten, die seit der Antragstellung am 14. Januar 2014 ergangen ist. Denn für die revisionsgerichtliche Beurteilung ist die Rechtslage maßgeblich, auf die die Vorinstanz abzustellen hätte, wenn sie anstelle des Revisionsgerichts jetzt zu entscheiden hätte (BVerwG, Urteil vom 12. März 2002 - 5 C 45.01 - BVerwGE 116, 119 <120> m.w.N.). Dies ist angesichts des streitbefangenen Zeitraums die Rechtslage von der Antragstellung bis zur erneuten Entscheidung des Berufungsgerichts.
  • 7 Hat die Behörde über einen Leistungsanspruch bis zu einem in die Zukunft hineinreichenden Zeitpunkt entscheiden wollen, unterliegt der gesamte Zeitraum, den die Behörde mit ihrer Entscheidung erfassen wollte, der gerichtlichen Überprüfung (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Juli 1998 - 5 C 2.97 - Buchholz 436.0 § 120 BSHG Nr. 17 S. 9). Demzufolge kann sich die Regelung eines Hilfefalles bei ablehnenden Behördenentscheidungen, die sich auf einen bestimmten rechtlichen Gesichtspunkt stützen, der nach Auffassung der Behörde der begehrten Leistungsgewährung dauerhaft entgegensteht, auf den (gesamten) Zeitraum gleichbleibender unveränderter rechtlicher und tatsächlicher Verhältnisse erstrecken. So ist es hier.
  • 8 Der Beklagte hat den in Bezug auf den Endzeitpunkt offen formulierten Antrag des Klägers über den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung hinaus dauerhaft abgelehnt, indem er sich der Sache nach darauf gestützt hat, dass eine Arbeitsassistenz für eine - wie hier in Rede stehende - Zweittätigkeit von vorn- herein nicht notwendig sein könne.
  • 9 2. Nach § 102 Abs. 4 SGB IX a.F. bzw. § 185 Abs. 5 SGB IX n.F. haben schwerbehinderte Menschen im Rahmen der Zuständigkeit des Integrationsamtes für die begleitende Hilfe im Arbeitsleben aus den ihm aus der Ausgleichsabgabe zur Verfügung stehenden Mitteln Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz. Diese Vorschrift begründet nach ihrem insoweit unmissverständlichen Wortlaut und im Unterschied zu § 102 Abs. 3 SGB IX a.F. bzw. § 185 Abs. 3 SGB IX n.F. ("kann") einen nicht im Ermessen der Behörde stehenden Anspruch auf Kostenübernahme. Der hierbei verwendete Begriff der "notwendigen Arbeitsassistenz" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum der zuständigen Behörde, der der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt.
  • 10 Die Beteiligten und das Berufungsgericht gehen zu Recht übereinstimmend davon aus, dass die Übernahme der Kosten für eine Arbeitsassistenz auch für eine selbstständige Tätigkeit des schwerbehinderten Menschen in Betracht kommt, die nachhaltig betrieben wird und dem Aufbau bzw. der Sicherung einer wirtschaftlichen Lebensgrundlage zu dienen geeignet ist. Nach § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB IX a.F. bzw. § 185 Abs. 2 Satz 2 SGB IX n.F. soll die begleitende Hilfe im Arbeitsleben dahin wirken, dass schwerbehinderte Menschen auf geeigneten Arbeitsplätzen beschäftigt werden. Zwar werden Arbeitsplätze durch § 73 Abs. 1 SGB IX a.F. bzw. §156 Abs. 1 SGB IX n.F. als Stellen definiert, auf denen abhängig Beschäftigte tätig sind. Das führt aber nicht dazu, dass selbst- ständige Tätigkeiten eines schwerbehinderten Menschen nicht durch Übernahme der Kosten für eine Arbeitsassistenz unterstützt werden können (a.A. VG Münster, Urteil vom 26.November 2013 - 6 K 611/11 - UV-Recht Aktuell 2014, 124 zu § 33 Abs. 8 Nr. 3 SGB IX a.F.). Denn § 102 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Buchst, c) SGB IX a.F. bzw. § 185 Abs. 3 Nr. 1 Buchst, c) SGB IX n.F. sehen im Rahmen der begleitenden Hilfe im Arbeitsleben ausdrücklich auch Geldleistungen des Integrationsamtes zur Gründung und Erhaltung einer selbstständigen beruflichen Existenz vor.
  • 11 Die "Notwendigkeit" der Arbeitsassistenz ist, worüber die Beteiligten im Revisionsverfahren allein streiten, nicht deshalb zu verneinen, weil der schwerbehinderte Mensch bereits einer anderen Teilzeitbeschäftigung nachgeht. Das ergibt die Auslegung der Vorschriften anhand der anerkannten Auslegungsmethoden (a). Dem Anspruch auf Kostenübernahme kann auch nicht entgegengehalten werden, dass der schwerbehinderte Mensch den Umfang seiner bereits bestehenden Beschäftigung freiwillig reduziert hat, um der anderen Erwerbstätigkeit, für die er die Arbeitsassistenz benötigt, nachgehen zu können (b). Aus dem Umstand, dass das Integrationsamt die ihm aus der Ausgleichsabgabe zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen hat, lässt sich nicht herleiten, dass eine Arbeitsassistenz nur dann notwendig ist, wenn sie der Überwindung von Arbeitslosigkeit dient (c).
  • 12 a) Der Begriff der Notwendigkeit im Sinne von § 102 Abs. 4 SGB IX a.F. bzw. § 185 Abs. 5 SGB IX n.F. ist in dem dargelegten weiten Sinne auszulegen.
  • 13 Dieses Verständnis ist bereits im Wortlaut der Vorschriften angelegt. Die Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz werden als "begleitende" Hilfen "im Arbeitsleben" übernommen. Der Bezug auf ein in der Regel mehrere Jahrzehnte währendes Arbeitsleben, das durch die Hilfe begleitet werden soll, weist darauf hin, dass das Gesetz nicht nur eine punktuelle Unterstützung des schwerbehinderten Menschen (etwa zur Überwindung von Arbeitslosigkeit) ermöglicht, sondern darüber hinausgehend auch eine länger andauernde, unter Umständen sogar permanente Hilfe vorsieht. Im modernen Arbeitsleben kann - wie allgemein bekannt - nicht davon ausgegangen werden, dass jemand während des gesamten Erwerbslebens derselben Tätigkeit nachgeht oder denselben Beruf ausübt.
  • 14 Der systematische Vergleich mit der Regelung des § 33 Abs. 8 Satz 1 Nr. 3 SGB IX a.F. bzw. § 49 Abs. 8 Satz 1 Nr. 3 SGB IX n.F. bekräftigt das durch den Wortlaut nahegelegte Begriffsverständnis. Diese sehen die Kostenübernahme für eine notwendige Arbeitsassistenz als Hilfe "zur Erlangung eines Arbeitsplatzes" für die Dauer von bis zu drei Jahren (§ 33 Abs. 3 Satz 2 SGB IX a.F. bzw. § 49 Abs. 8 Satz 2 SGB IX n.F.) vor. Diese Hilfe ist als eine "zeitlich befristete berufliche Einstiegshilfe" (BR-Drs. 49/01 S. 320) angelegt. § 102 Abs. 4 SGB IX a.F. bzw. § 185 Abs. 5 SGB IX n.F. enthalten demgegenüber keine derartige Zweckbestimmung und auch keine Höchstdauer der Leistungsgewährung.
  • 15 In die gleiche Richtung weisen § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB IX a.F. bzw. §185 Abs.2 Satz 2 SGB IX n.F., wonach die von den Integrationsämtern durchgeführte begleitende Hilfe im Arbeitsleben dahin wirken soll, dass die schwerbehinderten Menschen in ihrer sozialen Stellung nicht absinken, auf Arbeitsplätzen beschäftigt werden, auf denen sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse voll verwerten und weiterentwickeln können sowie durch Leistungen der Rehabilitationsträger und Maßnahmen der Arbeitgeber befähigt werden, sich am Arbeitsplatz und im Wettbewerb mit nichtbehinderten Menschen zu behaupten. Die Maßnahmen zielen somit auch darauf ab, dem schwerbehinderten Menschen eine vollständige Umsetzung seiner vorhandenen Fähigkeiten und Kenntnisse im Erwerbsleben zu ermöglichen und diese darüber hinaus weiterzuentwickeln. Dem liegt das Verständnis eines Menschen zugrunde, bei dem sich auch im Beruf die Persönlichkeit entfaltet und der seine Arbeitskraft hierfür einsetzt. Deshalb ist es (ebenso wie bei einem nichtbehinderten Menschen) grundsätzlich Sache des schwerbehinderten Menschen zu entscheiden, welchem Beruf er nachgeht, ob er diesem seine Arbeitskraft vollumfänglich widmet oder ob er sie anteilig für mehrere Erwerbstätigkeiten einsetzt, und ob er eine Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung ausüben möchte.
  • 16 Das entspricht dem in Art. 27 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention UN-BRK) zum Ausdruck kommenden Menschenbild. Nach dessen Abs.1 Satz1 Halbs. 2 beinhaltet das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit u.a. das Recht, diese frei zu wählen. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist nach dem Gesetz vom 21. Dezember 2008 (BGBl II S. 1419) seit dem 1. Januar 2009 als innerstaatliches Recht im Rang einfachen Bundesrechts anzuwenden und kann als Auslegungshilfe für die Bestimmung und den Inhalt der Grundrechte (BVerfG, Beschluss vom 23.März 2011 - 2 BvR 882/09 - BVerfGE 128, 282 Rn. 52; BSG, Urteil vom 6.März 2012 - B 1 KR 10/11 R - BSGE 110, 194 Rn. 31) und des einfachen Gesetzes rechts herangezogen werden.
  • 17 Insbesondere die Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Regelungen und der sich hieraus ergebende Sinn und Zweck der Kostenübernahme für eine notwendige Arbeitsassistenz als begleitende Hilfe im Arbeitsleben sprechen mit erheblichem Gewicht dafür, dass eine bereits ausgeübte Teilzeitbeschäftigung der fraglichen Kostenübernahme für eine andere Erwerbstätigkeit nicht entgegensteht. Die Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz wurde erstmals durch Art.1 Nr.17 Buchst.c des Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vom 29.September 2000 (BGBl. I S. 1394 <1398>) als § 31 Abs. 3a des Schwerbehindertengesetzes eingeführt. Aussagekräftige Hinweise zur Arbeitsassistenz lassen sich den diesbezüglichen Gesetzesmaterialien, insbesondere den konkreten Erläuterungen zu dieser Bestimmung nicht entnehmen. Dies gilt ebenso angesichts der im Sommer 2001 erfolgten Übernahme der Regelungen in das Neunte Buch Sozialgesetzbuch. Deshalb hat das Oberverwaltungsgericht mit Recht die allgemeine Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter herangezogen. Danach sollte mit den Regelungen des Gesetzes dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Rechnung getragen wer- den. Vor dem Hintergrund einer vom Gesetzgeber festgestellten seit Jahren bestehenden überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen sollte die Chancengleichheit schwerbehinderter Menschen im Arbeits- und Berufsleben verbessert und ihre Arbeitslosigkeit schnellstmöglich abgebaut werden (BT-Drs. 14/3372 S. 15). Dem Abbau der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen kam und kommt damit im Rahmen der auf die Erwerbstätigkeit bezogenen Regelungen des Neunten Buches Sozialgesetzbuch zwar eine wesentliche Bedeutung zu. Das bedeutet aber nicht, dass drohende oder bereits eingetretene Arbeitslosigkeit zugleich eine notwendige Bedingung für das Ein- greifen dieser Regelungen im Allgemeinen und speziell der Vorschriften des § 102 Abs. 4 SGB IX a.F. bzw. § 185 Abs. 5 SGB IX n.F. wäre. Dies ergibt sich schon aus dem ebenfalls verfolgten Ziel der Verbesserung der Chancengleichheit schwerbehinderter Menschen im Arbeits- und Berufsleben im Vergleich zu nichtbehinderten Menschen, dem nicht nur bei erstmaliger Aufnahme einer Beschäftigung, sondern während der gesamten Zeitdauer der Erwerbstätigkeit Rechnung getragen werden soll. Nichtbehinderten Menschen steht es frei zu entscheiden, wie sie ihre Arbeitskraft einsetzen. Namentlich können sie nach eigenem Gutdünken darüber befinden, welchen Beruf sie ergreifen wollen, ob sie diesem ihre Arbeitskraft vollumfänglich widmen oder sie anteilig auf mehrere Erwerbstätigkeiten aufteilen. Für schwerbehinderte Menschen kann daher nichts anderes gelten.
  • 18 Insoweit ist auch zu beachten, dass der Aspekt der Chancengleichheit für beruflich schon etablierte schwerbehinderte Menschen bereits Ausdruck in der Begründung des Gesetzentwurfs zu §21 Abs.2 des Schwerbeschädigtengesetzes von 1961, der Vorläufernorm zu §102 Abs.2 SGB IX a.F. bzw. §185 Abs. 2 SGB IX n.F., gefunden hat, in der für die seinerzeit so bezeichneten Schwerbeschädigten die Notwendigkeit des Arbeitsplatzwechsels aus Gründen des beruflichen Aufstiegs thematisiert wurde (BT-Drs. 1256/03 S. 7, 14). Auch dieser gesetzeshistorische Hintergrund weist darauf hin, dass die Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz auch der Chancengleichheit solcher schwerbehinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt dient, die aktuell nicht von schon eingetretener oder drohender Arbeitslosigkeit betroffen sind. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass das Gesetz die beruflichen Belange bereits erwerbstätiger schwerbehinderter Menschen aus dem Blick verloren hätte.
  • 19 Jedenfalls aus der Gesamtschau der aufgezeigten Gesichtspunkte folgt, dass die "Notwendigkeit" einer Arbeitsassistenz nicht unter Hinweis auf eine bereits bestehende andere Erwerbstätigkeit verneint werden kann. Mithin kann die erstrebte Kostenübernahme nicht schon mit der Begründung versagt werden, der Kläger sei bereits als Beamter beschäftigt und damit hinreichend in das Arbeitsleben integriert.
  • 20 b) Der Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz scheitert auch nicht daran, dass ein schwerbehinderter Mensch den Beschäftigungsumfang seiner bereits bestehenden Tätigkeit freiwillig reduziert hat, um einer anderen Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, für die er eine Arbeitsassistenz benötigt. Die gesetzliche Regelung stellt ausschließlich darauf ab, ob eine Arbeitsassistenz notwendig ist. Bezugspunkt hierfür ist die von dem schwerbehinderten Menschen konkret ausgeübte oder angestrebte Erwerbstätigkeit. Die gesetzlichen Regelungen bieten keinen Anhalt dafür, die Notwendigkeit der Arbeitsassistenz deshalb zu verneinen, weil ihre Inanspruchnahme durch Aufnahme oder Fortführung einer anderen, den Fähigkeiten und Kenntnissen des Schwerbehinderten gleichfalls entsprechenden Erwerbstätigkeit vermeidbar gewesen wäre. Eine andere Sichtweise führte unter nicht hinreichender Beachtung des Gebots der Chancengleichheit sowie des allgemein bekannten Umstands, dass in der modernen Arbeitswelt ein freiwilliger Wechsel des Arbeitsplatzes oder des ausgeübten Berufs im Laufe eines Erwerbslebens (aus den unterschiedlichsten Gründen) durchaus üblich ist, dazu, einem schwerbehinderten Menschen, der auf einem seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz ohne Inanspruchnahme einer Arbeitsassistenz erwerbstätig ist, den freiwilligen Wechsel auf einen gleichfalls seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz generell zu verwehren, wenn er hierfür auf die Inanspruchnahme einer Arbeitsassistenz angewiesen ist. Konsequenterweise wäre dann auch bei erster Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch einen schwerbehinderten Menschen, für die er auf eine Arbeitsassistenz angewiesen ist, zu prüfen, ob er nicht auf eine Tätigkeit ohne Arbeitsassistenz verwiesen werden kann, wofür allerdings eine Rechtsgrundlage nicht ersichtlich ist.
  • 21 c) Eine auf die Fälle der Arbeitslosigkeit begrenzte Auslegung des Begriffs der Notwendigkeit im Sinne von §102 Abs.4 SGBIX a.F. bzw. §185 Abs.5 SGB IX n.F. ist auch nicht mit Blick darauf geboten, dass das Integrationsamt insoweit die ihm aus der Ausgleichsabgabe im Sinne von §77 Abs. 1 SGB IX a.F. bzw. § 160 Abs. 1 SGB IX n.F. zur Verfügung stehenden Mitteln einzusetzen hat.
  • 22 Diese Mittel sind begrenzt und müssen nicht nur für die Kosten der Arbeitsassistenz, sondern auch noch für andere Aufgaben des Integrationsamtes verwendet werden. Hierdurch unterscheidet sich die Bewirtschaftung dieser Mittel aber nicht grundlegend von der Bewirtschaftung anderer Finanzmittel. Die Finanzierung aus der Ausgleichsabgabe rechtfertigt es daher nicht, eine Fallgruppe, hier die der teilzeitbeschäftigten schwerbehinderten Menschen, die einer anderen bzw. (neben einer Teilzeitbeschäftigung) weiteren Erwerbstätigkeit nachgehen wollen, generell von der Unterstützung durch Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz auszunehmen. Die Verwendung der Mittel aus der Ausgleichsabgabe entbindet nicht von der Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf die Kosten einer Arbeitsassistenz.
  • 23 3. Die Sache ist zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um diesem die Prüfung zu ermöglichen, ob die Voraussetzungen für die Bewilligung einer "notwendigen Arbeitsassistenz" im Übrigen erfüllt sind. Das ist nicht der Fall, wenn die Unterstützungshandlungen über das hinausgehen, was unter Berücksichtigung der konkreten Arbeitsumstände zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile geboten ist. Dies bedarf im Falle der Kostenübernahme zur Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit einer substantiierten Prüfung. Denn im Unterschied zu einer abhängigen Beschäftigung sind die beruflichen Aufgaben eines Selbstständigen nicht arbeitsvertraglich festgelegt, weshalb es schwieriger sein mag zu unterscheiden, was noch als bloße Unterstützungshandlung (Assistenz) zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile oder schon als Haupttätigkeit des Selbstständigen anzusehen ist, zu deren anderweitigen Wahrnehmung üblicherweise abhängig Beschäftigte eingesetzt werden. Das Oberverwaltungsgericht wird daher insbesondere näher aufzuklären und festzustellen haben, für welche Tätigkeiten, in welcher Art und in welchem (zeitlichen) Umfang der Kläger im Rahmen seiner selbstständigen Erwerbstätigkeit eines Ausgleichs seiner behinderungsbedingten Nachteile bedarf.

Vormeier

Stengelhofen-Weiß

Dr. Störmer

Dr. Harms

Holtbrügge