Deutschland in der Corona-Krise - die politischen Forderungen des DBSV

Gesellschaftliche Herausforderungen aufgrund der Corona-Pandemie – Handlungsbedarfe aus Sicht des DBSV

Aktuell beweist die Politik eindrucksvoll, dass wichtige und mit großem Finanzvolumen einhergehende Entscheidungen schnell getroffen werden können. An dieser Entscheidungsfreude muss auch dann festgehalten werden, wenn es um die Sicherung und Verwirklichung voller und gleichberechtigter Teilhabe behinderter Menschen geht. Die Corona-Pandemie verschärft einige Versäumnisse der Vergangenheit für die Teilhabechancen blinder und sehbehinderter Menschen besonders stark. Diese Barrieren gilt es nun mit Nachdruck abzubauen. Gleichzeitig dürfen weder Schutzvorschriften in der pandemischen Lage, noch die immensen finanziellen Herausforderungen für den Staat dazu führen, dass die in den letzten Jahren erreichten Fortschritte für eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen aufgegeben werden. Zu den Handlungsbedarfen im Einzelnen:

Infektionsschutzmaßnahmen dürfen behinderte Menschen weder unmittelbar, noch mittelbar benachteiligen!

Die Infektionsschutzmaßnahmen stellen alle Menschen vor besondere Herausforderungen. Allerdings zeigt sich auch, dass sie behinderte Menschen mit besonderer und teilweise unverhältnismäßiger Härte belasten und sie letztlich – vielleicht auch unbeabsichtigt – ausgrenzen. Wenn Menschen, die auf Assistenz/Begleitung angewiesen sind, nicht mehr mit Begleitung im Taxi mitgenommen oder ins Ladengeschäft gelassen werden, dann ist das nicht hinzunehmen. Wenn Menschen, die in Pflegeeinrichtungen oder Angeboten der Behindertenhilfe leben, zu ihrem Schutz vor der Außenwelt isoliert werden und gleichzeitig auch innerhalb der Einrichtung keine adäquaten Angebote zur Kontaktpflege oder zum sozialen Leben erhalten, dann ist das unverhältnismäßig und inakzeptabel. Wenn Museen wieder öffnen, das Berühren von Gegenständen aber per se verboten wird, dann grenzt das blinde und sehbehinderte Menschen aus. Es ist auch nicht zu tolerieren, wenn Menschen mit Behinderungen im Alltag angefeindet werden, die keinen Mund-Nase-Schutz tragen.

Wir fordern daher:

  • In den gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Bevölkerung vor Infektionen ist abzusichern, dass Menschen mit Behinderungen durch die ergriffenen Maßnahmen weder unmittelbar, noch mittelbar diskriminiert werden.
  • Wenn Menschen zu ihrem Schutz vor einem besonders schweren Krankheitsverlauf isoliert werden, dann darf das nur im absoluten Ausnahmefall passieren, sofern zugleich sichergestellt ist, dass dieser Eingriff durch Angebote innerhalb einer Einrichtung angemessen kompensiert wird.
  • Infektionsschutzvorschriften bekommen als Ausnahmezusatz, dass Menschen mit Merkzeichen B im Schwerbehindertenausweis zur Mitnahme einer Begleitung immer berechtigt sind.
  • Für das Tragen von Mund-Nase-Schutz werden Ausnahmeregelungen getroffen, die sowohl die gesundheitlichen, als auch teilhabespezifische Aspekte berücksichtigen.
  • Um eine bundesweit einheitliche Umsetzung zu gewährleisten, veröffentlicht der Bund insoweit eine Musterverordnung.
  • Wenn kulturelle oder sportliche Aktivitäten wieder zugelassen werden, dann müssen die geltenden Hygienekonzepte so ausgestaltet werden, dass die Teilhabe an diesen Aktivitäten auch für behinderte Menschen möglich ist.
  • Durch Öffentlichkeitsarbeit muss die Bevölkerung informiert und sensibilisiert werden, dass, welche und warum Ausnahmeregelungen bestehen.

Diskriminierungsfreien Zugang zur Gesundheitsversorgung absichern!

Alle Menschen haben das Recht auf einen gleichberechtigten Zugang zur gesundheitlichen Versorgung. Das gilt auch bei Notfällen.

Wir fordern daher:

  • Menschen mit Behinderungen müssen auch bei Kontaktbeschränkungen im Krankenhaus eine notwendige Assistenz, wie z. B. Taubblindenassistenz, erhalten. Die Kommunikation mit Ärztinnen und Ärzten und mit Pflegekräften ist abzusichern.
  • Es müssen alle möglichen Anstrengungen unternommen werden, um eine Triage zu vermeiden, denn es ist immer ein unauflösbares ethisches, moralisches und rechtliches Dilemma, Entscheidungen über Lebenschancen treffen zu müssen. Das erfordert insbesondere den Aufbau ausreichender Kapazitäten für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung.
  • Aktuell ist der Staat aufgefordert, seine Wächterfunktion wahrzunehmen und die aus Sicht des DBSV der Verfassung widersprechenden Umsetzungsempfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften zur Triage zu verhindern.

Digitale Barrierefreiheit jetzt mit Nachdruck voranbringen!

Die Digitalisierung erfährt durch die physischen Kontaktbeschränkungen eine enorme Beschleunigung. Dabei wird in allen Lebensbereichen deutlich, dass die mangelnde Barrierefreiheit digitaler Angebote blinde und sehbehinderte Menschen besonders hart trifft. Sie können beispielsweise weder wegen der Distanzregeln im Supermarkt, noch wegen unzugänglicher Internetangebote online einkaufen. Homeoffice wird gerade zum Standard mit Videokonferenzen und digitalen Arbeitsplattformen. Diese können oft von blinden und sehbehinderten Menschen nur schlecht oder gar nicht genutzt werden, weil sie nicht barrierefrei programmiert sind. Lehrerinnen und Lehrer kommunizieren mit ihren Klassen über digitale Lernplattformen. Davon sind jedoch die allermeisten wie auch die ausgereichten Unterrichtsmaterialien für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler unzugänglich. Blinde und sehbehinderte Menschen werden damit aus dem digital organisierten gesellschaftlichen Leben gedrängt.

Wir fordern daher:

  • Bund und Länder müssen zeitnah einen ambitionierten Gesetzentwurf zur Umsetzung des European Accessibility Act (EAA) verabschieden.
  • Digitale Barrierefreiheit muss Inhalt der Ausbildungs- und Studienpläne, Prüfungsordnungen, Weiterbildungsprogramme und Schulungsmodule aller Berufssparten werden.
  • Es sollte einen Bund-Länder-Dialog für barrierefreie digitale Bildung geben.
  • Die Behindertengleichstellungsgesetze der Länder sind so weiterzuentwickeln, dass alle Kitas, Schulen, Hochschulen sowie sonstige Bildungseinrichtungen zur digitalen Barrierefreiheit verpflichtet werden.
  • In Anlehnung an § 13 Abs. 1 Satz 2 des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes (BGG) sind auch auf Länderebene Regelungen zu schaffen, die die Verwaltungen verpflichten, ihre elektronisch unterstützten Verwaltungsabläufe, einschließlich ihrer Verfahren zur elektronischen Vorgangsbearbeitung und zur elektronischen Aktenführung, schrittweise barrierefrei zu gestalten.
  • An digitale Förderprogramme muss Barrierefreiheit als Förderkriterium geknüpft werden. Ein spezielles Förderprogramm sollte barrierefreie Innovationen im Digitalbereich besonders adressieren.

Teilhabe am Arbeitsleben sichern und fördern!

Menschen mit Behinderungen, die am ersten Arbeitsmarkt tätig und wegen der Pandemie auf zusätzliche Unterstützung angewiesen sind, sehen sich besonderen Hürden ausgesetzt. Es gibt keine bundeseinheitliche Vorgehensweise in Krisenzeiten. Das nötige Personal für die zeit- und sachgerechte Bearbeitung von Anträgen auf Teilhabeleistungen, z. B. auf zusätzliche Hilfsmittel fürs Homeoffice oder auf Kfz-Hilfen fürs Taxi zur geschützten Bewältigung des Arbeitswegs, wurde anderweitig eingesetzt. Sehbehinderte und blinde Menschen sind unter solchen Voraussetzungen nicht mehr wettbewerbsfähig im Arbeitsleben.

Gleichzeitig wurde die Frist zur Anzeige der beschäftigten schwerbehinderten Menschen für Arbeitgeber und damit auch die Zahlung der Ausgleichsabgabe bei Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht gestundet. Diese Mittel werden jedoch benötigt, um Leistungen der Integrationsämter für begleitende Hilfen im Arbeitsleben, wie Arbeitsassistenz, Hilfsmittel oder Weiterbildungen, zu finanzieren.

Bei einem „schwächelnden“ Arbeitsmarkt sind Menschen mit Behinderungen besonders schnell von Arbeitslosigkeit betroffen – ein Personenkreis, der schon bislang viel zu häufig arbeitssuchend ist.

Wir fordern daher:

  • Alle Rehabilitationsträger müssen sicherstellen, dass auch in Krisenzeiten ausreichend Personal für die zügige Bearbeitung von Anträgen auf Teilhabeleistungen zur Verfügung steht.
  • Es sollte ein verkürztes Rehaverfahren bei krisenbedingten Teilhabebedarfen eingeführt werden. Eine Beschleunigung kann dadurch erreicht werden, dass der erstangegangene Träger in diesen Fällen sofort zum leistenden Rehabilitationsträger im Sinne von § 15 SGB IX wird.
  • Kfz-Hilfen müssen auch bei vorübergehendem Bedarf in Ausnahmesituationen erbracht werden können. Dafür ist eine Anpassung der Kraftfahrzeughilfe-Verordnung erforderlich.
  • Jeder Mensch mit Schwerbehinderung, der arbeitssuchend gemeldet wird, sollte sofort eine Integrationsmaßnahme als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben angeboten bekommen. So kann sofort geklärt werden, ob benötigte Hilfsmittel und technische Arbeitshilfen auf dem aktuellen Stand sind und Schulungsbedarfe aufgrund der Digitalisierung bestehen, ob es Weiterbildungsbedarfe gibt etc. Nicht zuletzt sollte über integrierte Praktika die Reintegration in den Arbeitsmarkt befördert werden.
  • Mindereinnahmen durch die Stundung der Ausgleichsabgabe müssen kompensiert werden, damit die gerade jetzt erforderlichen Leistungen, wie begleitende Hilfen im Arbeitsleben, Menschen mit Behinderungen uneingeschränkt zur Verfügung stehen.
  • Der Druck, schwerbehinderte Menschen einzustellen, muss bleiben. Die Beschäftigungspflicht muss auch in Krisenzeiten nachdrücklich durchgesetzt werden.
  • Es muss eine höhere Ausgleichsabgabe für Betriebe eingeführt werden, die überhaupt keine schwerbehinderten Menschen beschäftigen.

Barrierefreie Kommunikation gewährleisten!

In Notfällen sind alle Menschen auf verlässliche Informationen angewiesen.

Wir fordern daher:

  • Die Krisenkommunikation des Bundes und der Länder muss konsequent barrierefrei gestaltet werden. Gebärdensprache, Brailleschrift, leichte Sprache, digitale Barrierefreiheit sind Elemente, die dafür in jeweiligen Vorschriften festzuschreiben sind.

Selbsthilfe stärken!

Selbsthilfeorganisationen sind wesentliche Akteure bei der Unterstützung behinderter Menschen. Ihre Strukturen und Angebote zum Austausch, zur Beratung, zur Rehabilitation etc. sind von den Betretungsverboten, durch Infektionsschutzmaßnahmen, aber auch durch die allgemeine wirtschaftliche Lage kurz- und längerfristig betroffen und gefährdet. So ist die Weiterfinanzierung insbesondere von Projekten nicht gesichert, angebotsbezogene Einnahmen entfallen weitgehend, mit einem Rückgang von Erträgen aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Unternehmenskooperationen, Stiftungsförderungen ist zu rechnen. Gleichzeitig wächst der Bedarf an Unterstützung durch die Selbsthilfe. Das macht Maßnahmen zum Erhalt der Selbsthilfestrukturen und –angebote erforderlich.

Wir fordern daher:

  • Die Unterstützung von Selbsthilfeorganisationen durch staatliche Schutzschirme muss sichergestellt werden.
  • Es muss ein Programm zur Weiterentwicklung von Selbsthilfestrukturen aufgelegt werden.
  • Die Selbsthilfeförderung durch die Krankenkassen muss erhöht werden

Berlin, 28.05.2020