Forderungen des DBSV zur Bundestagswahl 2021

Am 26. September 2021 ist Bundestagswahl. Aus diesem Anlass hat der Verwaltungsrat des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) am 7. Mai 2021 die folgende Resolution verabschiedet.

Behindertenpolitik ist keine rein sozialpolitische Aufgabe oder bloßer Ausdruck von Fürsorge. Die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen muss endlich auf allen Ebenen des politischen Wirkens sichergestellt werden. Die Corona-Pandemie hat die Auswirkungen einiger Versäumnisse der Vergangenheit auf die Teilhabechancen blinder und sehbehinderter Menschen verschärft. Die massiven Benachteiligungen sind dringend abzubauen – mit partizipativ gestalteter Gesetzgebung, wirksamen Förderprogrammen und weiteren Maßnahmen. Daran wird der DBSV die künftige Bundesregierung messen.

Barrierefreiheit muss zum Standard werden!

Behinderung entsteht aus der Wechselwirkung von individuellen Beeinträchtigungen und Barrieren. Barrierefreiheit ist daher kein nettes Beiwerk, sondern zentral für Teilhabechancen! Deshalb muss Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen zum Standard werden, im digitalen Raum ebenso, wie in der physischen Umwelt. Der DBSV fordert:

  • Barrierefreiheit gesetzlich verankern: Es müssen endlich für alle privaten Anbieter von Produkten und Dienstleistungen einheitliche, verlässliche und justiziable Verpflichtungen zur Barrierefreiheit geschaffen werden. Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz wird ein erster wichtiger Schritt gegangen. Die zur Ausgestaltung der Barrierefreiheitsanforderungen noch zu formulierenden Rechtsverordnungen müssen fristgerecht, an der Teilhabe ausgerichtet und in einem partizipativen Verfahren erstellt werden. Überdies müssen auch alle anderen Produkte und Dienstleistungen wie Haushaltsgeräte, online angebotene Dienste oder Veröffentlichungen der Print-Medien künftig barrierefrei zugänglich sein. Auch alle Sozialleistungen einschließlich der Gesundheitsleistungen müssen barrierefrei erbracht werden. Dazu sind die Anbieter zu verpflichten.
  • Barrierefreiheit konsequent umsetzen: Wer öffentliche Mittel erhält, muss seine Angebote barrierefrei erbringen. Im Vergabeverfahren muss Barrierefreiheit von der Ausschreibung über die Planung und Entwicklung bis zur Umsetzung konsequent berücksichtigt, überprüft und nachgehalten werden.
  • Schwächen des Föderalismus überwinden: Dringend erforderlich ist ein Bund-Länder-Dialog für barrierefreie digitale Bildung. Ein inklusives Bildungssystem kann es nur geben, wenn die (digitale) Infrastruktur von allen Menschen chancengleich genutzt werden kann. Die Entwicklung und Beschaffung von barrierefreien Lernplattformen, Konferenzsystemen oder Dokumentenmanagementsystemen kann nicht allein regional erfolgen. Auch im Bereich der Verwaltung muss es ein abgestimmtes Vorgehen von Bund und Ländern zur Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes geben, damit Barrierefreiheit lückenlos Realität wird.
  • Barrierefreiheit finanziell fördern: Förderprogramme des Bundes müssen verpflichtende Vorgaben zur Barrierefreiheit enthalten. Ein spezielles Förderprogramm sollte gezielt barrierefreie Innovationen im Digitalbereich und im Zusammenhang künstlicher Intelligenz adressieren.
  • Aus- und Weiterbildung modernisieren: Damit Barrierefreiheit umgesetzt werden kann, muss sie Inhalt der Ausbildungs- und Studienpläne, Prüfungsordnungen, Weiterbildungsprogramme und Schulungsmodule aller Berufssparten werden.

Schutz vor Diskriminierung stärken!

Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen sind noch immer Realität und die Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren, unzureichend. Der DBSV fordert:

  • Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) muss endlich reformiert werden. Die Missachtung der Pflicht zur Barrierefreiheit und die Versagung angemessener Vorkehrungen sind als Diskriminierungstatbestände anzuerkennen. Bisher zulässige Rechtfertigungsgründe für eine ungleiche Behandlung sind einzuschränken. Die Rechte aus dem AGG müssen verbandsklagefähig werden.

Diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung gewährleisten!

Noch immer haben Menschen mit Behinderungen keinen gleichwertigen Zugang zu allgemeinen und speziell wegen ihrer Behinderung erforderlichen Gesundheitsleistungen. Der DBSV fordert:

  • Eine qualitätsgesicherte, flächendeckende und bedarfsgerechte augenärztliche Versorgung muss sichergestellt werden, auch für Menschen im ländlichen Raum oder für Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben. Für ausreichend Fachkräfte im augenmedizinischen Bereich ist zu sorgen.
  • Der umfassende und barrierefreie Zugang zur elektronischen Patientenakte und den darauf gespeicherten Informationen, zu allen elektronischen Anwendungen - wie dem E-Rezept - und zu durch die gesetzlichen oder privaten Krankenkassen finanzierten digitalen Gesundheitsanwendungen und -leistungen muss gewährleistet sein. Alle Leistungserbringer (u. a. Ärzte, Kliniken, Therapeuten, Apotheken) müssen verpflichtet werden, ihre digitalen Informationen und Dienstleistungen ausschließlich barrierefrei anzubieten.
  • Erforderliche Vorsorge- und Gesundheitsleistungen sowie Hilfsmittel, einschließlich Sehhilfen, müssen zuzahlungsfrei bereitgestellt werden.

Rehabilitation stärken!

Rehabilitation ist ein wesentlicher Schlüssel zu Selbstbestimmung und Teilhabe. Sie kann den Umgang mit einem Sehverlust erleichtern und negative Folgen verringern. Für Menschen mit fortschreitendem oder plötzlich eingetretenem Sehverlust gibt es im Leistungssystem bislang allerdings keine ausreichende rehabilitative Versorgung. Der DBSV fordert:

  • Vorhandene Teilangebote wie die Anpassung vergrößernder Sehhilfen und anderer Hilfsmittel sowie Schulungen in Orientierung und Mobilität (O&M) und in lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF) müssen allen Betroffenen bei Bedarf zuzahlungsfrei zugänglich sein.
  • Eine medizinische Rehabilitation nach schwerem Sehverlust einschließlich umfassender Beratung ist zu etablieren. Das schließt die Förderung von Pilotprojekten zur konkreten Ausgestaltung der angestrebten Rehabilitationsleistungen ein.
  • Die Ausbildung von Rehabilitationsfachkräften für blinde und sehbehinderte Menschen muss – ähnlich wie im Falle der Pflege und Gesundheitsberufe - aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, um dauerhaft dem Fachkräftemangel in diesem Bereich abzuwenden.

Teilhabe am Arbeitsleben verbessern!

Noch immer ist nur rund ein Drittel der blinden und sehbehinderten Menschen im erwerbsfähigen Alter berufstätig. Die Chancen auf Teilhabe am Arbeitsmarkt sind dringend zu verbessern. Der DBSV fordert:

  • Die Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber muss konsequent durchgesetzt werden. Appelle an den guten Willen sind unzureichend. Es ist eine deutlich höhere Ausgleichsabgabe für die Betriebe einzuführen, die ihrer Beschäftigungspflicht gar nicht oder in vollkommen unzureichendem Maße nachkommen.
  • Es ist zu regeln, dass jegliche beruflich genutzte Software und alle genutzten digitalen Anwendungen barrierefrei programmiert sein müssen.
  • Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und die begleitenden Hilfen im Arbeitsleben, etwa die Regelungen zur Arbeitsassistenz, müssen modernen Anforderungen gerecht werden, was etwa die Sicherung kontinuierlicher beruflicher Weiterbildung und Umorientierung, die Ausübung mehrerer Jobs und flexible Übertritte ins Rentenalter betrifft. Außerdem wird die behördliche Ausgestaltung des Rechts auf Arbeitsassistenz den behinderungsspezifischen Erfordernissen blinder und sehbehinderter Menschen nicht mehr gerecht. Bundeseinheitliche Regelungen sind erforderlich. Der Bund muss insoweit von seiner Regelungskompetenz zum Erlass einer Rechtsverordnung zur Ausgestaltung von Arbeitsassistenz Gebrauch machen.
  • Bei der Novellierung der gesetzlichen Regelungen für die Ausbildung von Masseuren und Physiotherapeuten ist sicherzustellen, dass der Zugang für blinde und sehbehinderte Menschen im bisherigen Umfang gewährleistet bleibt. Eine Vollakademisierung lehnt der DBSV strikt ab.

Selbstbestimmte Teilhabe braucht echte Nachteilsausgleiche!

Behinderungsbedingte Unterstützungsleistungen gleichen Nachteile aus, um für Chancengleichheit zu sorgen. Der DBSV fordert:

  • Um die Selbstbestimmung zu stärken und gleiche Lebensbedingungen in Deutschland herzustellen, muss ein bundeseinheitliches und gerechtes einkommens- und vermögensunabhängiges Blindengeld eingeführt werden. Ebenso ist ein angemessener Nachteilsausgleich für hochgradig sehbehinderte und für taubblinde Menschen zu schaffen.
  • Alle Teilhabeleistungen müssen ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen erbracht werden. Entgegenstehende Regelungen, insbesondere der Eingliederungshilfe und Blindenhilfe, sind aufzuheben. Wenn dies aktuell nicht erreichbar ist, müssen zumindest in einem Zwischenschritt die für die Eingliederungshilfe geltenden Verbesserungen auch für die Blindenhilfe gem. § 72 SGB XII gelten.
  • Die inklusive Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe und die Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe müssen zwingend dazu führen, die Teilhabemöglichkeiten aller jungen Menschen mit Behinderungen und ihrer Familien substantiell zu verbessern. Dafür sind entsprechende finanzielle Mittel bereitzustellen. Keinesfalls darf es im Zuge der Reform zu Leistungseinschränkungen, Qualitätsminderungen oder erhöhen Kostenbeteiligungen kommen. Erzieherische Hilfen und behinderungsbedingt notwendige Teilhabeleistungen dürfen nur bei Bedarf miteinander gekoppelt werden.

Barrierefreie Mobilität gewährleisten!

Die sichere und barrierefreie Fortbewegung im öffentlichen Raum stellt blinde und sehbehinderte Menschen vor besondere Herausforderungen. Der DBSV fordert:

  • Das Personenbeförderungsgesetz ist so weiterzuentwickeln, dass digitale Angebote bei der Nutzung aller Verkehrsmittel barrierefrei genutzt werden können – von der Bestellung über die Buchung und Bezahlung bis zu Fahrgastinformationen.
  • In der Verkehrsplanung müssen Gefahrensituationen für sehbeeinträchtigte Menschen konsequent berücksichtigt werden. Das betrifft u. a. Regelungen für
    • das sichere Queren von Straßen und Radwegen,
    • die Gewährleistung einer durchgehenden Benutzung von Bodenindikatoren,
    • die Trennung von Fuß- und Radwegen und
    • für das Abstellen von Elektrokleinstfahrzeugen außerhalb der Gehwege.

Zugang zu Kultur ermöglichen!

Blinde und sehbehinderte Menschen müssen inklusiv an kulturellen Angeboten partizipieren können. Der DBSV fordert:

  • Bei der Novellierung des Filmfördergesetzes ist sicherzustellen, dass barrierefrei produzierte Filmfassungen mit Audiodeskription auf allen Ebenen der Verwertung zur Verfügung stehen.
  • Kulturförderungen des Bundes, z. B. für Museen, müssen die Teilhabemöglichkeiten für alle Menschen gewährleisten, auch im digitalen Raum.

Deutschland muss Motor für mehr Teilhabe in Europa werden!

Bedeutende Regelungen der vergangenen Jahre für die gleichberechtigte Teilhabe gehen auf europäische Initiativen zurück. Deutschland muss seiner Verantwortung in Europa gerecht und Schrittmacher für eine gute Teilhabepolitik werden. Der DBSV fordert:

  • Deutschland muss die Umsetzung der aus der Behindertenrechtsstrategie 2021-2030 abgeleiteten Initiativen aktiv gestaltend und ambitioniert begleiten. Das betrifft insbesondere die Einführung eines europäischen Behindertenausweises, der die Nachteilsausgleiche des jeweiligen Landes zugänglich macht.
  • Deutschland muss sich für die Verabschiedung der 5. Antidiskriminierungsrichtlinie einsetzen.

Beschlossen vom Verwaltungsrat des DBSV am 7. Mai 2021.