DBSV-Positionspapier zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ins deutsche Urheberrecht und zur Ratifizierung des Marrakesch-Vertrages

„Blinde, seh- und lesebehinderte Menschen müssen Zugang zu denselben Büchern haben wie andere Menschen auch.“

Diese zentrale Forderung erhebt nicht nur der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV) seit vielen Jahren. Nein, diesen Anspruch formuliert auch die Bundesregierung, denn das eingangs gewählte Zitat stammt von Bundesjustiz-und Verbraucherschutzminister Heiko Maas und ist der Pressemitteilung des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz anlässlich des Beschlusses des Bundeskabinetts zur Unterzeichnung des Marrakesch-Vertrages durch die Bundesrepublik Deutschland entnommen (s. Pressemitteilung vom 14.05.2014 - abrufbar unter
http://www.bmjv.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2014/20140514_Vertrag_von_Marakesch.html?nn=1468684).

Es ist dringend an der Zeit, die Forderung nach dem gleichberechtigten Zugang zu Literatur für Menschen mit Behinderungen mit Nachdruck umzusetzen. Dabei gilt es, den Vertrag von Marrakesch zeitnah zu ratifizieren sowie die bereits seit 2003 im deutschen Urheberrecht vorgesehenen Schrankenregelungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen an aktuelle Anforderungen anzupassen, wobei sich der Handlungsbedarf insbesondere mit Blick auf die nachfolgend aufgezeigten Rahmenbedingungen ergibt:

  1. Die Bundesregierung hat am 20.06.2014 den Vertrag von Marrakesch, den internationalen Vertrag der Welturheberrechtsorganisation (WIPO), unterzeichnet, der Ausnahmen zugunsten blinder, seh- und lesebehinderter Menschen im Bereich des Urheberrechts zulässt, um für diesen Personenkreis zugängliche Formate herzustellen und zu verbreiten. Die Anpassung des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) im Sinne dieses Vertrages ist dabei ebenso notwendig, wie die Ratifikation des Marrakesch-Vertrages durch die Bundesregierung selbst. Die Anerkennung dieses Grundsatzes ist Grundvoraussetzung für alle weiteren Bemühungen. Das Inkrafttreten des Vertrages von Marrakesch, dass nur über die Ratifizierung durch eine ausreichende Anzahl von Vertragsparteien möglich ist, ist unverzichtbar, da sich nur im Wege des grenzüberschreitenden Austauschs von zugänglicher Literatur substantielle Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen in Bezug auf alle Literatursparten erreichen lassen. In diesem Zusammenhang ist ausdrücklich klarzustellen, dass die Übernahme der im Marrakesch-Vertrag formulierten Schrankenregelungen des Urheberrechts zugunsten von Menschen mit Behinderungen in den Rechtskreis des europäischen Rechts ohne eine gleichzeitige Ratifizierung des Vertrages von Marrakesch vollkommen unzureichend wäre und jeglichen Bestrebungen, die in diese Richtung weisen könnten, eine klare Absage erteilt wird. Nur über die völkerrechtlich gefasste Verbindlichkeit im Vertrag von Marrakesch sehen wir dauerhaft eine rechtssichere Gewährleistung des Zugangs zu Literatur in barrierefreien Formaten für Menschen mit Lesebehinderungen als möglich an.
  2. Die Notwendigkeit, im deutschen Urheberrecht Anpassungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen vorzunehmen, ergibt sich aber nicht nur aus dem Vertrag von Marrakesch. Vielmehr folgt der Handlungsauftrag bereits aus der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit dem 26.03.2009 Teil des deutschen Rechts ist und die es umzusetzen gilt. Gemäß Artikel 4 Abs. 1 Buchst a) UN-BRK hat sich Deutschland dazu verpflichtet, "alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen." Explizit heißt es in Artikel 30 Abs. 3 UN-BRK: "Die Vertragsstaaten unternehmen alle geeigneten Schritte im Einklang mit dem Völkerrecht, um sicherzustellen, dass Gesetze zum Schutz von Rechten des geistigen Eigentums keine ungerechtfertigte oder diskriminierende Barriere für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu kulturellem Material darstellen." Die Schrankenregelung des § 45a UrhG ist eine solche Regelung, die es in Umsetzung der UN-BRK menschen-rechtskonform anzupassen gilt.
  3. Weiterhin darf an dieser Stelle auf den besonderen Stellenwert der Meinungsfreiheit einschließlich des Rechts der informationellen Selbstbestimmung hingewiesen werden. Dieses Grundrecht ist eine der wesentlichen Pfeiler einer demokratischen Gesellschaft sowie eine der wichtigsten Bedingungen der Entwicklung und Entfaltung des Einzelnen. Daher kommt diesem Grundrecht (Art. 2 und 5 des Grundgesetzes) ein besonders hoher Stellenwert zu. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit und damit auch Informationsfreiheit kann aber von Menschen mit Behinderungen nur dann gleichberechtigt mit anderen ausgeübt werden, wenn die Informationen - und dazu zählt insbesondere Literatur in jeglicher Form - in einem zugänglichen Format zur Verfügung steht. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist das Recht auf Meinungsfreiheit in Artikel 21 der UN-BRK mit dem Prinzip der Zugänglichkeit im Sinne des Artikels 9 UN-BRK untrennbar verknüpft. Artikel 21 UN-BRK lautet: "Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen das Recht auf freie Meinungsäußerung und Meinungsfreiheit, einschließlich der Freiheit, Informationen und Gedankengut sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben, gleichberechtigt mit anderen und durch alle von ihnen gewählten Formen der Kommunikation im Sinne des Artikels 2 ausüben können." Zum Schutz vor Diskriminierung ist es daher zwingend notwendig, im Urheberrecht angemessene Vorkehrungen zu treffen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Zugang zu Literatur erhalten. Dies gilt bereits mit Blick auf die Tatsache, dass die Schrankenregelungen im Urheberrecht im Lichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen sind.
  4. Von über 95 % der veröffentlichten literarischen Werke sind blinde, seh- und lesebehinderte Menschen aktuell ausgeschlossen, weil die Literatur nicht in zugänglichen Formaten, wie etwa Brailleschrift, Daisy-Audio-CDs, barrierefreie elektronische Formate, Großdruck etc. zur Verfügung steht. Der Mangel an geeigneter Literatur trifft blinde, seh- und lesebehinderte Menschen nicht nur bei der Freizeitgestaltung. Sie haben es mit Blick auf den minimalen Zugang zu Literatur vielmehr sowohl beim politischen Meinungsbildungsprozess als auch im Studium und Beruf deutlich schwerer als nicht behinderte Menschen. Diese gravierende Teilhabeeinschränkung ist endlich zu beseitigen.

Die Bundesregierung benennt in der oben zitierten Pressemitteilung selbst Kernpunkte der notwendigen Anpassungen im deutschen Urheberrecht, nämlich: "Die geltende Regelung muss vor allem hinsichtlich der gesetzlich zulässigen Nutzungen als auch hinsichtlich des Kreises der begünstigten Personen erweitert werden." Im Einzelnen sind damit aus unserer Sicht folgende Änderungen erforderlich:

  1. Anwendungsbereich: § 45a UrhG ist um die Erlaubnis der „öffentlichen Zugänglichmachung" zu ergänzen. Die Regelung in § 45a darf sich nicht nur-wie derzeit - auf das Vervielfältigungsrecht und das Verbreitungsrecht beziehen, sondern zusätzlich muss die zugunsten von Menschen mit Behinderungen eingeführte Schrankenregelung auch das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung im Internet im Sinne von § 19a UrhG umfassen. § 45a Abs. 1 könnte etwa wie folgt gefasst werden:
    „(1) Zulässig ist die nicht Erwerbszwecken dienende Vervielfältigung eines Werkes für und deren Verbreitung einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung ausschließlich an Menschen, soweit diesen der Zugang zu dem Werk in einer bereits verfügbaren Art der sinnlichen Wahrnehmung auf Grund einer Behinderung nicht möglich oder erheblich erschwert ist, soweit es zur Ermöglichung des Zugangs erforderlich ist.“
  2. Personenkreis: In § 45a UrhG wird von „Behinderung“ gesprochen. Der Personenkreis, zugunsten dessen die Schrankenregelung greift, umfasst entsprechend des Wortlauts damit nicht lediglich blinde und sehbehinderte Menschen, sondern allgemein behinderte Menschen. Je nachdem, welches Verständnis von Behinderung im deutschen Urheberrecht maßgebend sein soll, kann der Adressatenkreis unterschiedlich sein. Nach unserer Auffassung verbietet es sich insoweit, einen engen, stark medizinisch geprägten und defizitorientierten Behinderungsbegriff zu verwenden. Vielmehr ist es mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen sowohl im Rahmen der Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes und der damit verbundenen Anpassung des Behinderungsbegriffs im Sozialgesetzbuch - neuntes Buch - (SGB IX) sowie mit Blick auf die Bestrebungen zur Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes und des dortigen Behinderungsbegriffs nur folgerichtig, auch im Rahmen des Urheberrechts das menschenrechtlich geprägte Konzept von Behinderung, wie es der UN-BRK zugrunde liegt, zur Anwendung zu bringen. Behinderung wird danach als ein dynamischer Prozess verstanden, der von verschiedenen Faktoren abhängt. Eine Behinderung entsteht dabei aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Umweltbedingte Barriere im Kontext der Wahrnehmung von Literatur ist insoweit das angebotene Format (z. B. ein auf Papier gedruckter Text oder ein nicht barrierefreies elektronisches Dokument). Die individuelle Beeinträchtigung kann eine Blindheit, Sehbehinderung aber auch eine anderweitige Beeinträchtigung der Lesefähigkeit sein (etwa eine Legasthenie, eine visuelle Verarbeitungsstörung aber auch eine körperliche Beeinträchtigung, die das visuelle Wahrnehmen eines Textes oder den Umgang mit einem bestimmten Format beeinträchtigen.
    Das Verständnis von Behinderung im Sinne der UN-BRK ist gerade auch im Bereich des Urheberrechts besonders wertvoll, weil diese Sichtweise Stigmatisierungen einzelner Nutzergruppen vermeidet, ihnen über die Schrankenregelung in § 45a UrhG dennoch einen diskriminierungsfreien Zugang zu Literatur ermöglicht und gleichzeitig den Urhebern und Verwertungsgesellschaften klar vor Augen führt, dass sie selbst durch barrierefreie Angebote dafür sorgen können, dass nicht jede individuelle Beeinträchtigung zu einer "Lese-Behinderung" werden muss - es im besten Fall also gar nicht zu einer Wechselwirkung von Beeinträchtigung und Barrieren kommt. Sofern keine Zugänglichen Formate für die aus der individuell bestehenden Beeinträchtigung resultierenden Bedarfe an einem bestimmten Format zur Verfügung stehen, ist § 45a UrhG als Schrankenregelung zur Sicherstellung angemessener Vorkehrungen zum Schutz vor Diskriminierungen zwingend erforderlich. Wenn also im Rahmen des Urheberrechts der Behinderungsbegriff der UN-BRK zur Anwendung gelangt, dann bedarf es keiner weiteren gesetzlichen Änderungen.
    Für den Gesetzgeber ergeben sich damit aus unserer Sicht zwei Handlungsoptionen. Entweder, in einem neuen § 45a Abs. 1 Satz 2 wird das Wort Behinderung definiert -ggf. auch durch einen Verweis etwa auf den Behinderungsbegriff des zur Novellierung anstehenden Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes - BGG) oder, es wird
    im Rahmen der Gesetzesbegründung klargestellt, dass der Behinderungsbegriff der UN-BRK zur Anwendung gelangt.
    Von der Frage der Definition von Behinderung im Sinne des § 45a UrhG ist die Frage zu trennen, wie im Einzelfall die individuelle Lesebeeinträchtigung nachzuweisen ist. Artikel 3 des Marrakesch-Vertrages benennt eindeutig den begünstigten Personenkreis, wobei auf diese Definition auch im deutschen Recht zurückgegriffen werden kann. Hinsichtlich des Nachweises der individuellen Lesebeeinträchtigung können insoweit die Verfahren zur Anwendung gelangen, wie sie sich bereits für den Nachweis einer Blindheit oder Sehbehinderung etabliert und bewährt haben. Der Nachweis erfolgt also durch die Vorlage eines Bescheides über die Feststellung der jeweiligen Behinderung im Sinne des SGB IX oder über die Vorlage sonstiger geeigneter Nachweise bei der jeweils für die Herstellung und Verbreitung zugänglicher Literatur zertifizierten Einrichtung.
  3. Grenzüberschreitender Austausch von Literatur: Es ist aus unserer Sicht unumgänglich, den Marrakesch-Vertrag zu ratifizieren, da dieses völkerrechtliche Übereinkommen letztlich die Rechtsgrundlage bildet, um einen Austausch von zugänglicher Literatur zugunsten von Menschen mit Behinderungen auch über die Grenzen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hinaus zu ermöglichen und zu legitimieren. Ein Austausch zugänglicher Literatur ist nur zwischen den Staaten möglich, die den Marrakesch-Vertrag gezeichnet und ratifiziert haben. Legt man dieses Verständnis zugrunde, dann ergeben sich bei der Abgrenzung des begünstigten Personenkreises, der Legitimation für den Austausch von Literatur und der Sicherstellung entsprechender Vorkehrungen zur Vermeidung von Missbrauch zu Lasten der Rechteinhaber keine Schwierigkeiten, da insoweit die Standards greifen, die dem Marrakesch-Vertrag zugrunde liegen. Aus diesem Grund fordern wir die Bundesregierung abschließend auf, den Marrakesch-Vertrag zeitnahe zu ratifizieren bzw. ihren Ein-fluss innerhalb der europäischen Union zu nutzen, um dort die Ratifikation voranzubringen. Änderungen im Deutschen Urheberrecht werden zwar bereits spürbare Verbesserungen bei der Versorgung mit Literatur in zugänglichen Formaten bewirken, doch ist es angesichts der technischen und finanziellen Hürden, die mit der Zugänglichmachung verbunden sind, notwendig, Literatur auch über Landesgrenzen hinweg austauschen zu können. Gerade für den interkulturellen Austausch, den Erwerb von Bildung und beim wissenschaftlichen Arbeiten sind Menschen mit seh- oder sonstigen lesebeeinträchtigungen zwingend darauf angewiesen, auch internationale Werke zu rezipieren. Dies kann aber nur gelingen, wenn möglichst viele Länder den Vertrag von Marrakesch unterzeichnen. Dies entbindet freilich nicht von der Schaffung einer Befugnisnorm im deutschen Urheberrecht, die den Austausch von Literatur in zugänglichen Formaten regelt.

So wie dieses Positionspapier mit einem Zitat von Herrn Minister Maas eingeleitet wurde, soll es auch mit einem Zitat von ihm aus der oben bezeichneten Pressemitteilung enden: „Der Vertrag von Marrakesch ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu gleichberechtigter Teilhabe an Kultur und Wissen.“