DBSV-Stellungnahme zu der Urheberrechtsreform der europäischen Kommission Legislativvorschläge Nr. 3 A und B Zum Vertrag von Marrakesch (Dokumente COM(2016) 596 final und COM(2016) 595 final)

Allgemeine Anmerkungen zu den Legislativentwürfen

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV), der als Dachorganisation der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe mehr als 1,2 Mio. blinde und sehbehinderte Menschen in Deutschland vertritt und darüber hinaus engagiertes Mitglied in den Selbsthilfenetzwerken der Europäischen Blindenunion und der Weltblindenunion ist, hat intensiv an der Entstehung und Verabschiedung des Marrakeschvertrags mitgewirkt.

In den Industrieländern ist weniger als 5 % der kommerziell verfügbaren Literatur in barrierefreien Formaten erhältlich. Dadurch ist blinden und sehbehinderten Menschen die gleichberechtigte Teilhabe an Bildung, Beruf, Politik, Kultur und Freizeit verwehrt.

Gleichzeitig ist das Recht der Meinungsfreiheit und damit auch Informationsfreiheit betroffen, denn diese Rechte können von Menschen mit Behinderungen nur dann gleichberechtigt mit anderen ausgeübt werden, wenn die Informationen – und dazu zählt insbesondere Literatur in jeglicher Form – in einem zugänglichen Format zur Verfügung steht. Zum Schutz vor Diskriminierung ist es daher zwingend notwendig Vorkehrungen zu treffen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Zugang zu Literatur erhalten. Gemäß Artikel 4 Abs. 1 Buchst a) UN-BRK hat sich Deutschland dazu verpflichtet, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen;“. Explizit heißt es in Artikel 30 Abs. 3 UN-BRK: „Die Vertragsstaaten unternehmen alle geeigneten Schritte im Einklang mit dem Völkerrecht, um sicherzustellen, dass Gesetze zum Schutz von Rechten des geistigen Eigentums keine ungerechtfertigte oder diskriminierende Barriere für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu kulturellem Material darstellen.“. Der Marrakeschvertrag liefert einen wesentlichen Beitrag und Rahmen für die praktische Durchsetzung der in der UN-Behindertenrechtskonvention deklarierten Menschenrechte.

Wir begrüßen daher ausdrücklich die Initiative der Europäischen Kommission zur Umsetzung des Marrakeschvertrags.

Deutschland und die EU wurden im Staatenberichtsprüfungsverfahren hinsichtlich der Umsetzung der UN-BRK vom Menschenrechtsausschuss in seinen Abschlussempfehlungen aufgefordert, die zeitnahe Ratifizierung und Umsetzung des Marrakeschvertrags auf nationaler, also deutscher, und europäischer Ebene voranzutreiben. Unter dieser Maßgabe gehen wir davon aus, dass alle Bemühungen der Bundesregierung nun darauf abzielen, den Vertrag von Marrakesch schnellstmöglich zu ratifizieren und eine rechtliche Implementierung auf Unions- und nationaler Ebene mit gebotener Sorgfalt und Eigeninitiative zeitnah voranzubringen.

Kommentierungen zu den Legislativvorschlägen

Wahl der Rechtsinstrumente

Wir würden es begrüßen, wenn beide Legislativvorschläge, die Richtlinie die den Austausch barrierefreier Literatur im EU-Binnenmarkt und die Verordnung die den Austausch zwischen EU-Nationen und Drittländern regelt, in einem legislativen Akt zusammengefasst würden. Eine gemeinsame Verordnung die beide Im- und Export-regime sowie die Applikation von Schrankenregelungen im Unions- und in den nationalen Urheberrechtsgesetzen regelt, wäre unserer Ansicht nach sinnvoll, um eine einheitliche und konsistente Umsetzung der Vertragsbestandteile innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten zu garantieren und Rechtsunsicherheiten und abweichende Umsetzungen zu vermeiden.

COM(2016) 595 final 2016/0279(COD)

Vorschlag für eine Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates über den grenzüberschreitenden Austausch von Kopien bestimmter urheberrechtlich oder durch verwandte Schutzrechte geschützter Werke und sonstiger Schutzgegenstände in einem zugänglichen Format zwischen der Union und Drittländern zugunsten blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen.

Zu Artikel 2 Begriffsbestimmungen

Der verwandte Begriff der „Kopie in einem zugänglichen Format“ entspricht der Definition des Originaltextes des Marrakeschvertrags. Diese ist in sich schlüssig.

Für die praktische Umsetzung erscheint es jedoch sinnvoll, diese Definition zu konkretisieren. Dies ist für autorisierte Stellen ebenso hilfreich, wie für Verlage, die eruieren möchten, ob die von ihnen herausgegebenen Werke barrierefrei sind.

Das “Danish Library and Expertise Center for people with print disabilities” (https://nota.dk/om-nota/english) hat zusammen mit anderen Buchverlagen in einer Studie 10 Kriterien für die Barrierefreiheit von Literaturwerken und deren barrierefreies Auffinden erarbeitet. Die Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte, die ein Mitglied von Medibus (Mediengemeinschaft für blinde und sehbehinderte Menschen e.V.) ist, hat aus den Studienergebnissen Leitlinien erarbeitet, um zu prüfen, ob ein Literaturwerk ganzheitlich zugänglich ist. Im Folgenden eine Zusammenfassung der wichtigsten Kriterien (Die Studienergebnisse in der Anlage):

  1. Zugang zum Buch: Ein Titel kann von einer seh- oder lesebehinderten Person selbständig gefunden werden, sei es physisch in einem Regal/Geschäft oder digital im Internet/auf einem Datenträger.
  2. Informationen zum Buch: Sämtliche Informationen zum Buch, die ein Schwarzschriftbuch enthält, also Informationen zum Buchinhalt, zum Autor, zum Verlag etc. stehen auch einer seh- oder lesebehinderten Person zur Verfügung.
  3. Zugang zum Inhalt: Der Inhalt des Schwarzschriftbuchs kann von einer seh- oder lesebehinderten Person gelesen werden. Es muss folglich ein Format aufweisen, welches beim Lesen das Verstehen des Inhalts erlaubt.
  4. Vollständigkeit des Inhalts: Relevante Informationen, die im Buch visuell, also mit Zeichnungen, Fotos, Abbildungen etc. vermittelt werden, sind auch von sehbehinderten Personen erfahrbar. Relevante Zusatzinformationen in Fußnoten, Literaturnachweisen oder ähnlichen Textelementen sind ebenfalls "lesbar".
  5. Hindernisfreier Eintritt ins Buch und Zugang zur Struktur des Buches: Eine seh- oder lesebehinderte Person kann das Buch so benutzen, wie es eine nicht lesebehinderte Person mit dem Schwarzschriftbuch tut: Sie kann es selbständig „öffnen“ und sich leicht darin „bewegen“, um schnell zum gewünschten Inhalt zu kommen.

Zu Artikel 5 Pflichten befugter Stellen

Aufgrund unseres am 10.10.2016 im BMJV geführten Gespräches zur Umsetzung des Marrakeschvertrags schlagen wir vor, dass Artikel 5 so ergänzt wird, dass befugte autorisierte Stellen eine nationale Datenbank (Hub) etablieren, die alle produzierten barrierefreien Kopien, sowie alle importierten barrierefreien Buchtitel, sowie deren Bezugsquellen auflistet und öffentlich zugänglich macht. So können Interessenten, Individualpersonen, ausländische autorisierte Stellen und Verlage schnellen und einfachen Zugang zu für sie relevante Informationen erhalten. Die Datensammlung und Kooperation zwischen autorisierten Stellen wird auch in Artikel 9 des Marrakeschvertrags festgeschrieben. Dieser verweist insbesondere darauf, dass Nationalstaaten autorisierte Stellen im grenzüberschreitenden Austausch barrierefreier Literatur unterstützen sollen. Mit Blick auf diese Vorgaben erachten wir es für angezeigt, Kooperationen und Datenaustausch durch finanzielle und personelle Ressourcen seitens der Vertragsparteien zu unterstützen.

COM(2016) 596 final 2016/0278(COD)

Vorschlag für eine Richtlinie des europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte zulässige Formen der Nutzung urheberrechtlich oder durch verwandte Schutzrechte geschützter Werke und sonstiger Schutzgegenstände zugunsten blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen und zur Änderung der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft

Zu Artikel 2 Begriffsbestimmung

Insoweit verweisen wir hinsichtlich der Konkretisierung des Begriffs „zugängliches Format“ auf die obigen Ausführungen.

Zu Artikel 3 Zulässige Formen der Nutzung

Artikel 2 präzisiert ungenügend den Aspekt der öffentlichen Zugänglichmachung. Öffentliche Zugänglichmachung bedeutet in diesem Sinne, dass barrierefreie Literaturkopien durch zuständige Stellen im Internet verbreitet werden dürfen, ohne die Genehmigung des Rechteinhabers einholen zu müssen. Dies wird explizit in Artikel 4 des Marrakesch-Vertrags geregelt. Auch Erwägungsgrund 6 des Richtlinienvorschlags spezifiziert den Aspekt der öffentlichen Zugänglichmachung: „Diese Richtlinie sollte daher verbindliche Ausnahmen von jenen Rechten festlegen, die durch Unionsrecht harmonisiert worden sind und die für die Nutzungsformen und Werke von Bedeutung sind, die vom Vertrag von Marrakesch erfasst werden. Dazu gehören insbesondere das Vervielfältigungsrecht, das Recht der öffentlichen Wiedergabe, das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung, das Verbreitungsrecht und das Verleihrecht gemäß der Richtlinie 2001/29/EG, der Richtlinie 2006/115/EG und der Richtlinie 2009/24/EG sowie die entsprechenden Rechte gemäß der Richtlinie 96/9/EG. Da die nach dem Vertrag von Marrakesch erforderlichen Ausnahmen und Beschränkungen sich auch auf Werke in hörbarer Form wie Hörbücher erstrecken, müssen diese Ausnahmen auch für verwandte Schutzrechte gelten.“

Pflichten befugter Stellen

In der Richtlinie fehlen Vorgaben zu befugten Stellen. Wir schlagen vor, den Wortlaut von Artikel 5 der Verordnung auch für die Richtlinie zu übernehmen. Außerdem könnte dieser durch folgende Bestimmungen des Originalvertrages (Marrakeschvertrag deutsche Arbeitsübersetzung Urheber DBSV) ergänzt werden:

„Die zuständige Stelle führt ein eigenes Verfahren ein und wendet dieses an,

  • (I) um festzustellen, dass die Personen, für die sie ihre Dienstleistungen erbringt, Begünstigte im Sinne des Vertrages sind;
  • (II) um die Weitergabe und öffentliche Zugänglichmachung barrierefreier Vervielfältigungsstücke auf die begünstigten Personen und/oder zuständigen Stellen zu begrenzen;
  • (III) um von der Vervielfältigung, Weitergabe und Zugänglichmachung nicht berechtigter Kopien abzuschrecken;
  • (IV) um ihrer Sorgfalts- und Dokumentationspflicht bei der Behandlung der Vervielfältigungsstücke nachzukommen, während sie gleichzeitig die Privatsphäre der Begünstigten gemäß Artikel 8 respektiert.“

Ferner sollten durch die EU und durch die Nationalstaaten Kooperationen innerhalb der EU, die Etablierung von Datenbanken und Ressourcen zur Produktion barrierefreier Kopien generiert und in der Richtlinie rechtlich verankert werden.

Kommerzielle Verfügbarkeit und Ausgleichsabgabe für die Erstellung von barrierefreien Kopien öffentlicher Werke

Erwägungsgrund Nr. 11 der Richtlinie führt aus: „(11) Angesichts der besonderen Art der Ausnahme, ihres besonderen Geltungsbereichs und der Notwendigkeit, Rechtssicherheit für ihre Begünstigten zu schaffen, sollte den Mitgliedstaaten nicht erlaubt werden, die Anwendung dieser Ausnahme an zusätzliche Anforderungen zu knüpfen, z. B. eine Ausgleichsregelung oder eine vorherige Prüfung, ob gewerbliche Kopien in einem zugänglichen Format verfügbar sind.“

Es ist aus unserer Sicht absolut notwendig, dass dieser Erwägungsgrund rechtsverbindlich in einer eigenen Vorschrift der Richtlinie verankert wird, um Rechtsunsicherheiten zu Lasten von Menschen mit Behinderungen zu vermeiden. Nur so kann auch der Gefahr von unterschiedlichen Regelungen unter den EU-Mitgliedsstaaten begegnet werden, die das Im- und Exportregime barrierefreier Werke erheblich hemmen und erschweren könnten. Eine autorisierte Stelle muss immer das Recht haben, selbst zu entscheiden, ob sie eine barrierefreie Version des Buchtitels erstellt. Blinde und sehbehinderte Menschen haben unterschiedliche Bedarfe, die sich nach den konkreten Auswirkungen der Seheinschränkung, ihrer Lebenslage, technischen Voraussetzungen/Fähigkeiten und der Art der Nutzung des Werkes richten. Ein Schüler oder Student muss z. B. in der Lage sein, aus einem Buch seitengenau zitieren zu können. Das bedeutet, er benötigt Seitenzahlen, Abschnitte oder Bild- bzw. Tabellen- und Graphikbeschreibungen in einer für ihn wahrnehmbaren Form. Eine Prüfung kommerzieller Verfügbarkeit seitens autorisierter Stellen ist zeitaufwendig, bindet personelle Ressourcen und hebelt die Rechte blinder und sehbehinderter Menschen aus dem Marrakeschvertrag völlig aus. Ein effektiver Zugang zu Literatur wäre unter dieser Maßgabe unmöglich. Von daher wäre ein lizenzvorbehalt für uns inakzeptabel. Wir weisen jedoch darauf hin, dass autorisierten Stellen schon aus eigenem Interesse sehr an einer Kooperation mit Verlagen gelegen ist, denn dies spart Zeit, personelle Ressourcen, Kosten für alle Beteiligten und ist im Übrigen Motor für gelingende Inklusion.

Die Zusammenarbeit von Verlagen und autorisierten Stellen sollte jedoch partnerschaftlich erfolgen und nicht auf der Basis von ständigen Konflikten um Lizenzvorbehalte zu Lasten blinder, sehbehinderter und anderweitig Lesebehinderter Menschen.