DBSV-Stellungnahme zur Revision der Audiovisuellen Mediendienste Richtlinie (Richtlinie 2010/13/EU - AVMD-Richtlinie)

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV) ist Spitzenverband der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfeorganisationen. Dementsprechend wird der Fokus der nachfolgenden Ausführungen auf die besonderen Belange blinder und sehbehinderter Menschen in Bezug auf die Barrierefreiheit der Angebote audiovisueller Mediendienste gerichtet.

1. Die Bedeutung audiovisueller Mediendienste und das Erfordernis regulatorischer Regelungen

Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit einschließlich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist einer der wesentlichen Pfeiler jeder demokratischen Gesellschaft sowie eine der wichtigsten Bedingungen der Entwicklung und Entfaltung des Einzelnen. Daher kommt diesem Grundrecht (Art. 2 und 5 des Grundgesetzes) ein hoher Stellenwert zu. Erwägungsgrund 5 der AVMD-Richtlinie bringt die besondere Relevanz audiovisueller Mediendienste in diesem Kontext und die daraus abgeleitete Befugnis zur Regulierung deutlich zum Ausdruck, indem „Ihre immer größere Bedeutung für die Gesellschaften, die Demokratie — vor allem zur Sicherung der Informationsfreiheit, der Meinungsvielfalt und des Medienpluralismus —, die Bildung und die Kultur“ betont wird.

Das Recht der Meinungsfreiheit und damit auch DER Freiheit, sich zu informieren, kann von behinderten Menschen nur dann gleichberechtigt mit anderen wahrgenommen und gelebt werden, wenn die Informationen – und dazu zählen auch die Angebote der audiovisuellen Mediendienste – in einem für sie zugänglichen Format zur Verfügung stehen. Dementsprechend konkretisiert die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die sowohl für Deutschland, als auch für die Europäische Union verbindlich ist, das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit sowie den Zugang zum kulturellen und politischen Leben wie folgt:

„Artikel 21

(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen das Recht auf freie Meinungsäußerung und Meinungsfreiheit, einschließlich der Freiheit, Informationen und Gedankengut sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben, gleichberechtigt mit anderen und durch alle von ihnen gewählten Formen der Kommunikation im Sinne des Artikels 2 ausüben können, unter anderem indem sie

d) die Massenmedien, einschließlich der Anbieter von Informationen über das Internet, dazu auffordern, ihre Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu gestalten;“

„Artikel 30

(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen

b) Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmen, Theatervorstellungen und anderen kulturellen Aktivitäten in zugänglichen Formaten haben;"

2. Was benötigen blinde und sehbehinderte Menschen ganz konkret?

Allein in Deutschland wird von ca. 1,2 Mio. blinden und sehbehinderten Menschen ausgegangen. Durch die demographische Entwicklung und eine zunehmende Lebenserwartung steigt dieser Anteil in den nächsten Jahren weiter an. All diese Menschen wollen – wie alle anderen auch – audiovisuelle Mediendienste nutzen, also am sozialen Leben teilhaben und sich etwa aktuelle Filme ansehen, Dokumentationen und Nachrichtensendungen verfolgen, um sich weiterzubilden oder um sich schlicht eine Meinung zur politischen Lage bilden zu können und sie wollen natürlich auch an Großereignissen, wie etwa den olympischen Spielen, teilhaben. Um all das zu können, sind blinde und sehbehinderte Menschen darauf angewiesen, dass die Angebote barrierefrei, d. h., auch für sie zugänglich sind. Dies bedeutet im Einzelnen:

  • Erforderlich sind Angebote mit Audiodeskription, das heißt mit akustischen Bildbeschreibungen.
  • Die Programmoberflächen (insbesondere bei den audiovisuellen Mediendiensten auf Abruf) müssen barrierefrei zugänglich sein, damit vorhandene Angebote mit Audiodeskription auch tatsächlich eigenständig abgerufen werden können.
  • Es bedarf interoperabler Standards, um assistive Technologien (spezielle Blindenhilfsmittel) zur Bedienung der zum Abruf genutzten Geräte einsetzen zu können.

Angebote mit Audiodeskription werden in Deutschland bislang ausschließlich von öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern bereitgestellt. Hingegen bietet keiner der Privatfernsehveranstalter barrierefreie Angebote für blinde und sehbehinderte Menschen an und zwar nicht zuletzt, weil Deutschland seiner aus Artikel 7 der geltenden AVMD-Richtlinie obliegenden Verantwortung in diesem Bereich bislang leider nicht nachkommt. Dieser Umstand ist umso dramatischer für die Betroffenen, weil für die Öffentlichkeit besonders relevante Ereignisse (z. B. die Übertragung der Olympischen Spiele ab 2018) nicht mehr über öffentlich-rechtliche Fernsehsender ausgestrahlt werden, sondern die Übertragungsrechte immer häufiger an private Anbieter verkauft werden. Findet hier keine regulatorische Einwirkung statt, die einheitliche europäische Standards umfassen, werden behinderte Menschen – und hier insbesondere sinnesbehinderte Menschen – dauerhaft von sozialer Teilhabe und dem menschenrechtlich verbrieften Recht auf umfassende Informations- und Meinungsfreiheit schlicht ausgeschlossen.

3. Welche Änderungen der AVMD-Richtlinie sind erforderlich?

Im Rahmen der Revision der AVMD-Richtlinie ist anzustreben, möglichst verbindliche Regelungen zu schaffen, die den kontinuierlichen Ausbau barrierefreier Angebote sicherstellen und zwar über alle audiovisuellen Angebote hinweg. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob es sich um lineare oder nichtlineare audiovisuelle Mediendienste handelt, um welche Inhalte es geht und ob der Anbieter öffentlich-rechtlich organisiert ist oder privatrechtlich seine Dienstleistungen zur Verfügung stellt. Diese Forderung erhebt nicht nur der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband. Vielmehr leitet sich die Aufforderung zum kontinuierlichen Ausbau barrierefreier Angebote unmittelbar aus der UN-BRK ab. Der General Comment des UN-Fachausschusses betreffend die UN-BRK vom 22.05.2014 zur Barrierefreiheit (CRPD/C/GC/2) führt hierzu aus: „Barriers to access to existing objects, facilities, goods and services aimed at or open to the public shall be removed gradually in a systematic and, more importantly, continuously monitored manner, with the aim of achieving full accessibility.“.

Folgende Vorschriften der AVMD-Richtlinie sollten in diesem Sinne ergänzt bzw. erweitert werden:

Artikel 5:

Es ist sicherzustellen, dass auch Menschen mit Behinderung Zugang zu den dort näher bezeichneten Informationen erhalten. Die Formulierung könnte etwa wie folgt lauten:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die ihrer Rechtshoheit unterworfenen Anbieter audiovisueller Mediendienste den Empfängern eines Dienstes mindestens die nachstehend aufgeführten Informationen leicht, unmittelbar, barrierefrei und ständig zugänglich machen:“

Artikel 7:

Wie bereits unter Ziffer 2 ausgeführt, haben die bisherigen Mechanismen nicht dazu geführt, dass ein flächendeckendes, über alle Anbieter und Programmsparten hinweg ausreichendes Angebot mit Audiodeskription zur Verfügung steht. Insbesondere private Mediendiensteanbieter – vor allem in Deutschland – verweigern bislang vollständig Maßnahmen zur Herstellung von Zugänglichkeit ihrer Angebote für blinde und sehbehinderte Menschen. Aus unserer Sicht bedarf es daher verbindlicher Regelungen, die einen kontinuierlichen Zuwachs an Angeboten mit Audiodeskription sicherstellen. Großbritannien ist ein gutes Beispiel dafür, dass verbindliche Quotenregelungen ein geeignetes Instrument zur Erreichung dieses Ziels sind. Anknüpfend an dieses Konzept sollte auch im europäischen Kontext eine Quotenregelung vereinbart werden, um kontinuierlich und rechtsverbindlich zu mehr Barrierefreiheit zu kommen. Quotenregelungen sind der AVMD-Richtlinie im Übrigen nicht fremd (vgl. u. a. Artikel 17)
Weiterhin sollte ausdrücklich klargestellt werden, dass auch audiovisuelle Mediendienste auf Abruf verpflichtet sind, ihre Angebote barrierefrei und möglichst zeitgleich anzubieten.

Schließlich sollte die Verpflichtung zur schrittweisen Herstellung von Barrierefreiheit durch Berichtspflichten der Mitgliedsstaaten und im Wege eines Monitorings ständig überprüft werden, da Artikel 7 ansonsten ein „stumpfes Schwert“ bleibt.

Artikel 7 könnte etwa wie folgt formuliert werden:

„(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass alle ihrer Rechtshoheit unterliegenden Mediendiensteanbieter ihre Angebote schrittweise barrierefrei ausgestalten. Dies umfasst die Verpflichtung, unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit, Programme, Aktionspläne und/oder gesetzliche Vorgaben einschließlich verpflichtender und kontinuierlich zu steigernder Quotenregelungen in Bezug auf Angebote mit Audiodeskription, Untertitelung und Clear-Audio sowie Gebärdensprache mit dem Ziel der vollen und gleichberechtigten Teilhabe an allen Angeboten zu entwickeln; dabei ist den Bereichen Information, Bildung, Kultur und Unterhaltung gleichermaßen Rechnung zu tragen. Unabhängig von der Verpflichtung zur schrittweisen Herstellung von Barrierefreiheit haben die Mitgliedsstaaten durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass die Übertragung von Veranstaltungen von großer gesellschaftlicher Bedeutung in jedem Fall auch hörgeschädigten, blinden und sehbehinderten Menschen barrierefrei zugänglich ist.

(2) Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission alle zwei Jahre einen Bericht über die Durchführung des vorliegenden Artikels. Dieser Bericht enthält insbesondere eine Übersicht, aus der hervorgeht, welche Maßnahmen die Mitgliedsstaaten ergriffen haben, um den Ausbau barrierefreier Angebote im Sinne des Absatzes 1 voranzubringen, inwieweit jeder der Rechtshoheit des betreffenden Mitgliedstaats unterworfene lineare und nichtlineare audiovisuelle Mediendiensteanbieter den geltenden Verpflichtungen nachgekommen ist, aus

welchen Gründen dies in jedem einzelnen Fall nicht erfolgt ist und welche Maßnahmen zur Erreichung der jeweiligen Zielvorgabe getroffen oder vorgesehen sind.

(3) Die Kommission bringt diese Berichte — gegebenenfalls zusammen mit einer Stellungnahme — den übrigen Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament zur Kenntnis. Sie trägt dafür Sorge, dass der vorliegende Artikel gemäß den Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union durchgeführt wird. In ihrer Stellungnahme kann die Kommission insbesondere den gegenüber den Vorjahren erzielten Fortschritten und dem Anteil an barrierefrei zugänglichen Sendungen Rechnung tragen.“

4. Fazit:

Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung ist erst dann verwirklicht, wenn nicht nur die formelle Gleichberechtigung behinderter Menschen gesetzlich verankert, sondern durch erforderliche Maßnahmen sichergestellt wird, dass eine tatsächliche Gleichstellung erfolgt. Vor diesem Hintergrund bedarf es wirksamer Mechanismen, die sicherstellen, dass behinderte Menschen die gleichen Möglichkeiten haben wie andere auch, von den Angeboten der Audiovisuellen Mediendienste zu profitieren. An diesem Maßstab muss sich die novellierte AVMD-Richtlinie messen lassen.

Berlin, den 15.07.2015

gez. Christiane Möller
Rechtsreferentin

gez. Andreas Bethke
Geschäftsführer