DBSV-Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Marrakesch-Richtlinie über einen verbesserten Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken zugunsten von Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung

Vorbemerkung

Am 10.10.2017 ist die Richtlinie (EU) 2017/1564 vom 13. September 2017 über bestimmte zulässige Formen der Nutzung bestimmter urheberrechtlich oder durch verwandte Schutzrechte geschützter Werke und sonstiger Schutzgegenstände zugunsten blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen und zur Änderung der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft in Kraft getreten, die mit dem vorgelegten Referentenentwurf in deutsches Recht umgesetzt werden soll.

 

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband, Spitzenverband der blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland, fordert mit Nachdruck, dass bei der Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben die Ziele des Marrakesch-Vertrages oberste Priorität bekommen: Das heißt, der Zugang zu Literatur für blinde, sehbehinderte und anderweitig lesebehinderte Menschen und damit zu Bildung, beruflicher, politischer, gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe ist nachhaltig und spürbar zu verbessern. Blinden, sehbehinderten und anderweitig lesebehinderten Menschen stehen bislang nur 5% aller veröffentlichten Werke in einem zugänglichen Format zur Verfügung. Das ist für die betroffenen Menschen inakzeptabel und für unsere hoch entwickelte Informationsgesellschaft eine Schande. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.

Zu unserem absoluten Unverständnis stellt der vorgelegte Referentenentwurf jedoch nicht die Verbesserung der Teilhabe blinder, sehbehinderter und anderweitig lesebehinderter Menschen in den Mittelpunkt, d. h., Die im Urheberrecht möglichen Steuerungsinstrumente für eine spürbare Verbesserung der Situation werden nicht genutzt. Stattdessen  werden wieder nur die Interessen der Rechteinhaber bedient. Tritt das Gesetz ohne Veränderungen und ohne die notwendigen flankierenden Maßnahmen in Kraft, dann wird sich die Situation blinder, sehbehinderter und anderweitig lesebehinderter Menschen in Deutschland nicht verbessern, sondern es drohen weitere Verschlechterungen. Das kann nicht ernsthaft gewollt sein.

Im Einzelnen bestehen folgende Änderungsbedarfe:

Gesetzesfolgen:

Ausführlich wird im Referentenentwurf auf den Erfüllungsaufwand der Verwertungsgesellschaften eingegangen. Umso erstaunlicher und absolut nicht nachvollziehbar ist es, dass der deutlich steigende Erfüllungsaufwand der befugten Stellen mit keinem Wort auch nur erwähnt wird. Die befugten Stellen haben – wenn die geplanten Vergütungsregelungen umgesetzt werden sollten – einerseits Aufwand beim Vertragsabschluss und der Erfüllung der vertraglichen Pflichten gegenüber den Verwertungsgesellschaften (u. a. Meldewesen), was schon jetzt einen erheblichen Verwaltungsaufwand bedeutet. Dieser ist wegen der Meldepflichten deutlich höher, als derjenige der Verwertungsgesellschaften. Hinzu kommt ein erheblicher neuer bürokratischer Aufwand durch die aus § 45c resultierenden Verpflichtungen gegenüber dem Deutschen Patent- und Markenamt. Im Ergebnis resultiert ein Erfüllungsaufwand, der deutlich über demjenigen der Verwertungsgesellschaften liegt. Dieser personelle Aufwand ist bislang nicht gegenfinanziert. Die befugten Stellen sind alle gemeinnützige Organisationen, die nicht über die finanziellen Ressourcen zur Kompensation verfügen. Die mehr als vage gehaltenen Absichtserklärungen, man wolle sich auf Bundes- und Landesebene für eine verbesserte Finanzierung einsetzen, sind an Unverbindlichkeit kaum zu überbieten. Dass der bei den befugten Stellen anfallende Aufwand im vorgelegten Entwurf keinerlei Erwähnung findet und mit Zahlen hinterlegt wird, lässt nur den Schluss zu, dass die Finanzbedarfe der befugten Stellen, die uns blinden und sehbehinderten Menschen einen barrierefreien Zugang zu Literatur erst ermöglichen, klein geredet werden sollen, damit nur keine Rechtfertigungsgründe für finanzielle Unterstützungsleistungen durch die öffentliche Hand offensichtlich werden.

Wir erwarten, dass der Aufwand für die befugten Stellen beziffert und dass der entstehende Aufwand gegenfinanziert wird.

Dem DBSV geht es darum, dass die befugten Stellen Literatur auch künftig in zugängliche Formate übertragen können. Es darf nicht passieren, dass befugte Stellen ihre Arbeit wegen des bürokratischen und finanziellen Aufwandes reduzieren oder gar einstellen müssen.

Zu § 45b:

Dass sowohl in der Überschrift, als auch in der Norm selbst nur von Menschen mit Seh- oder Lesebehinderung gesprochen wird, ist zu beanstanden. Diese Formulierung widerspricht dem Behinderungsbegriff, wie er im deutschen Recht ansonsten verwandt wird. Aus unserer Sicht kann ohne weiteres von „Menschen mit Behinderungen“ gesprochen werden, zumal in § 45b Abs. 2 UrhG_E definiert wird, wer im Sinne des Urheberrechts dazu rechnen soll.

Sowohl § 3 des Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes (BGG), als auch § 2 des SGB IX haben das Verständnis von Behinderung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention in deutsches Recht überführt. Es ist sicherzustellen, dass sich die Definition in § 45b daran ausrichtet. In Anlehnung an die RL 2017/1564 und unter Berücksichtigung des Verständnisses von Behinderung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention wird folgende Formulierung vorgeschlagen:

„Menschen mit Behinderungen im Sinne dieses Gesetzes sind Personen, die eine körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung haben und nicht in der Lage sind, Sprachwerke genauso leicht zu lesen, wie dies Personen ohne eine solche Beeinträchtigung möglich ist. Das kann insbesondere der Fall sein bei Blindheit, Sehbehinderung, motorischen Einschränkungen, Wahrnehmungsstörungen oder Legasthenie.“

Zu § 45c Abs. 2

Der vorgelegte Entwurf sieht vor, dass befugte Stellen das Recht erhalten, hergestellte Vervielfältigungsstücke zu verleihen, verbreiten und öffentlich wiederzugeben. Gemäß der Richtlinie (EU) 2017/1564 und der Gesetzesbegründung zum vorgelegten Entwurf soll jedoch auch die öffentliche Zugänglichmachung erlaubt sein. Gerade die öffentliche Zugänglichmachung erhält mit Blick auf die zunehmende digitale und Online-Bereitstellung von barrierefreien Formaten (z. B. Streaming und Download per Smartphone-App) eine immer größer werdende Bedeutung. Da das UrhG in § 19 die öffentliche Wiedergabe und in § 19a die öffentliche Zugänglichmachung getrennt ausweist, ist aus unserer Sicht zur Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben in § 45c der Begriff der „öffentlichen Zugänglichmachung“ explizit zu ergänzen und wie folgt zu formulieren:

„(2) Befugte Stellen dürfen nach Absatz 1 hergestellte Vervielfältigungsstücke an Menschen mit Behinderungen oder andere befugte Stellen verleihen, verbreiten, öffentlich wiedergeben und öffentlich zugänglich machen.“

Zu § 45c Abs. 4

Vergütungen für Nutzungen nach § 45c Abs. 1 und 2 UrhG_E zugunsten der Urheber sind aus unserer Sicht aktuell nicht gerechtfertigt. Die vorgesehene Vergütungsregelung ist daher entweder ganz zu streichen oder zumindest so neu zu fassen, dass ein Absehen von der Vergütung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit möglich ist.

Die Richtlinie (EU) 2017/1564 sieht in Artikel 3 Abs. 6 die Möglichkeit für Mitgliedsstaaten vor, dass befugte Stellen in ihrem Hoheitsgebiet einer Vergütung unterliegen. Dem Mitgliedsstaat steht insoweit ein Ermessen zu. Das heißt, es besteht keine Pflicht, eine Vergütungsregelung vorzusehen. Die Ermessensentscheidung, ob eine Vergütung vorgesehen wird oder auch nicht, ist  unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu treffen. Dabei konkretisiert Erwägungsgrund 14 der Richtlinie, dass eine Vergütungspflicht nicht eingeführt werden sollte, wenn dem Rechtsinhaber nur ein geringfügiger Schaden entstünde.

Dem deutschen Urheberrecht sind Ausschlüsse von Vergütungen einer Verwertung nicht gänzlich fremd (vgl. z. B. § 45 und § 52 Abs. 1 Satz 3 UrhG). Der Gesetzgeber kann sich also nicht darauf zurückziehen, dass eine Verwertung automatisch mit einer Vergütungspflicht einherginge. Vielmehr hat er sich mit den betroffenen Interessen dezidiert auseinanderzusetzen und diese insbesondere unter Berücksichtigung der menschenrechtlichen Garantien, der Grundrechte und der Zielsetzung der ins deutsche Recht zu transferierenden völkerrechtlichen Verpflichtungen – hier insbesondere aus dem Vertrag von Marrakesch und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) - zu gewichten.

Zugunsten der Urheber und der sie vertretenden  Verwertungsgesellschaften ist einerseits mit Blick auf Art. 14 Grundgesetz (GG) zu berücksichtigen, dass das Eigentum privatnützig auszugestalten ist und seine Nutzung dem Eigentümer finanziell eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung ermöglichen soll. Das bedeutet für das Urheberrecht: Dem Urheber sind die vermögenswerten Ergebnisse seiner schöpferischen Leistung grundsätzlich zuzuordnen und dessen Freiheit zu gewährleisten, in eigener Verantwortung darüber verfügen zu können.

Richtschnur der inhaltlichen Ausgestaltung des Eigentumsrechts ist andererseits das Wohl der Allgemeinheit (Art. 14 Abs. 2 GG). Unbedingten Vorrang vor den Interessen der Gemeinschaft kann das Individualinteresse des Urhebers also nicht beanspruchen. Die Gemeinschaftsbezogenheit haben Urheber in der Gestalt eines „Solidaropfers“ hinzunehmen, solange ihre Verwertungsrechte hierdurch nicht unzumutbar entwertet werden. Unter Berücksichtigung dieser Umstände erscheint es für Urheber zumutbar, dass im Falle der Zugänglichmachung von Werken im Sinne von § 45c Abs. 1 und 2 UrhG auf eine Vergütungspflicht zugunsten der Urheber verzichtet wird, wie die nachstehende Begründung verdeutlicht:

Die Schrankenregelungen im Urheberrecht sind im Lichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszugestalten:

Mit der Veröffentlichung steht das geschützte Werk nicht mehr allein seinem Schöpfer zur Verfügung. Es tritt vielmehr bestimmungsgemäß in den gesellschaftlichen Raum und kann damit zu einem eigenständigen, das kulturelle und geistige Bild der Zeit mitbestimmenden Faktor werden. Daraus erwächst jedoch auch eine Gemeinwohlorientierung dergestalt, dass die prägenden Informationen grundsätzlich jedermann zugänglich sein müssen. In Deutschland gibt es keine Verpflichtung, die alle Urheber zu einer barrierefreien Veröffentlichung und Verbreitung ihrer Werke verpflichten würde. Aus diesem Grund muss die Gemeinwohlorientierung anders gewährleistet werden. Wenn Urheber ihre Werke also nicht selbst barrierefrei zugänglich herstellen müssen, dann ist es aus unserer Sicht gerechtfertigt, dass auf Vergütungen verzichtet wird, wenn die aufwendige und kostenintensive Arbeit der barrierefreien Zugänglichmachung durch Dritte besorgt wird.

Wer keinen Zugang zu Informationen aus Literatur, Wissenschaft und Kunst hat, ist von Bildung, beruflicher Entfaltung, politischer, gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe ausgeschlossen. Der gleichberechtigte Zugang zu Literatur nimmt bei der Gewährleistung des effektiven Schutzes zahlreicher Grundrechte und menschenrechtlicher Garantien damit eine Schlüsselfunktion ein.

An dieser Stelle darf zunächst auf den besonderen Stellenwert der Meinungs- und Informationsfreiheit hingewiesen werden. Dieses Grundrecht ist eine der wesentlichen Pfeiler einer demokratischen Gesellschaft sowie eine der wichtigsten Bedingungen der Entwicklung und Entfaltung des Einzelnen. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit kann aber von Menschen mit Behinderungen nur dann gleichberechtigt mit anderen ausgeübt werden, wenn die Informationen – und dazu zählt insbesondere Literatur in jeglicher Form – in einem zugänglichen Format zur Verfügung steht. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit in Artikel 21 der 2009 von Deutschland ratifizierten UN-BRK mit dem Prinzip der Zugänglichkeit im Sinne des Artikels 9 UN-BRK untrennbar verknüpft. Artikel 21 UN-BRK lautet: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen das Recht auf freie Meinungsäußerung und Meinungsfreiheit, einschließlich der Freiheit, Informationen und Gedankengut sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben, gleichberechtigt mit anderen und durch alle von ihnen gewählten Formen der Kommunikation im Sinne des Artikels 2 ausüben können.“

Zudem bildet der Zugang zu Literatur und anderen Werken die Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Bildung (Art. 24 UN-BRK) sowie des Rechts auf Arbeit und Beschäftigung (Art. 27 UNBRK).

Zum Schutz vor Diskriminierung ist es daher zwingend notwendig, im Urheberrecht angemessene Vorkehrungen zu treffen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Zugang zu Literatur erhalten. Gleichberechtigung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention beschränkt sich dabei nicht auf eine formal-juristische Gleichstellung, sondern eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe setzt voraus, dass Maßnahmen zur tatsächlichen Gleichstellung behinderter Menschen ergriffen werden. Explizit bedeutet das für das Urheberrecht gemäß Artikel 30 Abs. 3 UN-BRK: „Die Vertragsstaaten unternehmen alle geeigneten Schritte im Einklang mit dem Völkerrecht, um sicherzustellen, dass Gesetze zum Schutz von Rechten des geistigen Eigentums keine ungerechtfertigte oder diskriminierende Barriere für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu kulturellem Material darstellen.“. Der Umsetzung dieser menschenrechtlichen Garantien dient der Vertrag von Marrakesch.

Das in § 45a und § 45c_E normierte Recht, sich Werke in einem wahrnehmbaren Format zugänglich machen zu dürfen, ist ein wesentlicher Schritt, um an Information und Meinungsbildungsprozessen, an Bildung, Arbeit und Beschäftigung sowie dem kulturellen Leben teilhaben zu können.

Trotz dieser seit 2003 im Deutschen Urheberrecht existierenden Schrankenregelung sind blinde, sehbehinderte und anderweitig lesebehinderte Menschen noch immer von über 95 % der veröffentlichten literarischen Werke ausgeschlossen, weil die Literatur praktisch nicht in zugänglichen Formaten zur Verfügung steht. Dadurch werden Entfaltungs- und Teilhabechancen verwehrt bzw. stark limitiert und es entsteht ein massiver Nachteil gegenüber nicht behinderten Menschen.

Blinde und sehbehinderte Menschen trifft dieser Umstand besonders hart, weil sie in unserer optisch geprägten Welt in einem besonders hohen Maß der Gefahr von Isolation ausgesetzt sind. Isolation, weil die Mobilität stark beeinträchtigt ist und zugleich, weil ihnen optisch vermittelte Informationen nicht zugänglich sind und also auch eine geistige Isolation droht. Das bislang zur Verfügung stehende Recht auf Zugänglichmachung allein reicht nach alledem nicht aus, um der besonderen Situation entgegen zu wirken.

Unter Berücksichtigung des Vorstehenden sind vielmehr Maßnahmen zu treffen, um die Verfügbarkeit von Büchern und anderem gedruckten Material in barrierefreien Formaten zu steigern. Die Abschaffung der Vergütungspflicht wäre hier ein zentraler Baustein. Die Blindenbibliotheken und sonstigen befugten Stellen wenden ein hohes Maß an finanziellen und personellen Ressourcen auf, um Literatur in wahrnehmbare Formate zu übertragen und bereitzustellen. Die Kosten werden teils durch staatliche Mittel, zu einem erheblichen Anteil aber auch durch Spenden blinder und sehbehinderter Menschen ermöglicht. Ohne das freiwillige Engagement blinder und sehbehinderter Menschen könnte nicht einmal der geringe Teil der aktuell umgesetzten Literatur barrierefrei zugänglich gemacht werden.

Die bisherigen und künftigen Vergütungsregelungen belasten behinderte Menschen, weil sie die finanziellen Ressourcen von Blindenbibliotheken binden anstatt ihnen zu ermöglichen, die ohnehin viel zu geringen Mittel ausschließlich für die barrierefreie Produktion und Verbreitung von Literatur zu nutzen. Die Beibehaltung der Vergütungsregelungen würde diese Belastung mit jedem zusätzlich aufbereiteten sowie abgegebenen Buch noch erhöhen bzw. eine Verbesserung der Situation sogar verhindern. Hinzu kommt, wie bereits dargestellt, der Verwaltungsaufwand, der mit der Abrechnung der zu zahlenden Vergütung verbunden ist.

Der finanzielle Verlust der Urheber ist marginal:

Für die Verfassungsmäßigkeit der Regelung kommt es ferner mitentscheidend auf das finanzielle Gewicht dessen an, was dem Urheber vorenthalten wird. Berücksichtigt man die Vielzahl der verwertungsberechtigten Urheber, die sich nach dem von der VG Wort aufgestellten Verteilungsplan in den erzielten Betrag teilen, so zeigt sich, dass jedem einzelnen Urheber aus der Vergütung nach §§ 45a, 45c UrhG nur ein verschwindend geringfügiger Betrag zufließt, der keinen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung seiner Existenz leisten kann. Das wird schon daran deutlich, dass 95 % der Werke gar nicht in barrierefrei zugängliche Formate umgesetzt werden. Zudem fällt auch das krasse Missverhältnis zwischen den Abgaben der Blindenbibliotheken und den Jahreseinnahmen der VG Wort auf – letztere betrugen 2015 305 Mio. €.

Es werden auch unabhängig von §§ 45a und 45c UrhG Vergütungen geleistet:

Von Gewicht ist ferner, dass die Urheber zumindest einen Teil der erfolgenden Werknutzung bereits vergütet erhalten. Blindenbibliotheken und sonstige Stellen schaffen die in barrierefreie Formate zu übertragenen Werke häufig selbst in der Originalfassung an und entrichten dafür eine Vergütung mit dem Kaufpreis. Hinzu kommen die Vergütungen über die Geräteabgaben für die Produktion und den Empfang der barrierefreien Fassungen. Blinde und sehbehinderte Menschen sind letztlich auch Konsumenten von Werken außerhalb des § 45a UrhG und leisten in diesem Rahmen Abgaben an die Urheber. Nicht jedes Werk wird also über Blindenbibliotheken und sonstige Einrichtungen bezogen.

Fazit

Nach alledem ergibt eine Abwägung zwischen dem Interesse blinder, sehbehinderter und anderweitig lesebehinderter Menschen und den Interessen der Urheber, dass aktuell eine Vergütungspflicht für Nutzungen nach den §§ 45a, 45c UrhG unverhältnismäßig ist.

  • 45c Abs. 4 UrhG_E sollte so neu gefasst werden, dass unter bestimmten Voraussetzungen keine Ansprüche der Urheber auf eine Vergütung bestehen. Möglich wäre etwa folgende Formulierung:

„(4) Für Nutzungen nach den Absätzen 1 und 2 kann sich ein Anspruch des Urhebers auf Zahlung einer angemessenen Vergütung ergeben. Der Anspruch auf Zahlung einer Vergütung ist ausgeschlossen, wenn

  1. dies mit den Interessen der Menschen mit Behinderungen auf eine deutliche Verbesserung der Zugänglichkeit zu Sprachwerken unvereinbar ist, insbesondere wenn befugte Stellen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben erheblich beeinträchtigt würden, und
  2. die finanziellen Nachteile für Rechteinhaber gering sind.

Der Anspruch kann nur durch eine Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden.“

Zu § 45c Abs. 5

Die Pflichten der befugten Stellen sowie eine staatliche Aufsicht über deren Einhaltung sollen in einer Rechtsverordnung geregelt werden. Gemäß Artikel 5 der Richtlinie (EU) 2017/1564 L legen die befugten Stellen die Verfahren zur Einhaltung bestimmter Pflichten selbst fest. Es gibt damit keine Befugnis, zu enge Vorgaben hinsichtlich der einzuhaltenden Verpflichtungen zu machen. Dass die bestehenden Verpflichtungen der befugten Stellen nicht im Rahmen eines förmlichen Gesetzgebungsverfahrens festgeschrieben werden und stattdessen ohne die Parlamentarier im Verordnungswege ergehen sollen, ist für uns nicht akzeptabel. Es handelt sich um wesentliche Regelungsinhalte, denn wie bürokratisch die Verpflichtungen für die befugten Stellen ausgestaltet werden, wird maßgeblich darüber entscheiden, welche befugte Stelle bereit und in der Lage ist, den Aufwand für die Produktion und die Zugänglichmachung für barrierefreie Sprachwerke übernehmen zu können. Das wiederum hat Konsequenzen für die Versorgung blinder und sehbehinderter Menschen mit Literatur. Unser Interesse ist es daher sicherzustellen, dass der bürokratische Aufwand so gering wie möglich gehalten wird. Zu beachten ist auch hier, dass die befugten Stellen bislang keine oder nur geringe Mittel erhalten, um diesen Aufwand ausgleichen zu können und auch keine konkreten Zusagen vorliegen, um die Finanzausstattung zu verbessern.

Weitere Maßnahmen

Absolut enttäuschend ist es, dass die Bundesregierung keine verbindlichen und vor allem wirksamen Maßnahmen vorsieht, um die Ziele des Marrakesch-Vertrages, nämlich die Büchernot für blinde sehbehinderte und anderweitig lesebehinderte Menschen zu beenden, aktiv zu unterstützen. Die Ausführungen in der Gesetzesbegründung,  dass sich die Bundesregierung bei den Ländern und Kommunen dafür einsetzen werde, dass die befugten Stellen in Deutschland künftig verbesserte finanzielle Ausstattungen erhalten, ist deutlich zu wenig. Gleiches gilt für den Prüfauftrag in Bezug auf den Nationalen Aktionsplan. Dass eine einzelne Blindenbibliothek, die DZB Leipzig, als besonders förderungswürdig hervorgehoben wird, zeigt, dass immer noch nicht verstanden wurde, um was es eigentlich geht und wie dramatisch die Situation blinder, sehbehinderter und anderweitig lesebehinderter Menschen ist. Dünne und rechtlich vollkommen unverbindliche Bemühenserklärungen reichen daher nicht aus, ebenso wenig wie temporär gewährte Hilfen. Vielmehr braucht es echte strukturelle und mit finanziellen Ressourcen hinterlegte Verbesserungen. Dafür braucht es ein ganzes Netz aus engagierten und gut ausgestatteten Institutionen, die die Barrierefreiheit von Sprachwerken voranbringen, also vor allem die Blindenbibliotheken und schulischen sowie hochschulischen Übertragungsdienste.