2. Staatenprüfung zur UN-Behindertenrechtskonvention: Fachausschuss berät die „Prüfungsfragen“ für Deutschland
Die Vorbereitungen für die 2. Staatenprüfung zur UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) laufen auf Hochtouren. Die Prüfung soll feststellen, wie weit Deutschland bei der Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen vorangekommen ist. Zuständig ist das CRPD-Komitee der Vereinten Nationen. „CRPD“ steht für „Convention on the Rights of Persons with Disabilities”, also die BRK.
Heute berät das Komitee in Genf über den Fragenkatalog, der an die Bundesregierung geht. Dabei haben behinderte Menschen ein gewichtiges Wort mitzureden, denn ein Verbändebündnis der deutschen Zivilgesellschaft ist mit einer Delegation in Genf vor Ort. Die Allianz besteht aus 55 Organisationen, die im Bereich der Behindertenpolitik arbeiten. Eingebunden sind der Deutsche Behindertenrat, die Fachverbände für Menschen mit Behinderung und die Liga Selbstvertretung, aber auch ganz unterschiedliche Betroffenenperspektiven. Das Bündnis hat im Vorfeld einen Fragenkatalog vorgelegt, an dem der DBSV aktiv mitgewirkt hat. So wurden beispielsweise Vorschläge des DBSV zur Umsetzung des Marrakesch-Vertrages, zu den Rechten taubblinder Menschen und zur Digitalisierung übernommen. Heute werden Sigrid Arnade, Verena Bentele, Joachim Busch, Andrea Fabris und Martina Heland-Gräf folgendes Statement für das Verbändebündnis abgeben.
Vortrag Sigrid Arnade
Verehrte Mitglieder des CRPD-Komitees,
im Namen der deutschen CRPD-Allianz begrüßt unsere Delegation dieses Treffen heute außerordentlich! Ich heiße Sigrid Arnade und ich bin eine der Delegierten des Deutschen Behindertenrats. Ich möchte die deutsche CRPD-Allianz vorstellen: Sie besteht aus 55 Organisationen, die im Bereich der Behindertenpolitik arbeiten. Darunter sind DPOs, Fachverbände und Selbsthilfe- oder Wohlfahrtsorganisationen. Unsere Delegation besteht aus fünf Vortragenden sowie Daniel Büter und Dr. Thorsten Hinz.
Wir Vortragenden werden einige wichtige Themen benennen und bitten Sie vor allem, bei der Erstellung Ihrer „List of Issues“ gegenüber der deutschen Regierung unsere Fragen und Themen zu berücksichtigen die wir Ihnen bereits zugesandt haben.
Als Erstes möchte ich vier Querschnittsthemen ansprechen:
- Der deutschen Behindertenpolitik fehlt nach wie vor eine durchgängige Menschenrechtsperspektive.
- Die Partizipation der Zivilgesellschaft ist mangelhaft, wie das Beispiel der fehlerhaften amtlichen Übersetzung der UN-BRK ins Deutsche zeigt. Sie ist immer noch nicht korrigiert worden, obwohl Österreich hier mit gutem Beispiel vorangegangen ist. Der General Comment, der in diesen Tagen verabschiedet wird, muss umgesetzt werden.
- Zum Thema Nichtdiskriminierung gibt es in Deutschland kein systematisches Umsetzungskonzept. Im Privatrecht (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz – AGG) fehlen die angemessenen Vorkehrungen
- Zur Bewusstseinsbildung fehlt eine Gesamtstrategie mit überprüfbaren Kriterien.
Als Zweites möchte ich auf ein spezielles Problem in Bezug auf Art. 19 hinweisen, das viele Menschen mit Behinderungen haben: Sie können nicht frei ihren Wohnort und ihre Wohnform bestimmen und gleichzeitig die notwendige Unterstützung erhalten. Deshalb müssen Menschen mit Behinderungen manchmal entgegen ihrem erklärten Willen in Institutionen leben, weil dort die notwendigen Assistenzen und Pflegeleistungen kostengünstiger erbracht werden als in ihrem eigenen Zuhause.
Mit dem Bundesteilhabegesetz (seit 1.1.2017 in Kraft) hat es durch das sogenannte „Zwangspoolen“ im ambulanten Bereich eine erhebliche Einschränkung selbstbestimmten Lebens gegeben. Behinderte Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, werden gezwungen, sich in bestimmten Lebensbereichen eine Assistenzkraft zu teilen. Das widerspricht dem General Comment Nr. 5 zum Art. 19, demzufolge eine gemeinschaftliche Leistungserbringung nur mit Zustimmung der Betroffenen zulässig ist.
Ein weiteres entscheidendes Hindernis, die freie Wahl von Wohnort und Wohnform zu realisieren, ist der eklatante Mangel an bezahlbarem barrierefreien Wohnraum.
Vortrag Martina Heland-Gräf
Mein Name ist Martina Heland-Gräf und ich vertrete die LIGA Selbstvertretung und werde hier über die Art. 14 – 17 sprechen.
Das Vorliegen einer Behinderung rechtfertigt noch immer eine Freiheitsentziehung sowohl nach dem Betreuungsrecht als auch nach öffentlichem Recht. Gleiches gilt auch für die sog. Landesunterbringungsgesetze. Deutschland muss sicherstellen, dass eine Behinderung bzw. psychische Erkrankung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt.
Die deutsche Regierung muss auch sicherstellen, dass keine Freiheitsentziehung ohne richterliche Anordnung erfolgt, diese zeitlich auf einen sehr engen Rahmen begrenzt und immer wieder überprüft wird.
Es werden nur in einzelnen Bundesländern Zahlen zu Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie erhoben. Bayern beispielsweise erhebt solche Zahlen bislang nicht. Nach wie vor sind Zwangsmaßnahmen wie Fixierungen in Deutschland an der Tagesordnung.
Das sogenannte Konzept der „Einwilligungsunfähigkeit“ ist oft das Einfallstor für Fremdentscheidungen über Menschen mit Behinderung. Die deutsche Regierung muss klare Schritte einleiten um das Konzept der „Einwilligungsunfähigkeit“ zu überwinden.
Es fehlt in Deutschland weiter an einer verbindlichen und nachhaltigen Gewaltschutzstrategie für Frauen und Mädchen mit Behinderungen, wie sie der UN-Fachausschuss fordert. Die Bundesregierung listet bisher nur Einzelmaßnahmen auf, um den Forderungen des UN-Fachausschusses nachzukommen. Auch fehlt nach wie vor eine unabhängige Beschwerdestelle für betroffene Frauen und Mädchen.
Die Zivilgesellschaft fordert dass Gewalt- u. Privatsphärenschutz nachhaltig und unabhängig eingeführt und überwacht wird und dass Übergriffe statistisch erfasst und dokumentiert werden.
„Täter-Arbeit“ (Therapien, Präventionsmaßnahmen etc.) für insbesondere betroffene Männer mit Behinderungen ist bisher in Deutschland so gut wie nicht möglich. Aber auch gerade diese, wäre eine wichtige Präventionsmaßnahme.
Vortrag Andrea Fabris
Mein Name ist Andrea Fabris, ich vertrete auch den Deutschen Behindertenrat und ich werde zu Art. 21 und 25 sprechen.
Es gibt in Deutschland einen Zwei – Klassen - Zugang zu Informationen, weil der private Rundfunk nicht zur Barrierefreiheit verpflichtet ist. Beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen gab es eine positive Entwicklung in den letzten Jahren. Im privaten Fernsehen sind nur 9 - 13 % der Sendungen mit Untertiteln versehen. Eine Audiodeskription oder der Einsatz von Gebärdensprache finden nicht statt und sind auch nicht geplant. Auch Kultur- und Freizeitveranstaltungen sind häufig weder baulich noch sprachlich barrierefrei.
Die Deutsche Gebärdensprache ist zwar als Sprache in Deutschland anerkannt, jedoch nicht im Sinne der europäischen Charta als Regional- oder Minderheitensprache. Sie wird nicht regelhaft als Fremdsprache in Schulen angeboten und es gibt kaum Lehrer, welche die Deutsche Gebärdensprache ausreichend beherrschen.
Das Gesetzgebungsverfahren zum Marrakesch-Vertrag soll im Oktober 2018 abgeschlossen werden. Neben den vorgesehenen Vergütungen entsteht den befugten Stellen ein hoher Verwaltungsaufwand ohne finanziellen Ausgleich. Es droht, dass mit dem neuen Gesetz weniger barrierefreie Werke zur Verfügung stehen werden, als jetzt. Die Ziele des Marrakesch-Vertrags und des Artikel 21 werden damit verfehlt.
Im Gesundheitsbereich wird es durch komplexe Regelungen für die Betroffenen schwer, die ihnen zustehenden Ansprüche einzufordern. Zudem schränken mangelnde bauliche und kommunikative Barrierefreiheit der Arztpraxen das Recht der freien Arztwahl ein.
Menschen mit Behinderungen und mit psychischen Erkrankungen benötigen häufig eine fachliche Begleitung im Krankenhaus oder in medizinischen Rehabilitationseinrichtungen. Klienten von ambulanten Diensten sowie Bewohner von stationären Einrichtungen haben keinen gesetzlichen Anspruch auf Unterstützung im Krankenhaus oder in medizinischen Rehabilitationseinrichtungen durch die Aufnahme einer Assistenzkraft. Dies gilt auch für unterstützende Familienangehörige.
Vortrag Joachim Busch
Mein Name ist Joachim Busch. Ich vertrete den Deutschen Behindertenrat und die Fachverbände für Menschen mit Behinderung. Dr. Thorsten Hinz ist mein Assistent und vertritt mit mir gemeinsam die Fachverbände. Ich arbeite in einer Werkstatt und habe viel Erfahrung in der Arbeit als Werkstatt-Rat.
Zu Artikel 27 – Arbeit: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist bei behinderten Menschen viel höher als bei Menschen ohne Behinderung: Bei nicht behinderten Menschen lag sie 2016 bei 8 Prozent, bei behinderten Menschen aber bei 12 Prozent.
Es gibt immer mehr Firmen, die sich weigern, behinderte Menschen zu beschäftigen (41.000 in 2016). Bestraft wird das fast nie!
Man weiß fast nichts zum Thema Barrierefreiheit bei der Arbeit! Und man muss Arbeitsplätze nur dann barrierefrei machen, wenn im Betrieb schon ein behinderter Mensch arbeitet.
310.000 Menschen mit Behinderungen arbeiten in Deutschland in Werkstätten für behinderte Menschen. Sie erhalten keinen Mindestlohn, sondern nur sehr wenig Geld. Das Bundesteilhabegesetz hat das etwas verbessert. Es gibt aber keinen Plan dafür, dass wirklich viele Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten können. Es gibt zu wenige Angebote zum Arbeiten außerhalb der Werkstatt!
Besonders schlimm ist, dass Menschen mit schwerer Behinderung ganz von der Arbeit ausgeschlossen bleiben. Das können wir nicht hinnehmen!
Zu Artikel 29 – Politische Teilhabe: Es gibt zwei Gruppen von Menschen in Deutschland, die nicht wählen dürfen.
- Menschen mit einer Betreuung in allen Angelegenheiten und
- Menschen die psychisch krank sind und in einem besonderen Gefängnis leben. Das heißt „Maßregelvollzug“.
Die Bundesregierung hat nun gesagt, dass sie das ändern will. Es ist aber unklar, ob sie beide Gruppen meint oder nur die Menschen mit einer Betreuung.
Im Moment klagen Leute, die 2013 und 2017 nicht wählen durften, beim Bundesverfassungsgericht. Bis jetzt wissen wir noch nicht, wie das ausgehen wird.
Vortrag Verena Bentele
Mein Name ist Verena Bentele, auch ich bin eine Vertreterin des Deutschen Behindertenrates
Zunächst zu Art. 9 – Zugänglichkeit: Teilhabe braucht Barrierefreiheit. Das AGG wurde bisher nicht angepasst – Private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen sind nicht zur Barrierefreiheit verpflichtet. Jedoch plant die Regierung in dieser Wahlperiode keine umfassende Reform. Bisher sind die Bauordnungen der Länder nicht angeglichen. Es fehlen mindestens 1,6 Mio. barrierefreie Wohnungen.
Vorgaben im Personenbeförderungsgesetz werden nur unzureichend umgesetzt. Neufassung bzw. Änderungen gesetzlicher Regelungen zu Beförderungskonzepten erfolgen ohne Beteiligung der Betroffenen.
Diskutiert wird aktuell ein Gesetz zur digitalen Barrierefreiheit. Für Bundesbehörden sind dort Ausnahmen („Unzumutbarkeitsklausel“) vorgesehen, private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen bleiben weitgehend ausgeklammert.
Angemessene Vorkehrungen zur Herstellung von Barrierefreiheit müssen endlich Pflicht für alle werden in Deutschland.
Zu Art. 24 – Bildung ist zu sagen, dass Inklusion größtenteils als Problem, nicht als Chance gesehen wird. Im Bildungsbereich fehlen weiterhin eine bundesweite Gesamtstrategie, Zeitpläne, Ziele, finanzielle und personelle Ressourcen.
Bisher besteht keine Strategie zum Abbau des Förderschulsystems. Angemessene Vorkehrungen an Regelschulen werden nicht systematisch bereitgestellt.
Die fehlenden Ressourcen erschweren die Inklusion an Regelschulen. Problematisch: Obwohl immer mehr behinderte Kinder an Regelschulen lernen (34 %), bleibt die Exklusionsquote konstant hoch, 2014: 4,6 %. In einigen Bundesländern besuchen jetzt sogar mehr Kinder die Sonderschule als früher. Unverändert haben 71 % der Abgänger aus Sonderschulen keinen Schulabschluss.
Im Bereich beruflicher Bildung fehlen weiterhin personenzentrierte, barrierefreie Angebote. Das verhindert gleiche Chancen auf Teilhabe am Arbeitsleben.
Abschließend bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und bitte Sie nochmals, der deutschen Regierung zu den angesprochenen Themen die Fragen aus unserem Fragenkatalog zu stellen, den wir Ihnen zugesandt haben.