Erfolgreich selbständig in der Stahlindustrie

Eine erfolgreiche Selbstständigkeit - das ist eine große, meistens sehr arbeitsintensive  Aufgabe und das sicher nicht nur für Blinde! Im Brücke-Interview erzählt uns diesen Monat der Unternehmer Bernd Walsch aber nicht nur, wie es ihm gelungen ist, erfolgreich selbstständig zu sein, sondern auch, wie er es geschafft hat, es zu bleiben.

Denn während für viele eine spätere Erblindung zwangsläufig einen Berufswechsel nach sich zieht, ist er seiner alten Tätigkeit treu geblieben – und das in einem doch eher blindenuntypischen Arbeitsfeld: der Stahlindustrie.

Die Brücke: Herr Walsch, können Sie uns zunächst Ihren Berufsweg ein bisschen beschreiben? Wie sind Sie denn zu Ihrer heutigen Tätigkeit gekommen?

Bernd Walsch: Ich bin ausgebildeter Industriekaufmann und habe meine Lehre in einem westdeutschen Stahlwerk im Saarland gemacht. Zur Ausbildung gehörte damals unter anderem auch eine eigene Abschlussprüfung im blinden Schreibmaschinenschreiben. Damals war mir die Bedeutung dieser Fertigkeit gar nicht so bewusst, aber seit meiner Erblindung im Jahr 2002 hilft sie mir natürlich erheblich, superschnell am Computer zu schreiben! Alle kaufmännischen Vorkommnisse wurden mir  beigebracht und über 3 Jahre hatte ich ständig wechselnde Büroeinsätze in den verschiedensten Abteilungen und eine praktische Zeit direkt im Stahlwerk. Gleichzeitig mit der Ausbildung vor der Industrie- und Handelskammer bildete das Unternehmen uns intern in Spezialfächern wie z.B.  Hüttenkunde aus.  

Mein erstes eigenes Büro hatte ich  mit ca. 20 Jahren in Düsseldorf und war für den Vertrieb eines Spezialproduktes verantwortlich. Ich koordinierte mit einer Mitarbeiterin 3 Außendienstmitarbeiter.

Nach 3 Jahren wurde mir der Außendienst in Westberlin angeboten und der so genannte Innerdeutsche Handel. Ich besuchte also Firmen wie AEG, Siemens und Mercedes und wechselte immer häufiger die Grenze zur DDR. Dazu hatte ich spezielle Papiere und war vom Mindestumtausch und der Straßenbenutzungsgebühr befreit. Alle kaufmännischen Verhandlungen in den DDR-Außenhandelsbetrieben wurden knallhart, fast feindlich, durchgeführt und wer nicht gut vorbereitet war, hatte keine Chance gegen die Außenhandelsökonomen (übrigens meist Frauen). Die bekamen noch Lob, wenn sie den Klassenfeind aus dem kapitalistischen Ausland fertig gemacht hatten. Ich erwähne dies, weil meine 12 Jahre im Innerdeutschen Handel eine sehr harte Schule waren und wie bereits gesagt: Wer seine Dinge nicht genau vorbereitet hatte, wurde blamiert. Seit dieser Zeit gehe ich nie unvorbereitet in ein Gespräch.

Aufgrund der Spezialkenntnisse über den Innerdeutschen Handel boten sich mir auch andere Firmen aus  Deutschland, Frankreich, der Schweiz und Italien an. Ich verkaufte diese Produkte im Einverständnis der Geschäftsführung des Stahlwerkes gegen Vermittlungsprovision und brachte es allein damit auf einen Umsatz von über 21 Mio. DM und einer Provision von über 700.000 DM pro Jahr; natürlich für das Stahlwerk, meinen Arbeitgeber. Entscheidend aber war die Erfahrung, die ich durch die vielfältigen Produkte erlangte. Ich bekam Kenntnisse im Formenbau, konnte technische Zeichnungen lesen, bekam Zugang zu Filtertechnik und Gießereiausrüstungen und vermittelte sogar 150 Strickmaschinen zur Herstellung von Strumpfhosen in die DDR.

Nach zwei Jahren Arbeit für das Stahlwerk Salzgitter und zwei weiteren für die spanischen Drahtwerke, machte ich mich 2001 mit diesem Spezialwissen und den Geschäftskontakten selbstständig. Ein Handelsvertreter gab mir kostenlos Unterschlupf in seinen Büroräumen und schon bald bekam ich dann die ersten Angebote zur Zusammenarbeit mit westdeutschen Firmen. Die Diagnose Retinitis pigmentosa wurde 2002 gestellt.

 

DB: Worin genau besteht denn Ihre Arbeit?

 

BW: Ich vertrete quasi die Interessen dieser Firmen im Gebiet der Neuen Bundesländer und erhalte von den Umsätzen Provision. Dafür müssen wir das Verkaufsgebiet technisch und kaufmännisch betreuen, die Kunden besuchen, Reiseberichte schreiben und Angebote nachhalten. Wir beraten und besuchen Stahlwerke, Gießereien, Schraubenfabriken und alle anderen stahlverarbeitenden Betriebe im Gebiet der Neuen Bundesländer. Meist wird uns das anstehende Problem im Betrieb gezeigt oder geschildert; dann sitzen wir in einem Besprechungsraum zusammen und wenn es sich um Werkzeuge handelt, die ich anfassen kann, dann stellen mir meine Gesprächspartner die Dinge zum Erfühlen auf meinen Platz. Manchmal ziehen wir Experten unserer Vertretungen dazu, wenn es sehr spezielle Fragen gibt. Bei der Optimierung von Stahlgütern für den Verarbeitungsprozess nehmen wir studierte Metallurgen mit und versuchen dann, den Verarbeitungsprozess zu optimieren.  

 

DB: Was waren bzw. sind denn das für Firmen und Produkte?

 

BW: Wir kennen die Produkte unserer Hersteller und können deshalb auch praktische Anwendungshinweise geben um Arbeitsgänge zu optimieren oder falsche Anwendungen vermeiden helfen. Wir schneiden Stahl bis 50 mm Durchmesser mit speziell dafür entwickelten Maschinen und haben beispielsweise Drahtendenschutzkappen im Angebot, damit sich die Arbeiter an den scharfen Drahtenden nicht verletzen und schon von weitem mit dem Stapler oder Kran die unterschiedlichen Durchmesser von z.B. 6 und 6,5 mm durch unterschiedliche Farben erkennbar sind und Verwechslungen vermieden werden. Aus den von uns vermittelten Stahlsorten werden Millionen von Schrauben gestaucht und die größten davon (etwa so dick und so lang wie ein Unterarm) verschrauben große Maschinen oder die Türme der Windenergieerzeuger. Selbst die Schienen werden von Klammern gehalten, die in unserem Gebiet hergestellt werden. Kaum einer macht sich Gedanken darüber, woher die Drähte für die Einkaufswagen oder die Harken in den Bauhäusern kommen. Zäune, Stromleitungen und die Bügel an den Farbeimern, um nur einige simple Produkte zu nennen, müssen irgendwo hergestellt werden.      

Die Produkte und Firmen, die wir seit dieser Zeit vertreten haben, wechselten immer mal wieder. Aber eine Vertretung stammt tatsächlich noch aus der Anfangszeit. Wir lieferten unter anderem große Kugellager, damit sich die Flügel in den Windrädern drehen lassen; wir liefern heute noch Schleifsteine, um die Schienen der U-Bahn in Berlin zu schleifen und wir haben seit einigen Jahren auch wieder für einige Verbraucher die Stahlversorgung meines ehemaligen Lehrherren, dem westdeutschen Stahlwerk SAARSTAHL AG, übernommen.

 

DB: Das klingt auf jeden Fall nach erfolgreicher Selbstständigkeit – aber die haben Sie ja noch sehend begonnen! Wie sind Sie mit Ihrer Erblindung umgegangen?

 

BW: Es gibt wahrscheinlich keinen von uns, der die Diagnose der Erblindung einfach so hingenommen hat. Das ist ohne Frage für jeden ein Schock. Aber es wird doch nicht besser, wenn man den Kopf in den Sand steckt und sich vor der extremen Veränderung versteckt. Ich kann jedem nur empfehlen, das ganze quasi als Herausforderung anzunehmen. So bescheuert das klingt, aber blind zu sein hat auch geschäftliche Vorteile und dabei meine ich nicht das Mitleid. Meine Geschäftspartner bewundern meine Unbefangenheit und den offenen Umgang mit dieser Schwerbehinderung. Es ist auch immer etwas Besonderes, wenn wir in einem  Betrieb auftauchen und an allen Ecken spüre ich den Versuch, die Berührungsängste gar nicht erst aufkommen zu lassen und gern holt man sich auch bei mir Rat ein, wie man in der eigenen Familie die Umstände um einen behinderten Menschen besser organisieren kann. Tauche ich dann wieder mal in einem Pressebericht mit meinen sportlichen Aktivitäten auf, werde ich gern darauf angesprochen.

Für mich selbst  ist jede Hürde, also etwas, was ich nicht sofort bewältigen kann, Ansporn, einen blinden Weg zu finden. Wenn man sich um Wege bemüht, ist vieles möglich und ich scheue mich nicht, mich immer wieder durch Computerexperten weiterbilden zu lassen. Das fördert übrigens auch das Integrationsamt auf Antrag.

Übrigens gibt es ja auch jenseits der Behinderung Widrigkeiten, mit denen man umgehen muss: Als Starthilfe in meine Selbstständigkeit bot mir ein ehemaliger Geschäftspartner damals ein Gehalt von 7.000 DM monatlich, wenn ich sein neuentwickeltes Produkt im Markt bekannt mache. Das war eine gute „Grundfinanzierung“, das Produkt war sehr interessant und eine intelligente Weiterentwicklung. Die Laborversuche waren sehr erfolgversprechend und er baute bereits die Großanlage in Troisdorf bei Köln. Aber bums: Die Anlage flog in die Luft, weil eine Vakuumschleuse undicht war. Gott sei Dank gab es keine Toten, aber Verletzte und die Autobahn um Köln und die Bahnstrecke mussten für Stunden gesperrt werden. Die Anlage wurde stillgelegt.

Warum erzähle ich das? Nie einfach aufgeben wenn es Schwierigkeiten gibt!

 

DB: Wie sieht denn heutzutage ein Arbeitstag bei Ihnen aus?

 

BW: Aufstehen um 7.00 Uhr. Ab 7.30 Uhr erster Check der Mails und Bankkonten im Homeoffice. Spätestens um 9.00 Uhr sitze ich im Businessdress am Schreibtisch. Dann sind bereits alle Mails gecheckt und die aktuellen Bankdaten in die Liquiditätsbetrachtung (Excel Liste) übertragen und eine Tagesbesprechung mit der für heute zuständigen Assistenz erfolgt. Steht keine Dienstreise an, arbeiten wir die Themen auf, die ich zuvor in einen Mailordner mit dem Titel „bearbeiten“ geschoben habe. Falls sich bereits vorformulierte Mails im Mailordner „Entwürfe“ befinden, sprechen wir die auch ganz kurz an und teilen uns den Arbeitsaufwand auf.  

Zum Mittagessen gehen wir in die Restaurants im Büroumfeld und nutzen die Zeit für Rücksprachen und zur Planung der nächsten Aufgaben. Ein reiner Bürotag ohne Besuch endet für die Assistenz um 17.00 Uhr. Ich werde oft noch danach angerufen oder angeschrieben und erkenne jeden Anruf auf meinem IPhone, auch wenn er über die Bürotelefonnummer ankommt. Je nach Dringlichkeit reagiere ich oder verschiebe das Thema auf den nächsten Tag wieder in den „Bearbeiten“-Ordner.

Wenn wir die Dienstreisen im Rahmen unserer regelmäßigen Kundenbesuche vorbereiten können, dann übernimmt die Assistenz alle strategischen Aufgaben. Sie sondiert mit mir die aktuelle Lage um den Kunden herum; hat alle offenen Fragen und die Vergangenheitswerte dabei oder im Kontakt über das Handy im Zugriff. Oft schreiben wir die wichtigsten Koordinaten direkt in die Terminnotiz und können dann dort sofort die Handynummer mit einem Hyperlink anwählen, um Verspätungen oder andere Dinge während der Fahrt abzuklären. Das kann ich dann alles vom Beifahrersitz aus. Je nach Zeitplan haben wir andere Verbraucher in der besuchten Nähe im Fundus, um Zeitlücken zu schließen und die Reise effektiver zu machen. Wichtig ist wirklich, dass ich auch unterwegs immer Zugriff auf unsere über 3.000 Kundendatensätze habe, die in Outlook hinterlegt sind. In normalen Zeiten sind wir mindestens einmal pro Woche unterwegs mit dem Auto. Flug- und Zugreisen werden natürlich so genau wie möglich durchgeplant bis hin zum Leihwagen „vor Ort“. Wird eine Übernachtung notwendig, dann klärt die Assistenz schon im Vorfeld, dass das Zimmer für mich barrierefrei ist und keine schrägen Wände oder Mauervorsprünge hat. Sie erbittet sich auch immer ein Zimmer für sich in unmittelbarer Nähe von mir und die Handys bleiben nachts an, damit ein Notruf möglich ist. Leider passiert immer mal wieder etwas, wenn bei der gemeinsamen Besichtigung meines Zimmers (ich lerne das dann auswendig), eine Gefahrenstelle übersehen wurde. Der letzte Unfall ereignete sich in einem kleinen Landhotel in der Nähe von München. Nachdem der gesamte Tag störungsfrei gelaufen war und alle im Zimmer waren, beugte ich mich beim Aufstehen von der Toilette vor und knallte mit dem Kopf genau auf einen sehr kantigen Heizkörper. Ihr kennt das ja: Sofort platzte die Stirn auf. Ich griff mir ein Handtuch aus der Nähe und suchte mit diesem Turban die Ausgangstür und wusste, die Assistenz hatte ihr Zimmer genau gegenüber. Selbst der sehr formelle Geschäftspartner wurde von dem Lärm wach und stand in Boxershorts ebenfalls auf dem Gang. Kurzum, das Übliche. Kühlpacks und nach einer halben Stunde ein großes Pflaster. Ich hoffe für alle Leser, dass eure Wunden auch so schnell heilen wie bei mir.

 

DB: Welche Aufgaben genau übernimmt Ihre Assistenz?

 

BW: Die Assistenz übernimmt all die Aufgaben, die ich selbst nicht oder nur sehr langsam erledigen kann. Beispielsweise ist das Programm für das Schreiben unserer Angebote, Bestellungen, Auftragsbestätigungen, Lieferscheine und Rechnungen nicht barrierefrei. Ich lege die Fakten fest und die Assistenz muss das dann schreiben. Gleiches gilt für unser Überweisungsprogramm. Fällige Rechnungen, Terminüberweisungen und sonstiger Zahlungsverkehr werden in Absprache mit mir vorgenommen und ich vermerke die Daten in der Liquiditätsbetrachtung. Alles, was nach außen wirksam wird, geht durch die visuelle Beurteilung der Assistenz, damit wir einen makellosen  Schriftverkehr haben. Ich schreibe die Mails vor und speichere sie im Entwurf-Ordner. Dort holt sie die Assistenz raus und korrigiert sie gegebenenfalls.

Unser Arbeitsplatz ist technisch genau auf meine Bedürfnisse hin ausgestattet: zwei Schreibtische mit vernetzten Computern - meinem I-Mac mit Voice Over über Kopfhörer und dem Windows-Computer meiner Assistenz -, eine Telefonanlage mit zwei Telefonen, Fritz-Box und Anrufbeantworter. Ein Festnetztelefon hat praktischerweise ein Headset mit Abhebevorrichtung, das mir ermöglicht, im Umkreis von 100 Metern den Anruf anzunehmen, wenn ich nicht am Schreibtisch sitze. Er wird mir aber auch auf dem Handy angezeigt über Fritz-Fon.

Jeder Mitarbeiter hat darüber hinaus ein IPhone, bei denen die Hometaste  jeweils mit Voiceover als Dreifach-Klick belegt ist, damit ich im Notfall alle bedienen kann und umgekehrt alle anderen auch mein Handy bedienen können.

Für die Wartung der Anlage ist die Assistenz allerdings nicht zuständig: Alle fachlichen Probleme mit Computer, Telefon und Handys sind per Wartungsvertrag an ein Supportunternehmen ausgelagert. Die haben per Fernwartung die Möglichkeit, auf jeden Computer zu kommen und Reparaturen vorzunehmen.

Meine Assistenz muss allerdings  auf jeden Fall den Dienstwagen komplett beherrschen und in der Lage sein, quasi auf Zuruf mit mir nach beispielsweise  Dresden und zurück  zu fahren, wenn dort ein Gespräch notwendig ist oder Probleme in der Fertigung aufgetaucht sind.

 

DB: Wie sieht es sonst mit dem üblichen Büro- bzw. Papierkram aus?

 

BW: Die Eingangspost lasse ich mir vorlesen. Die Buchhaltung ist extern und erhält nach Ablauf eines Monats alle Kontoauszüge und die dazu passenden Belege. Sie erstellen monatlich eine Gewinn- und Verlustrechnung und am Jahresende die Bilanz.

 

DB: Das klingt insgesamt nach einem umfangreichen Betrieb! Welche Voraussetzungen muss man mitbringen, erfolgreich selbstständig zu sein bzw. zu bleiben?

 

BW: Jeder mit einem solchen Vorhaben muss sich ernsthaft prüfen, welche Kraft und Ausdauer er tatsächlich über der Grundlast noch hat. Viele von uns haben Probleme genug damit, den normalen blinden Alltag zu bewältigen. Es nutzt natürlich nichts, nur etwas zu wollen. Man muss auch etwas können! Idealerweise kennt man sich schon in dem Geschäftsbereich aus, in dem die Selbständigkeit laufen soll.

Einige Talente und Tugenden müssen vorhanden sein, beispielsweise die Lust, mit modernen Hilfsmitteln zu arbeiten. Smartphone und Computer müssen reibungslos bedient werden können! Texte zu schreiben und zu formulieren darf auch keine Last sein. Keine Angst, auf Menschen zuzugehen, ist immer hilfreich, wenn Geschäftspartner im Spiel sind. Disziplin und Ordnung sind zwingend.

Meine Assistenzen werden vom Integrationsamt zum Teil bezahlt und auch einige Einrichtungen zur Barrierefreiheit werden gefördert. Dafür bin ich sehr dankbar.

Es gilt sich also auch schlau zu machen, wer einem Hilfestellungen geben kann und was einem zusteht und - ein wenig Glück und Glauben an die eigene Kraft braucht es auch.

(Interview mit Bernd Walsch vom 30.8.2018)