Physiotherapeut nach Umwegen

Die Physiotherapie lässt sich wohl mit Fug und Recht in die Kategorie der klassischen, nicht nur gut praktikablen, sondern auch sinnstiftenden Blindenberufe einordnen. Während viele diese Berufsrichtung daher ganz bewusst direkt einschlagen, hat Jürgen Bopp auf seinem Berufsweg schon mehrere Etappen hinter sich gelassen. Im Arbeitswelt-Interview erzählt er uns diesen Monat nicht nur von seinem jetzigen Arbeitsalltag, sondern auch von seinen vorherigen „Berufsfindungen“ mit all ihren Vor- und Nachteilen.

Die Brücke: Physiotherapeut ist ja ein Beruf, den doch viele Blinde ausüben. War das dein Traumjob? Hast du dir diese Tätigkeit ganz bewusst ausgesucht?

Jürgen:  Ja und nein. Ich habe vorher schon einige andere Sachen gemacht, von denen mir gerade mein letzter Job in der Büroverwaltung eines Versicherungsmaklers überhaupt nicht gefallen hat.

Als ich ganz bewusst damit aufgehört hatte, hatte ich erst mal keine Perspektive. Das Jahr Arbeitslosigkeit, das dann folgte, war für mich wie ein Sabbatjahr, in dem ich mir genau überlegen musste, was ich eigentlich machen möchte. Auf den Physiotherapeuten bin ich vor allem gekommen, weil ich gerne mit Menschen arbeite, Menschen gerne etwas beibringe – und als Physiotherapeut zeigt man ja den Leuten, wie sie sich richtig bewegen können! Eine Hemmschwelle war für mich allerdings, dass ich vorher selbst gar nicht gerne Sport gemacht habe. Wie sollte das also mit Gymnastik und Co. funktionieren? Im Nachhinein würde ich sagen, es war gut so, denn ich habe  während der Ausbildung viel über den Körper gelernt und fühle mich jetzt selbst auch viel fitter und wohler in meinem Körper. Wesentlich viel mehr Sport treibe ich gar nicht, aber ich achte auf meine Bewegungen und habe eine bessere Körperwahrnehmung!

DB: Du sagst, du hast vorher schon was anderes gemacht – was war das denn alles?

J: Nach meinem Abitur an der Blista mit noch halbwegs vernünftigem Sehrest von 10%  habe ich mich erst mal für ein Literaturstudium mit Soziologie im Nebenfach entschieden.  Meine  große Leidenschaft sind Bücher, ich wollte immer mit Texten arbeiten. Mein Traumberuf war Lektor beim Verlag oder Journalist.

Das lief auch sehr gut, aber ich bekam Probleme mit den Augen. Phasen schlechten Sehens, Krankenhausaufenthalte mit Operationen kann man  dank fehlender Anwesenheitspflicht beim Studium irgendwie kompensieren, solange man Hausarbeiten abliefert, aber schließlich ganz ohne Sehrest musste ich doch neu überlegen, ob ich das weitermachen wollte. Ich wusste schon, dass das als Vollblinder gehen würde, aber ich habe  mir das zu dem Zeitpunkt noch nicht zugetraut: Braille konnte ich noch nicht gut genug, die Computertechnik mit Sprachausgabe war mir noch nicht vertraut.

Die Arbeitsagentur schlug mir eine Ausbildung zum Dokumentationsassistenten, jetzt Fachangestellter für Medien und Dokumentation, vor.  Das  fand ich sehr interessant, weil es ja wieder eine Arbeit mit Texten war. Es geht darum, Bücher oder andere Medien genau anzuschauen, die wichtigsten Informationen herauszuziehen und in eine Datenbank einzupflegen. Arbeitgeber sind v.a. Bibliotheken, wissenschaftliche Einrichtungen, Rundfunkeinrichtungen oder Zeitungsverlage.

In meiner dreijährigen Ausbildung in einer Fachbibliothek für Pädagogik hatte ich auch Zeit, mich mit der Computertechnik vertraut zu machen. Danach hätte ich mir gut vorstellen können, in dem Beruf zu arbeiten, aber genau zu dieser Zeit, d.h. 1999 Anfang der Zweitausenderjahre ging der Bedarf in der Branche drastisch zurück, weil die Computersuchmaschinen immer besser wurden. Heute merkt man kaum noch, ob ein Mensch oder eine Maschine die Inhaltsangabe gemacht hat! So haben Google und Co. die Dokumentare in Berufsnischen gedrängt und mich in eine Sackgasse, obwohl ich mir die Arbeit wirklich gut hätte vorstellen können.

Ich musste also wieder neu überlegen, was ich sonst noch so kann. Während der Ausbildung hatte ich gemerkt, dass ich mit Computern ganz gut zurechtkam, gerade auch mit Hilfsmitteln wie Braillezeile und Screenreader. Ich bewarb mich bei einer Hilfsmittelfirma und arbeitete fünf Jahre in Köln als Hilfsmittelverkäufer.

Das war eine gute, vielseitige und anspruchsvolle Arbeit. Man muss verschiedene Bereiche abdecken, gleichermaßen  Verkäufer, Berater und Pädagoge sein. Aber für mich war es nicht das Richtige, weil es auch eine sehr stressige Tätigkeit ist. Die  Tage sind lang, man ist viel unterwegs, arbeitet manchmal am Wochenende bei Messeveranstaltungen. Wir haben von Köln aus ganz NRW bestückt. Ich bin standortbezogen, möchte feste Arbeitszeiten mit festem Feierabend. Also habe ich dort aufgehört, wieder ohne zu wissen, was kommen könnte.

Diesmal musste ich nicht lange suchen, denn ich fand eine Stellenausschreibung von einem Versicherungsmakler, der speziell Blinde und Sehbehinderte beraten wollte, welche Versicherungen für sie am besten geeignet wären. Denn wenn jemand schon eine Behinderung oder Grunderkrankung hat, kann es passieren, dass er zu schlechteren Konditionen versichert wird oder im Schadensfall darauf beharrt wird, dass der Schaden ohne die Behinderung gar nicht erst eingetreten wäre. Der Makler wollte aus Gründen der Authentizität ausdrücklich selbst betroffene Mitarbeiter haben. Als Protokollant habe ich zuerst Versicherungsgespräche dokumentiert, was mir wieder recht gut gefallen hat, aber im Laufe meiner Anstellung ging es in Richtung normaler Backoffice-Tätigkeit: Verträge vorbereiten, Angebote machen, Rechnungen etc. erstellen. Das alles ist überhaupt nicht mein Ding, sehr viel Juristerei! Also  habe ich da wieder aufgehört – und aktuell arbeite ich eben als Physiotherapeut in einer Praxis in einem kleinen Städtchen in der Nähe von Marburg.

DB: Aus dem Büroalltag in die Patientenarbeit – was genau ist denn heute dein tägliches Brot?

J: Wir behandeln Bewegungsapparatsprobleme jeglicher Art. Der große Schwerpunkt sind aber Leute im Seniorenalter, die die typischen Verschleißerscheinungen des Alters an unterschiedlichen Gelenken mitbringen. Eine weitere große Patientengruppe sind Menschen, die durch einseitige Belastungen am Arbeitsplatz Bewegungseinschränkungen oder Schmerzen bekommen haben. Fast jeder, der zu uns kommt, hat Rückenprobleme. Manchmal kommen aber natürlich auch Leute nach Unfällen oder Operationen zu uns, bei denen man behutsam die Beweglichkeit und Kraft im betroffenen Gelenk wieder erarbeiten muss.

DB: Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei dir aus?

J: Meine Chefin schickt mir den Terminplan als Sprachnachricht und gibt mir schon mal besondere Hinweise, dass z.B. ein Rezept voll ist und unterschrieben werden muss. Wenn ich morgens  komme, lege ich mir erst mal meine Karteikarten zurecht. Die habe ich mir selber mit Dymoband beschriftet. Ich arbeite im Halbstundentakt, gehe in den Wartebereich, rufe die Leute auf und dann geht’s los! Ich habe meinen eigenen Behandlungsraum, den ich mir genau so gestalten kann, wie ich will, um schnell alles wiederzufinden. Um die Zeit zu kontrollieren, habe ich eine sprechende Uhr.

Nach einem Arbeitstag von sechs Stunden – mit einer Stunde Pause – fahre ich wieder nach Hause und schicke meiner Chefin wiederum eine Nachricht, in der ich ihr besondere Vorkommnisse melde, wenn Leute z.B. Termine nicht eingehalten haben oder etwas Organisatorisches zu regeln ist.

DB: Das klingt nach sehr eigenständiger Arbeit! Gibt es überhaupt blindheitsbedingte Probleme? Brauchst du Assistenz bei bestimmten Tätigkeiten?

J: Es geht tatsächlich sehr viel selbstständig! Gerade die Arbeit am Patienten kann man weitgehend selbständig machen. Das betrifft vor allem eben die Physiotherapie an der Behandlungsbank. Während der Behandlung mache ich alles mit Tasten und Erklären, führe die Leute in die Bewegung hinein oder mache sie selbst vor. Es gibt ganz selten mal Leute, die sich nicht gerne anfassen lassen. Die gehen dann eben zu den sehenden Kollegen.

Insgesamt habe ich das Gefühl, dass meine Arbeitsweise sogar Vorteile hat, was nämlich das Körpergefühl der Patienten angeht, denn die korrigieren sich durch meine Berührung manchmal selber, wenn ich meine Hand an eine Stelle lege, an der ich eine Ausweichbewegung erwarte.

Wassergymnastik oder gerätegestützte Therapien, wie sie in vielen Reha-Kliniken angeboten werden,  sind für Blinde weniger einfach durchzuführen. Die Haltung kann ich im Wasser schlecht kontrollieren, weil ich selbst ja am Beckenrand stehe. Das habe ich im Praktikum überhaupt nicht gerne gemacht!

Bei der gerätegestützten Therapie kann ich schon zu den Leuten hingehen und Haltung und Bewegungsablauf ertasten, wie in der normalen Therapie eben auch, aber die Bedienung der Geräte ist häufig gar nicht blindengerecht...

Assistenz braucht man für den Verwaltungskram, z.B. die Abrechnung der Rezepte, die zumindest bei uns komplett papiergestützt ist. Die Assistenzarbeiten übernimmt – wie schon angedeutet - meine Chefin. Aber allen Blinden, die sich als Physiotherapeut selbständig machen wollen, sei gesagt, dass es  auch eine barrierefreie Computerlösung in diesem Bereich gibt, die den kompletten Praxisbetrieb abbildet.

Ach ja, und Hausbesuche sind als Blinder natürlich auch schwieriger und erfordern eventuell Assistenz für die Wegstrecken – oder aber man lässt diesen Teil der Arbeit von sehenden Kollegen erledigen.

Meine Ausbildung wollte ich übrigens erst an einer regulären Physioschule in Marburg antreten, aber das hätte blindheitsbedingt Pionierarbeit bedeutet, die ich im Nachhinein als zusätzlichen Stress empfunden hätte. Bei den Profis im Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte, die sich mit Arbeitstechniken für Blinde und Sehbehinderte auskennen und über alle Materialien wie Tastmodelle verfügen, geht es doch einfacher!  Ich würde den Ausbildungsgang in Mainz bzw. Chemnitz oder Nürnberg allen empfehlen, sofern die Arbeitsagentur die Kosten übernimmt. Die Internatsunterbringung ist schon sehr teuer!

DB: Welche Voraussetzungen sollte man deiner Meinung mitbringen, um Physiotherapeut zu werden?

J: Man sollte auf jeden Fall Interesse an Sport und Medizin haben oder überhaupt am Bewegungstraining im weitesten Sinne. Man braucht doch eine Menge medizinisches Wissen, weil es ja in der Physiotherapie immer darum geht, bestimmte Krankheitsbilder zu behandeln. Das ist der große Unterschied im Vergleich mit der Arbeit eines Sport- oder Gymnastiktrainers im Fitnessbereich.

Zusätzlich braucht man selbst eine gewisse körperliche Fitness. Man muss nicht Sportler sein, aber es gehört zum Job dazu, eine gewisse Kraft ausüben und in ungünstigen Positionen arbeiten zu können. Man steht sehr lange, muss manchmal im Knien arbeiten und sich vor allem bei der Massage vornüberbeugen.

Auch psychisch muss man belastbar sein, Sensibilität, Empathie und Aufgeschlossenheit den verschiedensten Menschen gegenüber mitbringen, auch wenn die selbst nicht immer nett sind.  Gesundheit ist für viele ein heikles Thema, zumal, wenn sie Schmerzen haben! Und man muss auch damit leben können, mal keinen Erfolg bei einer Behandlung zu haben.

DB: Was ist für dich – auch verglichen mit deinen vorherigen Tätigkeiten – dann das Gute an deiner Arbeit?

J: Man bekommt sehr viel direktes überwiegend positives Feedback! Die Leute freuen sich, wenn sie Hilfe und Verständnis bekommen. Eine Heilung gelingt wie gesagt nicht immer, aber auch kleine Fortschritte können schon einen wichtigen Unterschied für die Mobilität und Selbstständigkeit des Patienten bewirken.

Was mir sehr gut gefällt, ist, dass man feste Rahmenbedingungen hat. Die Termine laufen nach einem bestimmten Takt und  man kann festlegen, an welchem Tag man wie lange arbeitet. Ich z.B. arbeite 30 Stunden in der Woche, aber viele machen das auch nur als familienverträglichen Nebenberuf.

Dass man so viel zurückbekommt, passiert als Versicherungsmakler nicht und die Tätigkeit eines Dokumentars ist total abstrakt, denn man weiß überhaupt nie, ob irgendjemand die Infos aufnehmen und etwas Sinnvolles daraus machen wird. Man arbeitet eben so vor sich hin, ohne zu wissen, was aus der Arbeit wird! Beim Hilfsmittelhändler im direkten Kundenkontakt weiß man das natürlich schon, hat aber überwiegend mit Problemen zu kämpfen: Die Ausstattung ist sehr teuer, die Leute können sie nicht selbst bezahlen, Kostenträger wie Krankenkasse und Arbeitsämter kämpfen auch um jeden Euro... Dann funktionieren die Geräte nicht genau wie der Kunde es sich das gewünscht hätte... Diese ständige Suche nach Problemlösungen fand ich sehr mühsam!

DB: Ist das denn dann jetzt dein Traumjob oder wirst du demnächst noch einen Umschwung wagen?

J: Ich kann mir derzeit nicht mehr vorstellen, dass ich noch mal wechseln will, weil es mir wirklich gut gefällt. Was ich aber doch machen werde, ist, dass ich mich weiter spezialisiere und mir in dem sehr breiten Feld eine Nische suche. Die Wirbelsäule ist z.B. ein Thema, das mich besonders interessiert. Oder mehr in Richtung Entspannungstechniken zu gehen. Auch psychosomatische Behandlungsformen sind ein Riesenthema, denn Körper und Psyche kann man nicht wirklich trennen. Dementsprechend geht jetzt auch die Physiotherapie mehr in Richtung Stressbewältigung, Wellness, verfolgt also ganzheitliche Ansätze, bei denen man auch die Psyche behandelt. Ich kann mir also schon vorstellen, die Arbeitsstelle noch mal zu wechseln, den Beruf eher nicht! Das ist schon eine sehr gute Arbeit für Blinde, bei der der Bedarf so schnell nicht abnehmen wird!

(Interview mit Jürgen Bopp vom 23.5.2018)