Resolution zum Bundesteilhabegesetz

Eine Teilhaberechtsreform, die sich den Grundsätzen der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet sieht, muss die Situation behinderter Menschen spürbar verbessern – mit dem Ziel voller, wirksamer und gleichberechtigter Teilhabe.

 

Wir sind enttäuscht, dass die spezifischen Belange blinder, sehbehinderter und taubblinder Menschen in einem Reformvorhaben, das behinderten Menschen mehr Selbstbestimmung und bessere Teilhabemöglichkeiten verspricht, nicht durch bedarfsgerechte Teilhabeleistungen abgebildet werden.

Wir sind zutiefst besorgt, dass mit dem Bundesteilhabegesetz Leistungseinschränkungen bei der sozialen Teilhabe in Freizeit, Kultur und Ehrenamt, bei gesundheitsbezogenen Teilhabeleistungen, bei Hilfsmittelversorgung, Bildung und Mobilität drohen.

Wir sind empört, dass blinde, sehbehinderte und taubblinde Menschen massive Benachteiligungen befürchten müssen.

Wir kritisieren scharf, dass die Teilhaberechtsreform zunehmend auf Basis fiskalischer Erwägungen und finanzpolitischer Verteilungskämpfe verhandelt wird.

Wir fordern:

  1. Zur Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen in Deutschland und zur Stärkung der Selbstbestimmungsrechte ist es unverzichtbar, dass die Teilhaberechtsreform genutzt wird, um endlich eine bundeseinheitliche und gerechte sowie einkommens- und vermögensunabhängige Blindengeldlösung zu etablieren, die auch hochgradig sehbehinderte und taubblinde Menschen einbezieht. Teilhabeleistungen aller Art müssen bundesweit einheitlich sein, dafür ist unter finanzieller Beteiligung des Bundes zu sorgen.
    Wenn eine bundesweit einheitliche Blindengeldlösung aktuell nicht erreichbar ist, müssen als Zwischenschritt mindestens die für die Eingliederungshilfe vorgesehenen Verbesserungen bei der Einkommens- und Vermögensheranziehung auch für die Blindenhilfe gem. § 72 SGB XII gelten. Teilhabeleistungen müssen gleich behandelt werden. Es darf nicht sein, dass einzig die Bezieher von Blindenhilfe von sämtlichen Verbesserungen beim Einkommens- und Vermögenseinsatz ausgenommen werden.
  2. Teilhabeleistungen sind Nachteilsausgleiche und keine Almosen. Um chancengleich in der Mitte der Gesellschaft leben zu können, darf das Einkommen und Vermögen behinderter Menschen und ihrer Angehörigen nicht länger auf erforderliche Teilhabeleistungen angerechnet werden. Es ist daher inakzeptabel, dass das Bundesteilhabegesetz keine klare und verbindliche Perspektive zum Ausstieg aus dem Bedürftigkeitsprinzip aufzeigt, ja nicht einmal einen Prüfauftrag zur künftigen Abschaffung der Einkommens- und Vermögensberücksichtigung formuliert.
  3. Die Stärkung von Beratungsangeboten ist dringend notwendig und deren beabsichtigte Förderung durch den Bund ausdrücklich zu begrüßen. Bei der Ausgestaltung der Förderung für eine qualitätsgesicherte und vor allem bedarfsgerechte Beratung der Betroffenen ist bereits im SGB IX (und nicht erst auf Ebene von Förderrichtlinien) sicherzustellen, dass es für kleine, spezifische Behinderungsgruppen – wie blinde, sehbehinderte und taubblinde Menschen – spezialisierte, überregional vorzuhaltende und barrierefrei zugängliche Angebote in ausreichender Anzahl gibt, denn das notwendige Spezialwissen, die Beratung durch gleich Betroffene (Peer Counseling) sowie die spezifischen Angebote kann nicht jede Beratungsstelle vorhalten.
  4. Sehbehinderte Menschen dürfen nicht von Leistungen der Eingliederungshilfe ausgeschlossen werden. Vollkommen inakzeptabel ist die beabsichtigte Konzentration der Eingliederungshilfe allein auf die Menschen, die einen komplexen Unterstützungsbedarf in mehreren Lebensbereichen (5 von 9) haben. Es darf nicht passieren, dass beispielsweise sehbehinderten jungen Menschen die Aufnahme eines Hochschulstudiums allein deshalb unmöglich wird, weil die oft teuren Hilfsmittel oder Studienassistenz nicht mehr wie bisher über die Eingliederungshilfe finanziert werden können, oder dass sehbehinderten Schülern der Erwerb des Abiturs unmöglich wird, nur weil ab der Oberstufe niemand mehr ihre Hilfsmittel bezahlt. Es darf auch nicht passieren, dass sehbehinderte Menschen davon ausgeschlossen werden, sich ehrenamtlich zu engagieren, weil sie von vornherein keinen Zugang zu den Unterstützungsleistungen der Eingliederungshilfe mehr haben.
  5. Im gesellschaftlich zentralen Bereich der Bildung darf es weder Stillstand noch Rückschritte geben. Gerade hier müssen im Gegenteil Teilhabechancen besonders zukunftsorientiert und nachhaltig weiterentwickelt werden. Das verengte Verständnis von Bildungsteilhabe der künftigen Eingliederungshilfe mit abschließend festgelegten Leistungen ist solch ein Rückschritt und daher abzulehnen. Abzulehnen ist auch, dass ausgerechnet im Bereich Bildung Regelungen für die Versorgung mit Hilfsmitteln fehlen. Und ebenfalls abzulehnen sind die Einschränkungen für hochschulische oder schulische Weiterbildung, denn der hier geforderte enge zeitliche Zusammenhang grenzt behinderte Menschen unverändert von der Chance zu späteren Weiterqualifizierungen aus. Zu fordern sind stattdessen wegweisende Fortschritte, wie der sofortige Wegfall der Bedürftigkeitsprüfung, um ein chancengleiches, lebenslanges Lernen mit der dafür notwendigen Unterstützung zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen.
  6. Die freie Wahl der Schule muss garantiert bleiben. Wenn ein sehbehindertes, blindes oder taubblindes Kind eine Blinden- oder Sehbehindertenschule mit Internat besucht, dürfen daraus keine Nachteile entstehen. Die Kostenbeteiligung muss wie bisher auf die häusliche Ersparnis begrenzt bleiben. Gleiches gilt für den Besuch einer Internatsschule zum Zweck der Absolvierung einer schulischen Berufsausbildung. Zudem darf es durch den Systemwechsel bei Volljährigkeit nicht zu Leistungslücken kommen, die den erfolgreichen Schulabschluss gefährden.
  7. Im Alltag sind Hilfsmittel gerade für blinde, sehbehinderte und taubblinde Menschen unverzichtbar. Der weite Hilfsmittelbegriff, der bislang auch Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens einbezieht, beispielsweise spezielle Beleuchtungssysteme, darf nicht abgeschafft werden.
  8. Mit dem Bundesteilhabegesetz muss Taubblindheit als Behinderung eigener Art endlich anerkannt werden, ebenso die damit verbundenen Bedarfe. Das im Schwerbehindertenausweis neu vorgesehene Merkzeichen muss „TBl“ heißen. Eine Bagatellisierung dieser schwerwiegenden Teilhabeeinschränkung, wie sie durch das vorgesehene Merkzeichen „aHS“ für „außergewöhnlich hörsehbehindert“ droht, und die dahinter stehende Absicht, das Merkzeichen dauerhaft nicht mit den Nachteilsausgleichen zu verknüpfen, die es für blinde und gehörlose Menschen gibt, wird von uns aufs schärfste verurteilt. Die erforderliche Unterstützung, u. a. durch spezielle Assistenz- und Dolmetschleistungen, muss sichergestellt werden, was im Gesetz Nachbesserungen bei der Ausgestaltung der Assistenzleistungen und der Leistungen für Kommunikation erfordert.
  9. Blinde, sehbehinderte und taubblinde Menschen, ggf. mit weiteren schwerwiegenden Beeinträchtigungen, dürfen nicht in die Pflege „abgeschoben“ werden. Teilhabe muss für alle möglich sein und bleiben, eine Einteilung in „förderfähig“ und nicht „förderfähig“ wird von uns strikt abgelehnt. Notwendige Leistungen der Pflegeversicherung sind vollständig zu leisten, dürfen aber keinesfalls dazu führen, dass Eingliederungshilfeleistungen im ambulanten Bereich ausgeschlossen werden.
  10. Wer Unterstützung z. B. beim selbstständigen Wohnen braucht, muss wählen können, wie, wo und mit wem er leben will. In der Eingliederungshilfe ist ein Wunsch- und Wahlrecht umzusetzen, das die selbstbestimmte Lebensführung stärkt und berechtigte Wünsche der Betroffenen gelten lässt, wie dies für andere Rehabilitationsträger schon heute gesetzlich geregelt ist.

Der DBSV hat sich von Anfang an in den Gesetzgebungsprozess eingebracht. Trotz der tiefen Enttäuschung über den Referentenentwurf ist der Verband nach wie vor bereit, konstruktiv an der Entwicklung eines guten Teilhabegesetzes für alle behinderten Menschen mitzuwirken.

Der DBSV wird sich parallel mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln für eine gleichberechtigte Teilhabe blinder, sehbehinderter und taubblinder Menschen am gesellschaftlichen Leben einsetzen. Blinde, sehbehinderte und taubblinde Menschen dürfen nicht die Verlierer des Bundesteilhabegesetzes werden!

Verabschiedet vom Verwaltungsrat des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e. V. in Berlin am 29. April 2016.