Entschließung - Digitalisierung und Mobilität: individuell gesteuerte akustische Signale im öffentlichen Raum
Die gesellschaftliche Teilhabe von blinden und sehbehinderten Menschen hängt in entscheidendem Maß von einer selbstbestimmten Mobilität ab. Wichtige Voraussetzung dafür ist die barrierefreie Gestaltung von Verkehrs- und Freiräumen sowie in Gebäuden. In Normen und Standards wurden und werden Anforderungen an die barrierefreie Gestaltung formuliert – z.B. für Lichtzeichenanlagen (Ampeln), Bodenindikatoren, Kontraste im öffentlichen Raum oder akustische Türauffinde-Signale in Verkehrsmitteln und an Eingängen von Gebäuden. Sie stellen Mindestanforderungen an die Barrierefreiheit, die nicht in jedem Fall auch die individuelle Zugänglichkeit gewährleisten können – weil zum Beispiel im Einzelfall doch eine deutlichere Hörbarkeit als in der Norm festgelegt für die Wahrnehmbarkeit erforderlich ist.
Parallel schreitet die Digitalisierung im Bereich der Mobilität voran und bestimmt zunehmend, wie wir Wege planen und uns von A nach B fortbewegen. Der DBSV ist überzeugt, dass sie auch neue Möglichkeiten eröffnet, die Orientierung und Mobilität im öffentlichen Raum und in Gebäuden für blinde und sehbehinderte Menschen zu vereinfachen und stärker an individuelle Bedarfe anzupassen. Das betrifft zum Beispiel die Möglichkeit, die Lautstärke von Orientierungssignalen individuell und bedarfsgerecht anzuheben, die Grünphasen an Lichtzeichenanlagen zu verlängern oder Orientierungssignale und Ansagen bei Baustellen oder an Gebäudeeingängen individuell auszulösen.
Chancen der Digitalisierung für die Mobilität von blinden und sehbehinderten Menschen nutzen
Wenngleich die Digitalisierung Möglichkeiten für eine verbesserte Mobilität schafft, gibt es auch unter blinden und sehbehinderten Menschen eine Zurückhaltung und Skepsis angesichts möglicher Risiken. Der DBSV nimmt die Bedenken ernst, dass erkämpfte Fortschritte bei der Barrierefreiheit aufgeweicht oder Umsetzungsmaßnahmen ausgesetzt werden könnten. Ebenso nimmt der DBSV die Sorgen ernst, dass einige Menschen mit den einhergehenden höheren Anforderungen an technische Ausstattung und Kompetenz nicht mithalten können.
Aus diesen Gründen sieht der DBSV folgende Leitprinzipien im Umgang mit neuen digitalen Lösungen als geboten an, um zu gewährleisten, dass Chancen der Digitalisierung genutzt und ihre Risiken minimiert werden:
- Oberste Priorität hat die barrierefreie Gestaltung von Verkehrs- und Freiräumen sowie Gebäuden. Bestehende Standards und Normen müssen umgesetzt werden. Gleichzeitig müssen Anforderungen an die Barrierefreiheit – auch herkömmliche bzw. analoge Maßnahmen der Barrierefreiheit – fortgeschrieben und Leerstellen in der Normung und Standardisierung geschlossen werden. Digitale Lösungen müssen als ergänzende Maßnahme genutzt werden, um die Zugänglichkeit darüber hinaus zu verbessern. Die Unterscheidung zwischen Barrierefreiheit als einerseits proaktivem und behinderungsübergreifenden Konzept und angemessenen Vorkehrungen andererseits im Sinne nachgelagerter zielgruppenspezifischer Maßnahmen ist sowohl für den Umgang mit als auch für die Kommunikation über digitale Lösungen mit politischen Entscheidungsträgern, Verkehrsunternehmen und weiteren Interessengruppen entscheidend.
- Digitalisierung ist dann erfolgreich, wenn sie mit und für Menschen gestaltet ist. Das setzt voraus, dass sich alle mitgenommen fühlen, unabhängig von ihrer Sozialisierung im Umgang mit Technik und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Haltungen zur Thematik der Digitalisierung. Es müssen Wege gefunden werden, die sowohl den Wunsch nach digitalen Lösungen für eine verbesserte individuelle Mobilität respektieren als auch die Bedenken hinsichtlich der Risiken ernst nehmen.
- Da die Prozesse der Digitalisierung sich dynamisch entwickeln, sind die hier formulierten Leitlinien und Anforderungen regelmäßig zu prüfen; gegebenenfalls ist eine Neubewertung vorzunehmen.
Anforderungen an individuell gesteuerte akustische Signale als digitale Lösung
Für digitale akustische Signale im öffentlichen Raum – also zum Beispiel im Publikumsbereich von öffentlichen Gebäuden, in Verkehrsanlagen oder in Bahnhöfen – sollten aus Sicht des DBSV folgende Anforderungen gelten und Beachtung finden:
- Individuell gesteuerte akustische Signale werden als digitale Ergänzung zu vorhandenen oder benötigten herkömmlichen bzw. analogen Maßnahmen der Barrierefreiheit entwickelt.
- Individuell gesteuerte akustische Signale müssen einen erwiesenen Mehrwert für die gleichberechtigte Teilhabe haben (z.B. durch einen fundierten und qualifizierten Nutzungstest und in jedem Fall unter Einbeziehung der Selbsthilfe).
- Mittelfristiges Ziel ist es, anhand von Praxiserfahrungen ein Konzept über alle akustischen Signale zu entwickeln und zu standardisieren. Dafür müssen Untersuchungen etwa zu Hörbarkeit, Auffindbarkeit, und Differenzierbarkeit von akustischen Signalen initiiert werden.
- Akustische Signale müssen vom jeweiligen Objekt ausgehen. Nur so sind sie für blinde und sehbehinderte Menschen geeignet und sicher. Zu prüfen bleibt dabei die Umsetzung des Mehr-Sinne-Prinzips für hör-sehbehinderte bzw. taubblinde Menschen.
- Individuell gesteuerte akustische Signale müssen in kritischen Situationen wie beispielsweise im Straßenverkehr oder auf Bahnsteigen ohne händische Eingriffe der Nutzenden ausgelöst werden.
- Durch offene Schnittstellen ist zu gewährleisten, dass individuelle akustische Signale über eine einzige barrierefreie App (zumindest pro Anwendungsbereich) oder ggf. andere Endgeräte gesteuert werden können. Nur so ist eine eigenständigere Mobilität deutschlandweit und anbieterunabhängig sowie nutzerfreundlich möglich. Zu vermeiden ist, dass je nach Objekt oder Anbieter unterschiedliche Apps verwendet werden müssen, um etwa ein Orientierungs- oder Freigabesignal an Lichtzeichenanlagen in der Lautstärke zu verändern.
- Digitale Ergänzungen müssen in allen Situationen verlässlich funktionieren.
- Digitale Ergänzungen werden für Menschen mit Behinderung kostenfrei zur Verfügung gestellt.
Der DBSV unterstützt Innovationen, die diesen Anforderungen folgen. Der DBSV fordert auch von den Kommunen und der Wirtschaft, die Digitalisierung zu nutzen, um die Mobilität von blinden und sehbehinderten Menschen zu verbessern.
Verabschiedet vom Verbandsrat des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e. V. (DBSV) in Hannover am 13. Mai 2023