DBSV-Stellungnahme zum Referentenentwurf einer Sechsten Verordnung zur Änderung (6. ÄndVO) der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)

Allgemeine Anmerkungen

Bevor auf notwendige Änderungsbedarfe im Einzelnen eingegangen wird, seien einige einleitende Anmerkungen gestattet:

Die Orientierung des Grades der Behinderung anhand der Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird grundsätzlich begrüßt. Soweit dabei die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als konzeptionelle Begründung herangezogen wird, ist darauf hinzuweisen, dass dies kaum möglich erscheint. Die ICF beruht auf einem Ansatz, der individuelle Einschränkungen vor dem Hintergrund personenbezogener und umweltbezogener Faktoren beschreibt und einordnet. Das steht im Widerspruch zu dem im Schwerbehindertenrecht angelegten Massenverfahren mit einer standardisierten Betrachtungsweise.

Die nach § 152 SGB IX zu treffenden Feststellungen können nicht einfach gleichgestellt werden mit den ICF-konformen Begutachtungen des individuellen Teilhabebedarfs, der für die in § 4 SGB IX genannten Leistungen bestimmend ist. Bei den Abstufungen nach dem GdB und den verschiedenen Merkzeichen werden zum Teil sehr unterschiedlich behinderte Menschen zu Gruppen zusammengefasst. Was sie zur Gruppe verbindet, ist letztlich der gesellschaftliche Konsens darüber, dass sie auf bestimmten Gebieten dieselben Rechte haben sollen. Nach diesem Konsens ist - nun auch vor dem Hintergrund des modernen Behinderungsbegriffs – zu suchen. Dabei ist sicherzustellen, dass sich die Hürden für Betroffene zur Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche nicht noch weiter erhöhen.

Zu begrüßen ist, dass im Vergleich zu den in der letzten Legislaturperiode vorgelegten Entwürfen die Festschreibung für die Voraussetzungen bestehender Hilflosigkeit in Teil A nicht mehr im Zweifel steht.

Zu begrüßen ist ebenfalls, dass der Begriff der „hochgradigen Sehbehinderung“ in Teil B beibehalten wird und erstmals einheitliche Kriterien für das Vorliegen hochgradiger Sehbehinderung entwickelt werden, auch wenn hinsichtlich der konkreten Ausformung Erörterungsbedarf besteht. Kritisch zu sehen sind indes Unstimmigkeiten bei der Bewertung bestimmter Teilhabeeinschränkungen, wobei sich diese Stellungnahme im Wesentlichen auf die Folgen der Neuregelungen im Kontext „Sehen“ bezieht.

 

Änderungsbedarfe im Einzelnen

Zu Abschnitt A

Mit großer Sorge erfüllt uns der Ansatz, künftig den GdB generell unter Berücksichtigung von Hilfsmitteln und Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens zu bemessen und dabei im Grundsatz von einer optimalen Hilfsmittelversorgung als Maßstab für die Bemessung von Teilhabebeeinträchtigungen auszugehen. In dieser abstrakten und weitreichenden Form ist die Regelung keinesfalls tragbar, denn sie entspricht nicht der realen Lebenssituation der Betroffenen. Oft erfordern gute Hilfsmittel hohe Zuzahlungen, die sich viele Betroffene nicht leisten können. Zudem müssten sie künftig nachweisen, warum bei ihnen keine gute Versorgung vorliegt. Richtig ist, dass – wie das auch immer schon geschieht – zum Beispiel die Sehschärfe mit best möglicher Korrektur (also mit Gläsern oder Kontaktlinsen, somit unmittelbar am beeinträchtigten Organ ansetzenden Hilfsmitteln) gemessen wird und dass sich dann auch der individuell festgestellte GdB und die jeweils zuerkannten Merkzeichen im Wesentlichen danach ausrichten. Es ist ja der Sinn der nach § 152 SGB IX zu treffenden Feststellungen, dass sie typisierend und längerfristig die Grundlage für eine verfahrensmäßig vereinfachte Zuerkennung von Schutzrechten und Nachteilsausgleichen darstellen. Allerdings lassen sich diese Rechte nicht abhängig machen von der individuell unterschiedlichen Nutzung von Hilfsmitteln und Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens, die jeweils nur in fest umrissenen Zusammenhängen einsetzbar sind und von denen es ein riesiges und sich ständig erneuerndes Angebot gibt. Ebenso wenig wäre es sinnvoll, jene Rechte darüber hinaus noch abhängig zu machen von den im individuellen Fall zur Verfügung stehenden persönlichen Hilfen für Begleitung, Vorlesen und Assistenz bei diversen Betätigungen. Diese Hilfen werden oft auch dann gebraucht, wenn die Hilfsmittel ausfallen.

Im Übrigen verbietet sich nach Auffassung des DBSV ein abstraktes Abstellen auf die Versorgung mit Hilfsmitteln und auf medizinische Behandlungsmöglichkeiten schon deshalb, weil die entsprechende Versorgungssituation gerade bei Menschen mit Behinderungen und chronischer Erkrankung in der Praxis in der Regel nicht einer optimalen Versorgung entspricht, sondern meist sogar deutlich schlechter zu beurteilen ist. Das bedeutet, dass für die Beurteilung einer Teilhabeeinschränkung auf eine theoretische Versorgung abgestellt wird, die in den meisten Fällen gar nicht besteht.

Zu Abschnitt B Nr. 4.2

Die in Teil B Nr. 4.2.1 Buchst. a) bis d) gewählte Formulierung zur Beschreibung einer der Sehschärfe von 1/50 gleichzustellenden Sehstörung ist mit Blick auf die Angaben zur Berücksichtigung des Restgesichtsfeldes noch immer nicht plausibel. Die Regelung sieht vor, dass bei kleinen Gesichtsfeldresten (bis 7,5 Grad vom Zentrum entfernt) die Bestimmung der Größe des Restgesichtsfeldes vom Zentrum des Restgesichtsfeldes aus gemessen werden kann (Buchst. c)) und d)). Bei größeren Gesichtsfeldresten hingegen soll die Größe des Gesichtsfeldes ausschließlich vom Mittelpunkt des Gesichtsfeldschemas aus bestimmt (Buchst. a und b)) werden. Die Begründung stellt darauf ab, dass die Lage des Gesichtsfeldes Einfluss auf die Orientierungsfähigkeit habe. Bei sehr kleinen Gesichtsfeldresten (maximal 15 Grad im Durchmesser) wirke sich die Lage des Gesichtsfeldes indes nicht mehr positiv aus, so dass auf das Zentrum des Restgesichtsfeldes abgestellt werden kann.

Zu begrüßen ist insoweit zwar, dass grundsätzlich anerkannt wird, dass Einschränkungen des Gesichtsfeldes unabhängig von der Lage des Restgesichtsfeldes so massiv sein können, dass sie sich bei der Beurteilung, ob gesetzliche Blindheit vorliegt, auswirken. Allerdings ist die Beschränkung auf sehr kleine Gesichtsfeldreste nicht vollständig plausibel. Eine nachvollziehbare medizinische und die Teilhabeeinschränkung berücksichtigende Erklärung für eine Grenzziehung bei einem Gesichtsfeldrest von 15 Grad kann hier nicht erkannt werden. Insbesondere sind keine Studien bekannt, die die getroffenen Behauptungen belegen. Entscheidend muss aus unserer Sicht vielmehr sein, ob funktionell eine Vergleichbarkeit eines Betroffenen mit dezentral verschobener Gesichtsfeldinsel mit einem Betroffenen vorliegt, der unter zentral verorteten Gesichtsfeldeinschränkungen gleicher Größe leidet. Wenn man die Begründung des Referentenentwurfs berücksichtigt, dass sich Gesichtsfelddefekte im unteren Sehfeld gravierender auf die Orientierungsfähigkeit auswirken, dann begründet diese unbestrittene Tatsache noch nicht, dass bei einem nach vom Gesichtsfeldschema aus gesehen oben hin asymmetrisch angeordneten Gesichtsfeld mit einem Durchmesser ab 16 Grad eine weniger starke funktionelle Beeinträchtigung und Teilhabeeinschränkung besteht, als wenn dieser Mensch eine symmetrisch um das Gesichtsfeldschema angeordnete Gesichtsfeldeinschränkung aufweist. Deshalb kann unter Zugrundelegung der Ausführungen in der Begründung zum Referentenentwurf aus unserer Sicht nicht allein die Lage der Gesichtsfeldinsel im Schemamittelpunkt maßgeblich sein, sondern es erscheint vielmehr bei den unter a) und b) beschriebenen Fallkonstellationen folgendes angezeigt: Blindheit ist auch anzunehmen, wenn die Gesichtsfelddefekte in ihren funktionellen Auswirkungen denjenigen vergleichbar sind, die bei einer symmetrischen Anordnung um das Gesichtsfeldschema entsprechen würden. Damit könnten auch asymmetrische Gesichtsfeldreste angemessen bewertet werden.

Zu Teil B Nr. 4.2.3

Bezüglich der Bewertung des Restgesichtsfeldes (vom Schemamittelpunkt oder vom Mittelpunkt des Gesichtsfeldrestes aus) wird auf die obigen Ausführungen sinngemäß verwiesen.

Fraglich erscheint überdies, welche Grundannahmen zu der vorgenommenen Fallgruppenbildung geführt haben. Einheitliche Bewertungsmaßstäbe gab es bislang in den versorgungsmedizinischen Grundsätzen nicht. Es fällt allerdings auf, dass es bislang auch keinen bundeseinheitlichen Konsens zu dieser Fragestellung gegeben zu haben scheint.

Darüber hinaus sind die Vorgaben nicht mit der ICD-10-GM-2018 kompatibel. Diese Feststellung begründet sich wie folgt: In einigen Bundesländern gibt es ein sog. „kleines Blindengeld“ für hochgradig sehbehinderte Menschen. Zum einen wird hier von hochgradig sehbehinderten, zum anderen von wesentlich in ihrer Sehfähigkeit eingeschränkten Menschen gesprochen. Gemeint ist aber die Zielgruppe, die in der VersmedV unter dem Begriff der „hochgradig sehbehinderten Menschen“ gefasst werden soll. Nun können zwar die landesrechtlichen Blindengeldregelungen keinen unmittelbaren Einfluss auf die Versorgungsverwaltung und die versorgungsmedizinischen Grundsätze entfalten. Gewisse Indizien lassen sich aber dennoch ableiten. Sieht man sich die Fallgruppen, die eine hochgradige Sehbehinderung bedingen sollen, nach den bayerischen und hessischen Vorgaben an, so fällt auf, dass die Vorgaben in Bayern strenger zu sein scheinen und das bayerische Modell nun Eingang in die VersmedV finden soll. Beispiele:

Hessen: Sehschärfe nicht über 0,1; Restgesichtsfeld überschreitet nicht 30 Grad – dagegen Bayern: Sehschärfe nicht über 0,08; Restgesichtsfeld 30 Grad

Hessen: Sehschärfe nicht über 0,2; Restgesichtsfeld 20 Grad – dagegen Bayern: Sehschärfe nicht über 0,16; Restgesichtsfeld 20 Grad

Hessen: Sehschärfe nicht über 0,3; Restgesichtsfeld 10 Grad – dagegen Bayern: Sehschärfe nicht über 0,25; Restgesichtsfeld 15 Grad

Damit stellt sich die Frage, unter Berücksichtigung welcher Maßstäbe die Fallgruppen für die VersmedV gebildet wurden. Eine nachvollziehbare Begründung kann dem Referentenentwurf jedenfalls nicht entnommen werden.

Weiterhin ist folgende Problematik festzustellen: In der Begründung zum Referentenentwurf heißt es „Der Begriff hochgradige Sehbehinderung wird in der ICD-10-GM synonym mit den Begriffen hochgradige Sehbeeinträchtigung oder Stufe 3 der Sehbeeinträchtigung verwendet.“ Anzumerken ist allerdings, dass keine Deckungsgleichheit in der Sache besteht, was in einigen Fallkonstellationen dazu führt, dass hochgradige Sehbehinderung im Sinne der VersmedV keine Sehbeeinträchtigung der Stufe III der ICD-10 bedingt und umgekehrt. Aus diesem Grund kann nicht ohne weiteres auf die ICD-10 als Begründungsmaßstab zurückgegriffen werden. In jedem Fall ist unserer Auffassung nach aber die ICD-10-GM als unterstes Netz einzubeziehen, so dass unabhängig vom bestehenden Visus bei einer Gesichtsfeldeinengung auf maximal 10 Grad zum Zentrum immer von hochgradiger Sehbehinderung auszugehen ist. Die Fallgruppe 4.2.3 Buchst. e) ist daher zu eng gefasst.

Zu Teil B Nr. 4.3

Festzuhalten ist zunächst, dass bezüglich der Sehschärfe weit häufiger eine Abrundung der GdB-Werte stattfindet, als eine Aufrundung.

Laut der Tabelle zu Teil B Nr. 4.3 wird bei einem vollständigen Verlust eines Auges und einer Sehschärfe von 0,8 auf dem anderen Auge nunmehr nur noch ein GDB von 20, statt - wie bisher - 30 zuerkannt. Dies erscheint aus unserer Sicht insofern problematisch, als uns aus der Praxis bekannt ist, dass Betroffene mit dieser Sehstörung häufig auf behinderungsbedingte Anpassungen am Arbeitsplatz angewiesen sind und auch Leistungen der spezialisierten Berufsförderungswerke in Anspruch nehmen. Dies gilt insbesondere für Personen, die einen Sehverlust auf einem Auge erst im Erwachsenenalter erleiden und daher dauerhafte Anpassungsschwierigkeiten haben. Hinzu kommt, dass bei Einäugigkeit bestimmte Berufe gar nicht mehr ausgeübt werden können. Zwar hängt der GdB nicht von den Teilhabemöglichkeiten am Arbeitsleben allein ab. Dennoch ist mit Blick auf die als Begründungsmaßstab vom Verordnungsgeber herangezogene ICF festzuhalten, dass die Teilhabemöglichkeiten am Arbeitsleben zumindest ein wesentlicher Baustein der ICF-Domänen darstellt. Vor diesem Hintergrund erscheinen funktionell Einäugige damit am Arbeitsplatz besonders schutzwürdig. Die Möglichkeit der Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen fiele nach dem jetzt vorgesehenen Entwurf jedoch weg, weil hierfür ein Mindest-GdB von 30 und nicht von 20 erforderlich ist. In der Begründung wird der Vergleich zu Betroffenen gezogen, die unter einem beidseitigen Sehverlust von 0,3 leiden. Sie könnten nur mit vergrößernden Sehhilfen lesen und nicht mehr Auto fahren. Wenn man solche Vergleiche anstellt, dann muss man auch andere Vergleiche anstellen, denn ebenfalls einen GdB von 20 erhält, bei wem eine Sehschärfe von 0,25 und 0,4 vorliegt. Auch diesen Personen ist straßenverkehrsrechtlich nicht mehr gestattet, eine Fahrerlaubnis zu erwerben. Damit wird nicht gefordert, letztere Gruppe ebenfalls in Bezug auf den GdB herabzustufen. Es zeigt sich aber, dass die Vergleichsgruppenbildung keineswegs vollends durchdacht zu sein scheint.

In der Begründung zum Referentenentwurf heißt es: „bei der Begutachtung ist die Entwicklung der physiologischen Sehschärfe zu berücksichtigen. Erst im Alter von vier bis sechs Jahren stellt die Sehschärfe von 1,0 (5/5) den alterstypischen Zustand dar.“ Das darf nicht dazu führen, dass jüngeren Kindern bei morphologisch erklärbaren Sehstörungen die Zuerkennung eines bestimmten GdB und in der Folge die Anerkennung der Voraussetzungen für die Zuerkennung eines bestimmten Merkzeichens mit der Folge der entsprechenden Nachteilsausgleiche erschwert oder gar verweigert wird. Insofern bedarf es einer entsprechenden Klarstellung im Begründungstext, denn entsprechend nachteilige Argumentationsmuster - insbesondere in Bezug auf die Zuerkennung des Merkzeichens „Bl“ - sind aus der Versorgungspraxis leider bekannt.

Zu Teil B Nr. 4.4

In Bezug auf Teil B Nr. 4.4.6 verweisen wir hinsichtlich der Bestimmung der Ausdehnung des Restgesichtsfeldes und der Beurteilung hinsichtlich der Teilhabeeinschränkung sinngemäß auf die obigen Ausführungen.

Zu Teil B Nr. 4.6

Es wird in Bezug auf Einschränkungen der Kontrastwahrnehmung und des Dämmerungssehens festgeschrieben, dass der GdB um 10 zu erhöhen ist, wenn der sich aus der Sehschärfeminderung für beide Augen ergebende GdB nicht mehr als 60 beträgt. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass neben der Herabsetzung der Sehschärfe bei der Bewertung nunmehr auch Störungen des Kontrastsehens und des Dämmerungssehens berücksichtigt werden. Allerdings kann hier nicht nachvollzogen werden, weshalb eine Erhöhung des GdB um 10 nur bis zu einem GdB von maximal 60 für die Sehschärfeminderung greifen soll. Für diese Differenzierung gibt es aus unserer Sicht keine nachvollziehbare medizinische Begründung und auch mit Blick auf die Einschränkungen der Teilhabefähigkeit ist eine solche Herangehensweise nicht zu erklären. Daher sollte aus unserer Sicht im Falle von erheblichen Einschränkungen des Kontrast- und Dämmerungssehens unabhängig vom für die Sehschärfe und Gesichtsfeld ermittelten GdB eine Erhöhung um 10 möglich sein.

25. September 2018