DBSV-Stellungnahme zur geplanten Fortschreibung der Festbeträge für Sehhilfen

Der DBSV übt massive Kritik an der vom GKV-Spitzenverband geplanten Fortschreibung der Festbeträge für Sehhilfen. Eine bedarfsgerechte und gleichzeitig zuzahlungsfreie Versorgung sieht der Verband mit den vorgesehenen Festbeträgen als nicht gewährleistet an, insbesondere für Menschen mit schweren Sehbeeinträchtigungen und komplexen Versorgungsbedarfen.

 

Die Festbeträge sind so festzusetzen, dass sie eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche sowie in der Qualität gesicherte Versorgung gewährleisten. Sie stellen eine besondere Ausprägung des Wirtschaftlichkeitsgebots dar, legitimieren aber nicht dazu, das Sachleistungsprinzip faktisch auszuhebeln. Standard muss es also sein, dass gesetzlich Krankenversicherte unter Berücksichtigung ihres Wunsch- und Wahlrechts zum festgesetzten Festbetrag zuzahlungsfrei versorgt werden können.

Vor diesem Hintergrund hält der DBSV die vorgesehenen Festbeträge insbesondere für die Versorgung von Menschen mit schweren Sehbeeinträchtigungen und komplexen Versorgungsbedarfen für absolut unzureichend. Eine zuzahlungsfreie Versorgung mit medizinisch notwendigen Sehhilfen ist mit den vorgesehenen Festbeträgen für viele Versicherte nicht möglich.

Generelle Anmerkungen

Seit der letzten Festbetragsfestsetzung im Jahr 2008 sind mittlerweile 12 Jahre vergangen. Die Erhöhung des Verbraucherpreisindexes von 2008 bis 2020 beträgt circa 15 Prozent. Diese Preissteigerung betrifft auch die Versorgung mit Sehhilfen. Allein schon aus diesem Grund wäre eine deutliche Anhebung der Festbeträge zu erwarten gewesen. Dass Festbeträge indes teilweise sogar abgesenkt werden sollen (z. B. für Standlupen mit Beleuchtung oder für bestimmte Prismen) kann damit nur verwundern. Selbst wenn ggf. die Materialkosten für einzelne Produkte gesunken sein sollten, so sind zumindest beim Dienstleistungsanteil allein schon wegen der Personalkostensteigerungen höhere Beträge anzusetzen.

Seit Jahren gehen beim DBSV Schilderungen und Beschwerden zu den Festbetragsregelungen für Sehhilfen ein. Eine Versorgung zum Festbetrag wird selten angeboten. Versicherte erhalten oft auch von den Krankenkassen keine Auskünfte darüber, wie eine zuzahlungsfreie Versorgung erfolgen kann. Viele, die sich vor einer gerichtlichen Auseinandersetzung scheuen, berichten von Zuzahlungen im höheren dreistelligen Bereich, bei hoher Myopie bis zu vierstelligen Beträgen, und zwar nicht wegen einer freiwillig gewählten Sonderausstattung, sondern schlicht, weil mit den Festbeträgen keine adäquate Versorgung möglich ist.

Der DBSV stellt Festbetragsregelungen für Sehhilfen nicht gänzlich in Frage. Eine Ausnahme bilden Sehhilfen, deren Abgabe mit einem hohen Beratungs- und Dienstleistungsanteil verbunden sind. Der DBSV erwartet aber, dass im Rahmen des Sachleistungsprinzips für alle anspruchsberechtigten gesetzlich Krankenversicherten eine zuzahlungsfreie Versorgung mit Sehhilfen möglich ist und bleibt. Dies gilt umso mehr, als sozial benachteiligte Personen auch keinen nachrangigen Leistungserbringer haben, der die notwendige Versorgung finanziell stützen würde. Vor diesem Hintergrund bedarf es dringend einer grundlegenden Überarbeitung des vorliegenden Entwurfs.

Kritik am eingesetzten Kalkulationsschema

Das zur Ermittlung der aktuell geplanten Festbeträge angewandte Kalkulationsschema ist aus Sicht des DBSV intransparent und zumindest teilweise ungeeignet, um zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen.

Ermittlung des unteren Preisdrittels

Den Berechnungen wird die Obergrenze des ungewichteten unteren Preisdrittels der Einkaufspreise zugrunde gelegt. Aus Sicht des DBSV wäre an dieser Stelle transparent zu machen, welche Einkaufspreise konkret ermittelt worden sind. Ansonsten lassen sich die Beträge überhaupt nicht bewerten. Sollte aus wettbewerblichen Gründen nicht jeder Preis offengelegt werden können, so wäre zumindest eine Liste der Anbieter vorzulegen, deren Produkte Basis der Kalkulation des Festbetrages bilden. Diese Transparenz würde auch Versicherten endlich die Möglichkeit geben, bei ihren Augenoptikern gezielt nach Produkten zum Festpreis nachzusuchen. Es kann nicht sein, dass die Ansprüche der Versicherten auf die Festbeträge begrenzt werden, es ihnen aber faktisch unmöglich gemacht wird, sich in diesem Rahmen eine Versorgung zugänglich zu machen.

Der DBSV stellt zudem in Frage, dass die Preisbildung unter Berücksichtigung der Versorgungsrealität diskriminierungsfrei erfolgte. Die Problematik soll anhand des folgenden Beispiels erläutert werden: Für Kantenfilter werden einheitliche Zuschläge pro Glas festgesetzt. Versicherte, die Kantenfiltergläser mit einem relativ geringem Refraktionsausgleich benötigen, könnten vermutlich auf alle im unteren Preisdrittel anbietenden Firmen zurückgreifen, um versorgt zu werden. Für Gläserkorrektionen mit höheren Refraktionswerten hingegen bieten nicht alle Hersteller überhaupt einen Kantenfilter an, sicher nicht zuletzt wegen des insoweit kleineren potentiellen Kundenkreises. Insgesamt ist damit zu erwarten, dass sich auch das untere Preisdrittel für den genannten Versichertenkreis verschiebt, d. h., die Versorgung höhere Kosten verursacht. Menschen mit einem komplexeren Bedarf werden so durch einen zu geringen Aufschlag für Kantenfilter strukturell benachteiligt. Es ist nicht ersichtlich, dass derartige Überlegungen und Berechnungen in die Festbetragsbildung eingeflossen wären.

Kalkulierte Arbeitszeit und Entlohnung

Der DBSV hält die kalkulierte Arbeitszeit für mindestens einige Versorgungen für vollkommen unzureichend, ja utopisch. Exemplarisch soll dies erneut anhand der Versorgung mit Kantenfiltern verdeutlicht werden, wobei die gleichen Problemstellungen auch für andere Sehhilfen bestehen: Der Festbetrag für das Brillenglas schließt die Kosten für alle anfallenden Arbeiten des Augenoptikers, insbesondere bei der Auswahl, der Bearbeitung, der Anpassung, der Einarbeitung der Brillengläser in das Brillengestell, der Abgabe, der Kontrolle, der Verwaltung und der Dokumentation ein. Dass all das bei Kantenfiltern innerhalb von 15 Minuten erfolgen soll, ist komplett realitätsfremd, ja unmöglich. Erfahrungen aus all unseren Low-Vision-Beratungsstellen zeigen, dass allein die Austestung von Kantenfiltern durch hochgradig sehbehinderte Menschen deutlich länger in Anspruch nimmt. Teilweise sind Mehrfacherprobungen von Gläsern unterschiedlicher Hersteller bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen nötig, um die geeignete Versorgung festzulegen. Es bedarf daher einer deutlichen Erhöhung des eingepreisten Dienstleistungsanteils.

Zumindest bei Sehhilfenanpassungen für hochgradig sehbehinderte Menschen sind zudem Spezialkenntnisse bei Augenoptikern erforderlich, um den relativ kleinen Versichertenkreis bedarfsgerecht und qualitätsgesichert versorgen zu können. Nicht ohne Grund gibt es innerhalb der Berufsgruppe der Augenoptikerinnen und Augenoptiker spezielle Low-Vision-Experten. Hier auf den Durchschnittsstundenlohn eines Meisters und eines Gesellen anzusetzen, wird der Aufgabe und Qualifikation nicht gerecht. Dem DBSV geht es dabei schlicht darum, dass hochgradig sehbehinderte Menschen eine bedarfsgerechte Versorgung durch adäquat ausgebildetes Personal erhalten, dessen Leistung dann auch angemessen honoriert wird. Passiert das nicht, sind die Versicherten die Leidtragenden. Wird die Qualifikation hier nicht bei der Preisbildung berücksichtigt, hat das wiederum zur Folge, dass zum Festbetrag nicht versorgt werden kann. Die Mehrkosten werden den Versicherten in Rechnung gestellt.

Keine Verfügbarkeit von hochbrechenden Gläsern für eine zuzahlungsfreie Versorgung

Hochbrechende Gläser werden ab bestimmten Refraktionswerten offenbar nur mit besonderer Härtung und Entspiegelung angeboten. Das hat keine kosmetischen Gründe, sondern liegt an der Materialbeschaffenheit der Gläser und daran, dass ohne Entspiegelung ab einer bestimmten Refraktion das Sehvermögen beeinträchtigt wird. In diesen begründeten Fällen muss es möglich sein, dass Versicherte die Gläser voll finanziert bekommen, denn es gibt für sie objektiv keine Möglichkeit, eine medizinisch notwendige Versorgung anderweitig zu erhalten.

Beispiele für nicht nachzuvollziehende Festbeträge

Für bestimmte Sehhilfen möchte der DBSV die Nichtnachvollziehbarkeit der Festbeträge exemplarisch erläutern. Das heißt nicht, dass es nur für die beschriebenen Fälle einen Handlungsbedarf gibt. Vielmehr erwarten wir, dass die gesamte Festbetragsbildung unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen noch einmal kritisch überprüft und angepasst wird. Mit einer punktuellen Abänderung einzelner Positionen ist es nicht getan.

Positions-Nr. 25.21.01.0001 Einstärkengläser sphärisch bis 6 dpt und cyl bis 2 dpt

Der Festbetrag beträgt 15,44 €. Es wird eine Arbeitszeit von 11 Minuten zu einem Preis von 8,45 € veranschlagt. Der Materialpreis wird damit offenbar mit 6,99 € kalkuliert.

Bei einem mineralischen Glas lag der niedrigste vom DBSV ermittelte Preis bei 19,00 €, bei Kunststoffgläsern bei 19,90 €.

Wie hier zum Festbetrag versorgt werden soll, erschließt sich nicht.

Positions-Nr. 25.21.15.0001 Zuschlag für Lichtschutzgläser

Der Festbetrag beträgt 7,04 €. Auch hier liegt der Materialpreis schon oberhalb des Festbetrages. Hinzu kommt der Dienstleistungsanteil.

Lentikulargläser

Lentikulargläser sind nur noch als Einstärken-Lentikulargläser für 75,76 € ausgewiesen. Bislang waren Lentikulargläser auch als Zweistärkengläser ausgepreist.

Zuschläge für Prismen

Bislang gab es eine Aufteilung in Beträge der Prismen von 3 cm/m, 6 cm/m, 10 cm/m. Vorgesehen ist nur noch ein Zuschlag für alle Prismen bis 15 cm/m in Höhe von 14,00 €. Das bedeutet, dass der Zuschlag für 3 cm/m höher, für die weiteren Prismen geringer als bisher ist. Das benachteiligt erneut Menschen mit schwereren Sehbeeinträchtigungen.

Positions-Nr. 25.21.15.1001 und 25.21.15.2001 und 25.21.15.3001 Zuschlag für Kantenfilter

Die Festbeträge betragen 24,53 € bzw. 28,43 €. Es wird eine Arbeitszeit von 15 Minuten zu einem Preis von 11,53 € veranschlagt. Das bedeutet, dass die Materialpreise mit 13 € bzw. 16,93 € kalkuliert sind.

Die ermittelten Materialpreise liegen mit über 60 € bzw. 80 € deutlich über dem Festbetrag. Hinzu kommt der extrem hohe Dienstleistungsanteil des Augenoptikers, der oben bereits als unzureichend kalkuliert bewertet wurde.

Hier liegt die Spanne zwischen dem objektiv Notwendigem und dem festgesetzten Festbetrag extrem weit auseinander.

Lupen

Die Festbeträge für Lupen werden Großteils erhöht. Ausnahme: Stand- und Klemmlupe ohne Beleuchtung (bislang 71,46 €, künftig 46,12 €) und Stand- und Klemmlupe mit Beleuchtung (bislang 71,46 €, künftig 55,12 €). Das ist für den DBSV nicht erklärbar und entspricht auch nicht den bekannten Preisen. Selbst wenn es Preisreduktionen bei den Materialkosten gegeben haben sollte, so hat sich doch der Anteil für die Dienstleistungen allein durch Lohnsteigerungen erhöht.

Festbeträge für therapeutische Kontaktlinsen

Für therapeutische Kontaktlinsen (Keratokonus/Keratoplastik und Sklerallinsen) werden erstmals Festbeträge festgesetzt. Der DBSV zieht insoweit in Zweifel, dass sich dieser Bereich überhaupt für eine Festbetragsbildung eignet, denn der Preis resultiert in hohem Maße aus dem individuell erforderlichen, hoch komplexen Dienstleistungsanteil. Hinzu kommt, dass sich die Versorgung – auch bezogen auf das eingesetzte Material – an den medizinischen Erfordernissen ausrichten muss (Verträglichkeit, pathologischer Befund, Heilungsprozess etc.). Das heißt, das Ziel von Festbeträgen, den Wettbewerb zu steigern, um die Preise zu senken, kann hier gar nicht erreicht werden. Da es in diesen Fällen meistens nur eine sachgerechte Versorgung gibt, die dem Problem angemessen ist, besteht schlicht keine Wahl zwischen einer günstigeren, weniger komfortablen und einer teureren, komfortablen Versorgung. Die Anzahl der Versicherten mit einem Versorgungsbedarf ist zudem vergleichsweise klein, die Gruppe der Versicherten mit ihren medizinisch-therapeutischen Bedarfen gleichzeitig jedoch höchst heterogen. Vor diesem Hintergrund sollte eine Versorgung ohne Festbetrag weiterhin erfolgen, um den individuellen Bedarfen der Versicherten angemessen und qualitätsgesichert Rechnung tragen zu können.

Vergütung von Beratung

In Bezug auf die Beratung und Erprobung von Sehhilfen ist Folgendes leistungsrechtlich zu klären: Eine individuelle und bedarfsgerechte Erprobung und Anpassung von Sehhilfen ist zwingend notwendig, gleichzeitig aber aufwendig und das Prozedere erfordert viel Zeit. Das ist unbestreitbar mit Kosten verbunden. Dementsprechend ist zu klären, wie die Beratung und Erprobung finanziell vergütet wird. Problematisch ist aus unserer Sicht, dass die sehr personalaufwendigen und damit kostenintensiven Leistungen bislang über den Festbetrag des jeweiligen Hilfsmittels abgegolten werden. Das hat zur Konsequenz, dass Versicherte die Beratung und Erprobung wegen des zu geringen Festbetrages separat in Rechnung gestellt bekommen.

Der DBSV plädiert mit Nachdruck dafür, dass Beratung und Erprobung zumindest für bestimmte Sehhilfen unabhängig vom „Verkaufsinteresse“ des Leistungserbringers erbracht und finanziert werden müssen. Abrechnungsberechtigt müssen auch unabhängige Beratungsstellen aus dem Low-Vision-Bereich sein. Ein solches Vorgehen dürfte sich letztlich auch für die Krankenkassen positiv auswirken, weil Fehlversorgungen vorgebeugt wird.

Fazit

Eine bedarfsgerechte Versorgung der Versicherten ist mit den vorgesehenen Festbeträgen nicht gewährleistet. Insbesondere hochgradig sehbehinderte Menschen und Menschen, die eine komplexere Versorgung benötigen, können nicht zuzahlungsfrei versorgt werden. Die geplante Festsetzung der Festbeträge widerspricht damit auch der Intention des Heil- und Hilfsmittelversorgungsstärkungsgesetzes (HHVG), das den Zugang zu Sehhilfen für diejenigen Versicherten verbessern wollte, die aus medizinischen Gründen unbedingt auf Sehhilfen angewiesen sind, um teilhaben zu können.