Forderungen des DBSV zur Bundestagswahl 2017

Am 24.09.2017 ist Bundestagswahl. Aus diesem Anlass formuliert der Verwaltungsrat des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) seine Erwartungen an die künftige Bundesregierung und die Abgeordneten des Deutschen Bundestages.

Die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen in allen Lebensbereichen muss handlungsleitend für das politische Wirken sein. Die in der UN-Behindertenrechtskonvention konkretisierten menschenrechtlichen Garantien sind umfassend zu berücksichtigen und bestehende Benachteiligungen abzubauen – durch Gesetzgebung, Kriterien für Förderprogramme und sonstige Maßnahmen.

Selbstbestimmte Teilhabe braucht echte Nachteilsausgleiche!

Behinderungsbedingte Unterstützungsleistungen gleichen Nachteile aus, um für Chancengleichheit zu sorgen. Deshalb fordern wir:

  • Teilhabeleistungen müssen allen behinderten Menschen bei Bedarf offenstehen. Einschränkungen beim leistungsberechtigten Personenkreis, wie sie für die Eingliederungshilfe noch immer mit der so genannten 5 aus 9-Regelung drohen, darf es weder im Recht noch in der Praxis geben. Bestehende Lücken im Teilhaberecht sind zu schließen, um selbstbestimmt leben, alle Bildungsangebote wahrnehmen, die eigene Berufsbiografie gestalten, an Freizeit, Kultur und Sport teilnehmen oder sich ehrenamtlich/politisch engagieren zu können. Leistungskürzungen und Verschlechterungen, etwa im Zusammenhang mit der Reform des sozialen Entschädigungsrechts oder der „inklusiven Lösung im SGB VIII“, darf es nicht geben.
  • Alle Teilhabeleistungen müssen ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen erbracht werden. Entgegenstehende Regelungen, insbesondere der Eingliederungshilfe und Blindenhilfe, sind aufzuheben. Wenn dies aktuell nicht erreichbar ist, müssen zumindest in einem Zwischenschritt die für die Eingliederungshilfe geltenden Verbesserungen auch für die Blindenhilfe gem. § 72 SGB XII gelten.
  • Um die Selbstbestimmung blinder Menschen zu stärken und gleiche Lebensbedingungen in Deutschland herzustellen, muss ein bundeseinheitliches gerechtes, einkommens- und vermögensunabhängiges Blindengeld eingeführt werden. Ebenso ist ein angemessener Nachteilsausgleich für hochgradig sehbehinderte und taubblinde Menschen zu schaffen.

Barrierefreiheit muss zum Standard werden!

Barrierefreiheit muss wie der Brandschutz ein Muss werden – egal ob im Internet, im öffentlichen Raum, an Bankautomaten, beim elektronischen Zahlungsverkehr, bei der Gesundheitsversorgung, bei Haushaltsgeräten, Film und Fernsehen, in der Kita, der Schule, am Arbeitsplatz, im Seniorenheim oder bei der Bundestagswahl. Gut lesbare Schrift und kontrastreiche Gestaltung oder barrierefreie Apps und Internetauftritte helfen nicht nur blinden und sehbehinderten Menschen, sondern auch der wachsenden Zahl älterer Menschen mit Sehproblemen. Der digitale Wandel kann neue Teilhabechancen eröffnen, wenn der barrierefreie Zugang von Anfang an mitgedacht und konsequent umgesetzt wird.

Die Politik darf nicht länger auf Freiwilligkeit setzen, denn fehlende Barrierefreiheit bedeutet Diskriminierung und Exklusion.

  • Wir fordern eine Initiative „Barrierefreies Deutschland“. Es ist überfällig, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die sowohl die öffentliche Hand als auch private Anbieter zur Barrierefreiheit von für die Öffentlichkeit bestimmten Gütern und Dienstleistungen verpflichten. Wird der Gesetzgeber nicht schnell aktiv, werden blinde und sehbehinderte Menschen in einem nicht gekannten Ausmaß durch Touchscreens und andere rein visuell wahrnehmbare Bedienelemente sowie unzugängliche Internetangebote aus der Gesellschaft ausgeschlossen.
  • Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen (EU-RL 2016/2102) muss Deutschland die in den Erwägungsgründen formulierte Ermutigung ernst nehmen und auch private Stellen in die Pflicht nehmen, die ihre Einrichtungen und Dienstleistungen für die Öffentlichkeit bereitstellen.
  • Die Politik darf nicht das Inkrafttreten der europarechtlichen Vorgaben zur Elektromobilität (EU-Verordnung 540/2014) im Jahr 2021 abwarten. Damit blinde und sehbehinderte Menschen weiterhin sicher am Straßenverkehr teilnehmen können und nicht durch geräuscharme Fahrzeuge gefährdet werden, muss bei der Förderung der Elektromobilität und bei der Anschaffung von öffentlichen Verkehrsmitteln schon heute der Einbau von akustischen Warnsystemen (AVAS) Pflicht werden.

Schutz vor Diskriminierung stärken!

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das seit 2006 den Schutz vor Diskriminierung im Zivilrecht regelt, bedarf dringend einer Novellierung. Barrierefreiheit muss zum Standard werden, fehlende Barrierefreiheit ist zu sanktionieren. Das Konzept der angemessenen Vorkehrungen und damit der Anspruch auf Gleichberechtigung im Individualfall muss gestärkt werden. Das heißt, dass die Versagung angemessener Vorkehrungen als Diskriminierungstatbestand anzuerkennen ist und bisher zulässige Rechtfertigungsgründe für eine ungleiche Behandlung eingeschränkt werden müssen. Darüber hinaus müssen die Rechte aus dem AGG verbandsklagefähig werden.

Teilhabe am Arbeitsleben verbessern!

Noch immer ist in Deutschland nur rund ein Drittel der blinden und sehbehinderten Menschen im erwerbsfähigen Alter berufstätig. Die Chancen auf Teilhabe am Arbeitsmarkt sind dringend zu verbessern.

  • Langzeitarbeitslose behinderte Menschen dürfen nicht länger allein durch die JobCenter beraten und unterstützt werden. Dort fehlt es häufig an der notwendigen Fachkompetenz und der Finanzausstattung für Rehaleistungen. Die Zuständigkeit ist auf die Arbeitsagenturen zu übertragen, soweit die Bundesagentur für Arbeit zuständiger Rehabilitationsträger ist.
  • Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und die begleitenden Hilfen im Arbeitsleben, etwa die Regelungen zur Arbeitsassistenz, müssen modernen Anforderungen angepasst werden. Lineare Berufsbiografien sind zur Ausnahme geworden. Berufliche Weiterbildungen und Umorientierungen, die Ausübung mehrerer Jobs, flexible Übertritte ins Rentenalter – all dies erfordert eine Weiterentwicklung der Teilhabeleistungen, um sehbehinderten und blinden Menschen gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu sichern.
  • Die Berufsbilder Physiotherapie und Masseur/medizinischer Bademeister bieten blinden und sehbehinderten Menschen traditionell gute Berufsperspektiven. Bei der Novellierung der gesetzlichen Regelungen für die Ausbildung von Masseuren und Physiotherapeuten ist sicherzustellen, dass der Zugang für blinde und sehbehinderte Menschen im bisherigen Umfang gewährleistet bleibt.

Deutschland muss Motor für mehr Teilhabe in Europa werden!

Fortschritte für mehr Teilhabe sind auch auf europäischer Ebene zu erreichen. Dafür muss Deutschland Schrittmacher werden.

  • Eine EU-weit gültige Richtlinie zu barrierefreien Gütern und Dienstleistungen (European Accessibility Act – EAA) mit übergreifend geltenden Standards für Barrierefreiheit muss zeitnah verabschiedet werden.
  • Der Vertrag von Marrakesch, der Ausnahmen im Urheberrecht zulässt, um blinden, seh- und lesebehinderten Menschen den Literaturzugang zu sichern, muss umgehend ratifiziert und ohne zusätzliche organisatorische und finanzielle Hürden in europäisches und nationales Recht umgesetzt werden. Wir erwarten insbesondere, dass Deutschland bei der Umsetzung der europäischen Vorgaben auf Ausgleichsabgaben verzichtet, die bisher bei der Produktion barrierefreier Fassungen vorhandener Werke erhoben werden.

Die Zeit ist reif!

Mit dem Bundesteilhabegesetz und weiteren Gesetzen der zurückliegenden Wahlperiode wurden bei Weitem nicht die notwendigen Veränderungen zugunsten behinderter Menschen erreicht. Daher besteht nach wie vor großer und dringender Handlungsbedarf in der Behindertenpolitik. Wir werden uns weiterhin mit unserer Expertise und dem nötigen Nachdruck dafür einsetzen, dass aus der formellen Gleichberechtigung behinderter Menschen echte Gleichstellung wird.

Beschlossen vom Verwaltungsrat des DBSV in Hamburg am 19. Mai 2017