Erste Gentherapie einer schweren erblichen Netzhautdegeneration steht in Deutschland vor der Tür
Für einen sehr kleinen Teil der Menschen mit den Augenkrankheiten Leber´sche kongenitale Amaurose und Retinopathia pigmentosa gibt es seit November in Europa eine zugelassene Gentherapie („Luxturna®“). Morgen beginnt in Düsseldorf einer der größten Kongresse für Augenheilkunde. Anlässlich der „Augenärztlichen Akademie Deutschland“ beantwortet Prof. Dr. med. Birgit Lorenz, Direktorin der Klinik für Augenheilkunde in Gießen, die wichtigsten Fragen zur neuen Therapie.
„Im November 2018 hat die europäische Zulassungsbehörde EMA (European Medicines Agency) die gentherapeutische Behandlung von Patienten mit einer schweren erblichen Netzhautdegeneration zugelassen. Voraussetzung ist, dass die Netzhautdegeneration durch bestimmte Mutationen im RPE65 Gen verursacht wurde. Die Erkrankung zeigt sich bei allen Betroffenen bereits im frühen Kindesalter mit einer extrem ausgeprägten Nachtblindheit. Zu einer deutlichen Einschränkung des Sehvermögens selbst kommt es oft erst im jungen Erwachsenenalter. Aber auch faktische Blindheit bei Kleinkindern ist möglich. Mit der positiven Entscheidung der EMA steht erstmals eine zugelassene gentherapeutische Behandlungsmöglichkeit für eine Form der Netzhautdegeneration zur Verfügung.
Wichtige Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang:
Was sind typische Symptome der Erkrankung?
Das Spektrum der Erkrankung reicht von schweren Beeinträchtigungen der Sehkraft im Kleinstkindalter bis hin zu milden Formen, die erst im Teenageralter zu selbst wahrgenommenen Einschränkungen führen. Typisch ist aber immer eine sehr frühe und sehr ausgeprägte Nachtblindheit. Für das Dämmerungs- und Nachtsehen sind spezialisierte Zellen im Auge zuständig, die Stäbchen. Die sogenannten Zapfen dagegen sind in erster Linie für das Farbsehen verantwortlich und verfügen nur über eine geringe Hellempfindlichkeit. Die Mutationen im RPE65 Gen führen zu einem Enzymdefekt, wodurch das Sehpigment in den Stäbchen nicht oder kaum zur Verfügung steht. Die sehr frühen Formen werden manchmal als Leber´sche kongenitale Amaurose bezeichnet, kurz LCA. Da das Gen das zweite war, das für Erkrankungen dieser Art diagnostiziert wurde, wird die Form auch als LCA2 bezeichnet. Viel typischer ist allerdings, dass die betroffenen Kinder zwar absolut nachtblind sind, aber ein messbares Sehvermögen aufweisen, was beispielsweise das Erlernen von Lesen und Schreiben ermöglicht. In seltenen Fällen ist das Sehvermögen sogar noch erheblich besser und verschlechtert sich erst mit ca. 18 bis 20 Jahren deutlich. Solche Patienten können als schwere frühkindliche Netzhautdegeneration (early onset severe retinal dystrophy EOSRD) oder auch als ‘autosomal rezessive Retinopathia pigmentosa’ diagnostiziert werden.
Wie viele Patienten kommen in Deutschland für eine Behandlung infrage?
Patienten mit krankheitsverursachenden Mutationen im RPE65 Gen sind bisher relativ selten diagnostiziert worden. In verschiedenen Studien – alle mit kleinen Fallzahlen – werden diese Mutationen in 3 bis 6 Prozent aller Fälle als ursächlich für LCA oder EOSRD gefunden. Da es auch Mutationen gibt, die nur ein milderes Erscheinungsbild hervorrufen, sind auch bestimmte Fälle von Retinopathia pigmentosa (RP) darauf zurückzuführen. Hier ist die Dunkelziffer noch höher. Schätzungsweise gibt es in Deutschland etwa 200 bis 300 Patienten mit dieser Erkrankung.
Wie weiß ich, ob ich für eine Therapie infrage komme?
Absolut notwendige Voraussetzung für diese Therapie ist die molekulargenetische Diagnostik im Blut. Da davon auszugehen ist, dass nicht alle Patienten mit einer erblichen Netzhautdegeneration – gerade bei länger zurückliegender Diagnose – molekulargenetisch untersucht worden sind, ist eine solche Diagnostik in einem dafür zugelassenen Labor empfehlenswert. Am besten sollte vorher eine gründliche Untersuchung bei einem Spezialisten für die Erkrankung stattfinden, da es Formen gibt, die bereits ohne molekulargenetische Diagnostik erkennen lassen, dass das Gen RPE65 nicht die Ursache für die Erkrankung sein kann.
Wenn die Diagnose gestellt ist, muss der Spezialist durch sehr eingehende Untersuchungen der Netzhaut und der Sehfunktionen (Sehschärfe, Gesichtsfeld) unter verschiedenen Beleuchtungsbedingungen feststellen, ob die Veränderungen noch nicht zu stark sind, was einen Therapieeffekt ausschließen würde. In Gießen sind derzeit ca. 25 Patienten bekannt, deren jeweilige Therapievoraussetzung aufgrund langjähriger Betreuung recht genau eingeschätzt werden kann.
Wirkungsweise der Therapie
Bei der zugelassenen Therapie handelt es sich um eine sogenannte Genadditionstherapie. Gesunde Genkopien werden unter die Netzhaut gespritzt, wo sie dann von der darunter liegenden Netzhautschicht, dem ‘retinalen Pigmentepithel’, aufgenommen und in den Zellkern eingeschleust werden. Dort setzen sie die Produktion des fehlenden Enzyms in Gang. Das setzt natürlich voraus, dass noch ausreichend lebensfähige Zellen vorhanden sind. Die Therapie hat zum Ziel, die fehlende Aktivität des Enzyms RPE65 im Pigmentepithel der Netzhaut wiederherzustellen. Das führt dann zur Reaktivierung des Kreislaufes, der das lichtempfindliche Sehpigment regeneriert. Dadurch werden die Stäbchen und Zapfen der Netzhaut wieder in die Lage versetzt, Lichtreize so umzuwandeln, dass sie im weiteren Sehvorgang verarbeitet werden können. Voraussetzung für einen Erfolg der Therapie ist daher nicht nur das Vorhandensein einer ausreichenden Zahl von Zellen im Pigmentepithel, sondern auch von lichtempfindlichen Zapfen und Stäbchen (zusammen ‘Photorezeptoren’ genannt). Da gerade die Photorezeptoren ohne Sehpigment verkümmern und absterben, gibt es ein Zeitfenster, in dem die Therapie durchgeführt werden muss. Der Verlust der notwendigen Zellen variiert bei den Patienten, so dass es keinen einheitlichen ‘Stichtag’ für die Behandlung gibt. Jeder Patient muss sich daher vor der Behandlung einer genauen klinischen Untersuchung unterziehen, erstens, damit der Krankheitsfortschritt beurteilt werden kann, und zweitens, um den therapeutischen Effekt im weiteren Verlauf verfolgen zu können.
Welche Untersuchungen werden durchgeführt?
Bei der klinischen Untersuchung wird zum einen die Netzhaut mittels der optischen Kohärenztomographie (SD-OCT) dargestellt und ausgemessen. Mit dieser Technik kann untersucht werden, ob noch Photorezeptoren in der Netzhaut im Bereich der Stelle des schärfsten Sehens oder auch außerhalb davon vorhanden sind. Zum anderen wird mittels psychophysischer Feindiagnostik die Funktion der Netzhaut bestimmt. Hierbei wird untersucht, ob es eine Restfunktion der Photorezeptoren gibt und ob zumindest die Zapfen noch eine Restfunktion aufweisen. Dazu wird die sogenannte ‘Full Field Stimulus Threshold (FST) Methode’ genutzt, die für Stäbchen und Zapfen den Schwellenwert der Reizbarkeit feststellt. Darüber hinaus wird bei milderen Fällen auch eine ‘Funduskontrollierte Perimetrie’ (Gesichtsfelduntersuchung bei gleichzeitiger bildhafter Abbildung der Netzhaut) durchgeführt und das Gesichtsfeld ausgemessen. Die Funktion der Netzhautmitte wird über die Bestimmung der Sehschärfe ermittelt (Visusprüfung).
Was kann ich als Patient von der Therapie erwarten?
Prinzipiell ist es aufgrund der unterschiedlichen Entwicklung der Erkrankung schwierig, den zu erwartenden Therapieerfolg generell abzuschätzen. Dieser ist von Patient zu Patient unterschiedlich. In Studien in den USA vor der jetzt erfolgten Zulassung, war der am konstantesten nachweisbare Effekt eine Verbesserung des Sehens bei ungünstigen Beleuchtungsbedingungen als Zeichen einer verbesserten Stäbchenfunktion. Diese Verbesserung wird von den bisher behandelten Patienten als durchaus hilfreiche und merkbare Verbesserung empfunden. Getestet werden kann dieser Effekt mit einem speziellen Aufbau, dem sogenannten ‘Mobility Parcours’, wo das Meistern einer Strecke unter unterschiedlichen Beleuchtungsbedingungen gemessen wird. Weniger klar ist der Effekt auf die Zapfenfunktion. Eine eindeutige Verbesserung der Sehschärfe bei gutem Licht war bisher eher fraglich.
Prinzipiell ist zu erwarten, dass Patienten mit einer noch besseren Funktion vor der Therapie einen größeren therapeutischen Effekt erleben werden. Die Zahl der bisher behandelten Patienten (31 Patienten der Phase-3-Studie in den USA vor der jetzt erfolgten Zulassung) ist für eine abschließende Beurteilung aber noch zu klein.
Welche Risiken und Nebenwirkungen sind von der Therapie zu erwarten?
Ernsthafte Nebenwirkungen sind in den bisherigen Studien als eher selten anzusehen. Es kann aufgrund der Injektion und einer damit einhergehenden vorübergehenden Abhebung der Netzhaut zu leichten Veränderungen der Netzhaut kommen oder auch zum Auftreten eines Netzhautloches. Darüber hinaus ist es möglich, dass es zu einer leichten Immunreaktion gegen das neue Protein oder das Einbringen des Proteins kommt, was aber mit einer entsprechenden Medikation behandelt werden kann. Am häufigsten wurde als Komplikation die Entwicklung einer Linsentrübung (Katarakt, grauer Star) beobachtet. Im Rahmen der Phase-3-Studie wurden im Beobachtungszeitraum von bis zu zwei Jahren in 17 Prozent der Fälle Linsentrübungen beobachtet, aber nur wenige waren so ausgeprägt, dass eine Operation notwendig wurde. Prinzipiell ist eine Kataraktoperation eine Standardoperation mit sehr guter Prognose.
Leitlinie zur Behandlung mit Luxturna®
Von den augenärztlichen Fachgesellschaften wurde eine Leitlinie für die Behandlung mit Luxturna® erstellt, die demnächst öffentlich gemacht werden wird. Sie enthält im Wesentlichen die oben aufgeführten Punkte. Therapiebegleitend wird von Novartis®, der Firma, die das Medikament vertreibt, eine Studie zur Erfassung möglicher Nebenwirkungen und des Therapieeffektes aufgelegt werden.
Wer übernimmt die Kosten für die Therapie?
Die Kosten für die Behandlung sind hoch. Allein das Medikament wird für beide Augen eines Patienten ca. 823.000 EUR kosten. Dazu kommen die Behandlungskosten der Therapie, die in der Regel in spezialisierten Zentren erfolgen wird. Der Antrag für diese neue Therapie wurde im Rahmen eines sogenannten NUB-Antrages gestellt (‘NUB’ steht für ‘Neue Untersuchungen und Behandlungen’). Der Antrag wurde bereits positiv entschieden. Die Verhandlung mit den Krankenkassen selbst erfolgt in den nächsten Wochen. Wenn die Behandlung von der jeweils zuständigen Krankenkasse genehmigt wird, dann werden die Kosten von ihr vollständig übernommen.
Wo in Deutschland werden in nächster Zeit Patienten behandelt?
Aktuell planen vier Zentren in Deutschland (Gießen, Tübingen, München und Bonn) zunächst ca. 15 Patienten in 2019 zu behandeln. Für diese Zahl wurde der NUB-Antrag gestellt. Es ist zu erwarten, dass in den Folgejahren bei gutem Effekt der Therapie wesentlich mehr Patienten behandelt werden.“
Autorin:
Prof. Dr. med. Birgit Lorenz, FEBO, FARVO
FÄ für Augenheilkunde, Ärztin für Medizinische Genetik
Direktorin der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde
Justus-Liebig-Universität Gießen
Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Gießen
https://www.ukgm.de/ugm_2/deu/ugi_aug/44449.html
Informationen zur RPE65 Gentherapie an der Augenklinik in Gießen inklusive einer umfangreichen Literaturliste unter:
https://www.ukgm.de/ugm_2/deu/ugi_aug/44449.html
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