GFUV-Position zu „Geschützten Kreuzungen“

Gemeinsamer Fachausschuss für Umwelt und Verkehr (GFUV) beim DBSV
Stand: 10.05.2023

Hintergrund

Besonders in den Innenstädten und Ballungsräumen erhöht sich die Dichte des Radverkehrs stetig. Damit einhergehend ist eine steigende Anzahl von schweren Unfällen zwischen Kraftfahrzeugen und Fahrrädern sowie ihnen gleichgestellten Fahrzeugen zu verzeichnen, oftmals mit Personenschäden und leider auch tödlichen Ausgängen. Einen besonders großen Anteil haben dabei Unfälle mit an Kreuzungen nach rechts abbiegenden LKW, deren Fahrer und Fahrerinnen, die sich von hinten rechts nähernden mit Vorrang geradeaus fahrenden Fahrräder im sogenannten „toten Winkel” nicht wahrgenommen haben.

Viele Kommunen sind bemüht, diese Risiken zu vermindern und Unfallschwerpunkte, insbesondere an Kreuzungen, zu entschärfen. Dieses Anliegen ist für den GFUV absolut nachvollziehbar.

„Geschützte Kreuzungen“ – Fokus Radverkehr

In Deutschland gibt es Bestrebungen, das Modell der sogenannten „Geschützten Kreuzung“ nach niederländischem Vorbild umzusetzen, um Unfällen vorzubeugen. Im Kern geht es dabei darum, den Radverkehr baulich und räumlich vom Autoverkehr zu trennen.

Dafür wird im Zufahrtsbereich zur Kreuzung die jeweilige Radspur mindestens 5 m nach rechts verschwenkt und somit von der Fahrbahn abgesetzt. Zwischen Radweg und Fahrbahn entsteht eine neue Wartefläche für den Fußverkehr auf welcher sich in der Regel auch die Lichtsignalanlage (LSA) zum Überqueren der Fahrbahn befindet.

Der an der Radweggabelung rechts abbiegende Radverkehr kann nunmehr gänzlich LSA-frei seine Fahrt fortsetzen.

Der geradeaus fahrende Radverkehr darf bis zur Kante der kreuzenden Straße vorfahren, ohne die Ampelregelung der Fahrbahn beachten zu müssen. Seine Aufstellfläche ist gegenüber dem Kraftfahrzeugverkehr weit vorgezogen. Autofahrende sollen durch beide Maßnahmen eine besonders gute Sicht auf die bei „Rot” schräg vor ihnen haltenden Radfahrenden erhalten. Die Sicherheit für den Radverkehr würde sich somit erhöhen.

„Geschützte Kreuzungen“ – Probleme für den Fußverkehr, insbesondere für blinde und sehbehinderte Menschen

Barrierefreie Umweltgestaltung – und dazu gehören auch Verkehrskreuzungen – ist für eine selbstbestimmte, eigenständige und gefahrlose Mobilität von Menschen mit Behinderung essenziell. Bei der Ausgestaltung von Verkehrskonzepten ist den Belangen von Menschen mit Behinderung Rechnung zu tragen, damit eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft möglich ist.

Aus Sicht des GFUV ist das Konzept der „Geschützten Kreuzung“ einseitig auf die Belange des Radverkehrs ausgerichtet. Weniger Priorität hat die sehr komplexe Situation für Fußgänger und Fußgängerinnen, die durch „Geschützte Kreuzungen” entsteht. Das Risiko, Unfallschäden zu erleiden, wird auf den Fußverkehr verlagert. Umso mehr gilt das für blinde und sehbehinderte Menschen. Sie können die zu ihrer Orientierung erforderlichen Informationen nicht oder nur sehr eingeschränkt visuell aufnehmen. Sie sind darauf angewiesen, sich die Informationen taktil über die Füße beziehungsweise den Blindenlangstock oder akustisch zu erschließen. Eine nonverbale Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmenden über Blickkontakt ist nicht möglich. Sie sind bei der Teilnahme am Straßenverkehr also besonders vulnerabel.

Daraus resultieren aus Sicht des GFUV bei der Nutzung „Geschützter Kreuzungen“ folgende Probleme:

  • Wenn Fußgänger und Fußgängerinnen vorher die Kreuzung in zwei Etappen überqueren konnten – Fahrbahn 1, Mittelinsel und Fahrbahn 2 – so sieht das neue Design die Querung für den Fußverkehr in vier Etappen vor, weil zusätzlich zwei Radwege zu überwinden sind. Um auf die Wartefläche bzw. den Gehweg zu gelangen, müssen zu Fuß Gehende den Radweg sicher überqueren.
  • Ein sich auf der Radspur nahezu geräuschlos näherndes Rad kann von blinden und sehbehinderten Menschen im Regelfall nicht rechtzeitig, weder visuell noch akustisch wahrgenommen werden. Blinde oder sehbehinderte Personen sind damit völlig der Reaktion und den Sicherheitsabwägungen der Radfahrenden ausgeliefert. Akustische Signale, wie zum Beispiel Klingeln, sind bei hohem Verkehrsaufkommen schlecht wahrzunehmen.
  • Nicht auszuschließen ist ebenfalls, dass zu Fuß Gehende die Situation an der Kreuzung falsch einschätzen und den Radweg aufgrund der „Grün” signalisierenden Fußgängerampel ohne besondere Aufmerksamkeit für die Radfahrenden queren.
  • Das für die Orientierung von blinden Menschen wichtige akustische Orientierungssignal der LSA muss gemäß DIN 32981 im Abstand von 5 m um den Signalgebermast hörbar sein. Bei der Gestaltung von „Geschützten Kreuzungen“ mit ausreichend breiten Radwegen und tiefen Wartebereichen kann dieses Kriterium oft nicht eingehalten werden. In der Folge ist die Wahrnehmung des akustischen Orientierungssignals auf dem Gehweg nicht mehr gegeben. Blinde und sehbehinderte Menschen können damit den LSA-Masten nicht sicher auffinden. Das Unfallrisiko steigt nochmals dramatisch.
  • Insbesondere zu Hauptverkehrszeiten kommt es unvermeidlich zu Begegnungen und Verzahnungen der aufeinandertreffenden Rad- und Fußverkehrsströme. Auf den Warteflächen besteht, abhängig von Platzangebot und Personenaufkommen Rückstau- und damit Unfallgefahr. Blinde und sehbehinderte Menschen können im Gedränge die Orientierung verlieren.
  • Nicht zuletzt verlängert sich die Passierzeit der Kreuzung, insbesondere bei Querung mehrerer Finger einer Kreuzung, erheblich. Es ergibt sich ein deutlicher Zeitverlust im Vergleich zum Passieren klassischer Kreuzungsvarianten.

Konflikte zwischen Fuß- und Radverkehr sind vorprogrammiert.

Eine Kreuzung, die die Überquerung mindestens zweier nicht zwingend gesicherter Radwege bei gleichzeitig erschwerter Auffindbarkeit des LSA-Masten auf der Zwischeninsel erfordert und außerdem Staugefahr auf den Warteinseln und deutlich längere Passierzeiten mit sich bringt, stellt eine so hohe Hürde für blinde und sehbehinderte Menschen dar, dass die Vermeidung solcher Kreuzungen durch viele Betroffene droht. Das bedeutet in der Konsequenz eine Einschränkung bis hin zum Verzicht auf eine eigenständige Mobilität in dem betreffenden Bereich. Blinde und sehbehinderte Menschen werden so von Teilhabe (Schul- oder Arbeitsweg, Erledigung von Besorgungen, Pflege sozialer Kontakte) durch Barrieren in der Umwelt ausgeschlossen beziehungsweise stark eingeschränkt.

Fazit

Der GFUV vertritt die Auffassung, dass bei der Umsetzung von „Geschützten Kreuzungen” ein möglicher Sicherheitsgewinn für den Radverkehr über einen eindeutigen Sicherheitsverlust für blinde, sehbehinderte, aber auch anderweitig beeinträchtigte Menschen gestellt wird. Er sieht die Einhaltung der Vorgaben zur Barrierefreiheit gefährdet. Daher lehnt der GFUV die Umsetzung „Geschützter Kreuzungen“ in dieser Form ab.