Blinden- und sehbehindertengerechte Ausgestaltung von Mischverkehrsflächen nach dem Konzept des „Shared Space“
GFUV-Position: Anforderungen für die blinden- und sehbehindertengerechte Ausgestaltung von Mischverkehrsflächen nach dem Konzept des „Shared Space“
Gemeinsamer Fachausschuss für Umwelt und Verkehr (GFUV) beim DBSV
Stand: 12.09.2022 (Aktualisierung und Überarbeitung eines gleichnamigen Anforderungskatalogs aus dem Jahr 2009)
Shared Space – ein Konzept mit erheblichen Problemen
Bei Shared Space – auch als Mischverkehrsfläche, niveaugleiche Verkehrsfläche, Verkehrsfläche mit weicher Separation oder Begegnungszone bezeichnet – handelt es sich um ein Gestaltungskonzept für bewohnte Bereiche, in denen Fußgänger, Radfahrer und Kraftfahrzeuge denselben Bereich nutzen, ohne dass die sonst übliche physische Abgrenzung zwischen Fahrbahn und Gehweg erfolgt. Zum Konzept des „Shared Spaces“ gehört das Entfernen oder Nicht-Bereitstellen von konventionellen Gestaltungsmerkmalen, die von blinden und sehbehinderten Menschen als Orientierungshilfen und zur Wegführung genutzt werden (z.B. Gehwege mit Bordsteinkanten, Verkehrszeichen und Lichtsignalanlagen). Dies kann die eigenständige Mobilität von Menschen mit Sehbeeinträchtigung, aber auch von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder Lernschwierigkeiten erheblich beschränken.
Zudem geht das Konzept des Shared Space davon aus, dass die gegenseitige Rücksichtnahmen und Kommunikation via Blickkontakt die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmenden gewährleistet. Nicht berücksichtigt bleibt dabei, dass blinde und sehbehinderte Menschen sowie auch Menschen mit Autismus eine Kommunikation via Blickkontakt nicht leisten können. Auch für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen kann dies zum Problem werden, da ihr Fokus eher auf der Kommunikation mit ihren Begleitpersonen (z. B. durch Lippenlesen) als auf dem Beobachten oder visuellen Verhandeln mit Radfahrern oder sonstigen Fahrern liegt (siehe DIN EN 17210).
Die DIN EN 17210 weist auf weitere Schwierigkeiten bei Shared Space hin, darunter bei der Nutzung von Taxi- und Busrampen sowie beim seitlichen Ausstieg aus Kleinbussen. Zudem können auch Kinder und Touristen Orientierungsschwierigkeiten haben.
Anforderungen an Shared Space
Die Barrierefreiheit des Raums und die Verkehrssicherheit aller Fußgänger müssen oberste Priorität haben.
Angesichts der geschilderten Probleme von Shared Space-Konzepten ist es unabdingbar, bei der Planung und Durchführung derartiger Bauvorhaben die Selbsthilfeorganisationen und ihre Fachleute frühzeitig einzubeziehen. Auch nach der Umsetzung von Shared-Space-Projekten müssen die Auswirkungen der Umgestaltung stets kritisch beobachtet, wissenschaftlich untersucht und evaluiert werden, um zu verhindern, dass die Mobilität von blinden und sehbehinderten Menschen erheblich eingeschränkt wird.
Bevorzugt von Fußgängern genutzte Bereiche müssen zu deren Schutz visuell und taktil kontrastreich von der bevorzugt befahrenen Fläche unterscheidbar sein.
Blinde und sehbehinderte Menschen benötigen visuell und taktil eindeutige Strukturen, die ihnen
- eine Durchquerung und Orientierung in Längsrichtung ermöglichen,
- bei einer Durchquerung in Längsrichtung die Sicherheit bieten, nicht unbeabsichtigt auf bevorzugt befahrene Bereiche zu geraten und
- eine Querung an auffindbaren Überquerungsstellen sicherstellen (siehe DIN 18040 Teil 3).
Erforderlich ist die Trennung der beiden Bereiche mittels einer visuell und taktil erkennbaren Linie, wie etwa eines mindestens 3 cm hohen und kontrastreich gestalteten Bordsteins. Derartige Bordsteinkanten sind insbesondere auch für die Arbeit des Blindenführhundes von besonderer Wichtigkeit.
Wo die gebauten Strukturen für die Orientierung und Sicherheit nicht genügen, müssen zu beiden Seiten der Verkehrswege taktile und visuell kontrastreiche Leitstreifen aus Bodenindikatoren eingebaut werden (siehe DIN 32984).
Ein Freiraum von mindestens 60 cm beidseitig des Leitstreifens beziehungsweise bevorzugt von Fußgängern benutzte Hauptwegebeziehungen müssen frei von Hindernissen sein. Straßenmöblierungen müssen taktil mit Blindenlangstock erfassbar und visuell ausreichend gekennzeichnet sein.
Markierte Überquerungsstellen müssen überall dort eingerichtet werden, wo bei einmündenden Straßen, wichtigen öffentlichen Gebäuden und Haltestellen des ÖPNV die optimale Stelle zum Überqueren für blinde und sehbehinderte Menschen angezeigt werden muss.
Die eindeutige Erkennbarkeit und Auffindbarkeit von Überquerungsstellen mit gemeinsamer Bordhöhe von 3 cm oder mit differenzierter Bordhöhe gemäß DIN 32984 (in Verbindung mit DIN 18040-3) muss visuell und taktil durch Bodenindikatoren gewährleistet sein.
Gesicherte Überquerungsstellen, wie zum Beispiel Zebrastreifen, müssen dort eingerichtet werden, wo ein besonderes Schutzbedürfnis besteht, wie etwa am Beginn und Ende des Mischbereichs sowie an Kreisverkehrsplätzen.
Der ruhende Verkehr darf die Nutzbarkeit von Wegebeziehungen sowie taktile und visuell kontrastierenden Strukturen nicht einschränken (siehe DIN 18040-3). Er ist daher möglichst aus den unmittelbaren Begegnungsflächen auszuschließen. Halten, Parken und Anliefern darf nur auf ausdrücklich ausgewiesenen Flächen zulässig sein. Die Leitlinien, Bodenindikatoren und Überquerungsstellen müssen immer freigehalten werden. Aufgrund dieser unverzichtbaren Maßnahmen für Orientierung und Sicherheit blinder und sehbehinderter Fußgänger*innen, vertritt der GFUV den Standpunkt, dass Zuwiderhandeln angemessen sanktioniert werden muss.
Hinsichtlich dieser Anforderungen sollte eine einheitliche Gestaltung angestrebt werden, um die Orientierung für blinde und sehbehinderte Menschen zu unterstützen.
Relevante Normen
- DIN 18040 Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen – Teil 3: Öffentlicher Verkehrs- und Freiraum (2014)
- DIN 32984 Bodenindikatoren im öffentlichen Raum (2020)
- DIN EN 17210 Barrierefreiheit und Nutzbarkeit der gebauten Umgebung — Funktionale Anforderungen (2021)