Blindenfeindlich und inakzeptabel

Berlin – In einem Offenen Brief kritisiert der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband den Entwurf des Gesetzes zur Umsetzung der Marrakesch-Richtlinie über einen verbesserten Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken zugunsten von Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung (BT-Drs. 19/3071).

Gestern tagte der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Unter anderem auf der Tagesordnung: Das deutsche Gesetz zur Umsetzung des sogenannten „Marrakesch-Vertrages“. Es geht um die barrierefreie Aufbereitung und Verbreitung von Büchern und Zeitschriften. Der Ausschuss setzte eine Anhörung für den 8. Oktober an. Nur drei Tage später soll das Gesetz beschlossen werden – zu wenig Zeit für die umfassenden Änderungen, die im Gesetzentwurf noch nötig sind. Deshalb schlägt der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband bereits jetzt in einem offenen Brief Alarm.

Offener Brief

An den

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Ausschuss für Arbeit und Soziales

Berlin, 27. September 2018

Blinde, seh- und lesebehinderte Menschen müssen Zugang zu denselben Büchern haben, die andere Menschen lesen können. Im September vergangenen Jahres hat die EU eine Richtlinie zur Umsetzung des Marrakesch-Vertrages, des 2014 geschlossenen völkerrechtlichen Übereinkommens, das die barrierefreie Aufbereitung und Verbreitung von Büchern und Zeitschriften regelt, verabschiedet. Voraussichtlich am 11.10.2018 steht im Bundestag die Verabschiedung eines Gesetzes zur Umsetzung der Marrakesch-Richtlinie über einen verbesserten Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken zugunsten von Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung (BT-Drs. 19/3071) an.

Der bislang vorliegende Entwurf ist jedoch inakzeptabel, weil er das Ziel des Marrakesch-Vertrages konterkariert. Die internationale Bibliotheksvereinigung (International Federation of Library Associations and Institutions - IFLA) kommt in ihrer jüngsten Veröffentlichung sogar zu dem Ergebnis, dass Deutschland die blindenfeindlichste Umsetzung Europas plant.

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband, Spitzenverband der blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland, fordert mit Nachdruck, dass es dazu nicht kommt. Vielmehr müssen bei der Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben die Ziele des Marrakesch-Vertrages oberste Priorität bekommen. Das heißt, der Zugang zu Literatur für blinde, sehbehinderte und anderweitig lesebehinderte Menschen und damit zu Bildung, beruflicher, politischer, gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe ist jetzt spürbar und nachhaltig zu verbessern. Keinesfalls darf sich die Situation behinderter Menschen weiter verschlechtern. Dafür bedarf es folgender Änderungen am Gesetzentwurf:

  • Auf die in § 45c Abs. 4 UrhG vorgesehene Vergütungspflicht für die Aufbereitung und Zugänglichmachung barrierefreier Literatur durch befugte Stellen, d. h. insbesondere Blindenbüchereien und Hochschulmedienzentren für behinderte Menschen, ist zu verzichten!
  • Es darf nicht zu einer faktischen, sanktionsbewehrten Genehmigungspflicht für die Tätigkeit befugter Stellen kommen!
  • Die sofortige und rechtsverbindliche Sicherstellung einer langfristigen Finanzierung der Umsetzung von Literatur in barrierefreie Formate (z. B. Brailleschrift, navigierbare Audiobücher oder Werke in Großdruck) und ein finanzieller Ausgleich für den neuen Bürokratieaufwand sind dringend notwendig!

Im Einzelnen:

In Deutschland gibt es keine Verpflichtung, die allen Urhebern eine barrierefreie Veröffentlichung und Verbreitung ihrer Werke auferlegen würde. Eine solche Pflicht wäre aber aus menschenrechtlicher Perspektive – insbesondere zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention – notwendig und geboten. Wenn Deutschland sich gegen diese generelle Pflicht zur Einhaltung von Barrierefreiheit entscheidet, dann ist es aus unserer Sicht absolut gerechtfertigt, dass befugte Stellen keine Vergütungen zahlen müssen, wenn sie die aufwendige und kostenintensive Herstellung von Barrierefreiheit übernehmen. Vergütungsregelungen belasten blinde und sehbehinderte Menschen, weil sie die finanziellen Ressourcen von Blindenbibliotheken binden, anstatt ihnen zu ermöglichen, die ohnehin viel zu geringen Mittel ausschließlich für die barrierefreie Produktion und Verbreitung von Literatur zu nutzen. Ohne das freiwillige finanzielle Engagement blinder und sehbehinderter Menschen hätte nicht einmal der geringe Teil der aktuell umgesetzten Literatur barrierefrei zugänglich gemacht werden können. Vergütungsregelungen stehen damit im Widerspruch zum Marrakesch-Vertrag, da sie blinde und sehbehinderte Menschen belasten. Sie sind auch nicht aus europarechtlichen Vorgaben zu erheben. Deutschland hat insoweit einen Entscheidungsspielraum, den es im Sinne behinderter Menschen nutzen muss.

Die Pflichten der befugten Stellen sowie eine staatliche Aufsicht über deren Einhaltung sollen laut § 45c Abs. 5 UrhG in einer Rechtsverordnung geregelt werden. Gemäß Artikel 5 der Richtlinie (EU) 2017/1564 legen die befugten Stellen die Verfahren zur Einhaltung bestimmter Pflichten selbst fest. Eine sanktionsbewehrte Registrierungs- bzw. faktische Genehmigungspflicht ist indes weder durch den Marrakesch-Vertrag noch durch europarechtliche Vorgaben intendiert. Eine solche droht aber mit der vorgesehenen Rechtsverordnung, deren Entwurf am 18.09.2018 veröffentlicht wurde und die die Kontrollmechanismen von Verwertungsgesellschaften auf die gemeinnützigen befugten Stellen anwenden will. Das ist eine deutliche Verschlechterung zum geltenden Recht und erschwert die Arbeit von Blindenbibliotheken oder speziellen Schul- und Hochschulmedienzentren immens, anstatt den barrierefreien Zugang zu Literatur zu erleichtern. Dass die bestehenden Verpflichtungen der befugten Stellen nicht im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens festgeschrieben werden und stattdessen ohne die Parlamentarier im Verordnungsweg ergehen sollen, ist angesichts der Tragweite der Regelungen überdies inakzeptabel. Werden die Hürden zu hoch gelegt, wird sich keine befugte Stelle bereiterklären, noch barrierefreie Literatur zu produzieren und zu verbreiten. Auch das steht im Widerspruch zum Ziel des Marrakesch-Vertrages. Wir fordern daher die Streichung der Ermächtigungsgrundlage für die Rechtsverordnung und die richtlinienkonforme Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben zu den Pflichten befugter Stellen im Urheberrechtsgesetz selbst.

Die befugten Stellen haben – wenn die bislang geplanten Vergütungsregelungen in § 45c umgesetzt werden sollten – und je nach Ausgestaltung der bürokratischen Verpflichtungen einen erheblichen zusätzlichen Aufwand. Diesen beziffern wir vorläufig mit mindestens 250.000 € (pro Jahr) und 100.000 € (einmalig) deutschlandweit. Dieser Aufwand ist bislang nicht gegenfinanziert, geschweige denn, dass man dem Ziel des Marrakesch-Vertrages, mehr Bücher in barrierefrei zugänglichen Formaten herzustellen und zu verbreiten, näher kommen würde. Die befugten Stellen sind alle gemeinnützige Organisationen, die nicht über die finanziellen Ressourcen zur Kompensation verfügen. Soll sich die Situation blinder, sehbehinderter und anderweitig lesebehinderter Menschen beim barrierefreien Zugang zu Literatur spürbar verbessern, dann muss auch der Aufwand für die befugten Stellen gegenfinanziert werden. Dem DBSV geht es darum, dass die befugten Stellen Literatur auch künftig in zugängliche Formate übertragen können und zwar in höherer Anzahl als heute.

Mit diesem offenen Brief appellieren wir dringend an Sie, sich für ein Ende der Büchernot für blinde, sehbehinderte und anderweitig lesebehinderte Menschen einzusetzen.

Der Handlungsbedarf ist immens, denn blinde, sehbehinderte und anderweitig lesebehinderte Menschen sind noch immer von über 95 % der veröffentlichten literarischen Werke ausgeschlossen, weil die Literatur praktisch nicht in zugänglichen Formaten (z. B. Braille, navigierbare Audiobücher oder in Großdruck) zur Verfügung steht. Wer keinen Zugang zu Informationen aus Literatur, Wissenschaft und Kunst hat, ist von Bildung, beruflicher Entfaltung, politischer, gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe ausgeschlossen.

Befassen Sie sich also kritisch mit dem vorgelegten Gesetzentwurf und lassen Sie ihn nicht unverändert passieren. Ansonsten werden sich die Teilhabechancen blinder, sehbehinderter und anderweitig lesebehinderter Menschen nicht verbessern, sondern verschlechtern. Unsere ausführliche Stellungnahme finden Sie unter

www.dbsv.org/stellungnahme/Marrakesch-Gesetzentwurf.html

Wir stehen selbstverständlich für weiterführende Gespräche gern zur Verfügung.

(Ende des Offenen Briefes)

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