Wenn Mediziner über behinderte Menschen urteilen

Wer wird beatmet, falls die Corona-Krise unser Gesundheitssystem überfordert – und wer nicht? Das Bundesgesundheitsministerium versteckt sich hinter den Empfehlungen der Fachgesellschaften für Intensivmedizin. Falls diese umgesetzt werden, haben blinde Menschen schlechte Chancen.

Berlin, 24. April 2020. Was passiert, wenn in der Corona-Krise die Beatmungsgeräte knapp werden? Wie das Bundesgesundheitsministerium auf Anfrage der Grünen mitteilte, sei es nicht nötig, diese Frage gesetzlich zu regeln. Die gemeinsamen Empfehlungen der ärztlichen Fachgesellschaften und eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrates seien ausreichend. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) übt nun scharfe Kritik sowohl an den ärztlichen Empfehlungen als auch an der Vorgehensweise.

„Triage“ ist ein Begriff aus der Kriegs- und Katastrophenmedizin und bezeichnet ein Verfahren zur Entscheidung, wer medizinische Hilfe bekommt, wenn nicht allen geholfen werden kann. In ihren „Klinisch-ethischen Empfehlungen“ beschreiben die Fachgesellschaften für Intensivmedizin, wie aus ihrer Sicht die Triage bei einer Eskalation der Corona-Krise ablaufen soll. Ein wichtiges Instrument ist dabei die Frailty Scale, übersetzt: die Gebrechlichkeits-Skala.

Die Skala teilt Patientinnen und Patienten in neun Kategorien ein, von „sehr fit“ bis „terminal erkrankt“. DBSV-Präsident Hahn hat nachgeschaut, wie er dabei abschneidet: „Weil ich im Alltag aufgrund meiner Blindheit Unterstützung benötige, werde ich vier Kategorien herabgestuft. Im Ernstfall kann das bedeuten, dass ich wegen meiner Behinderung nicht behandelt werde.“

So wie Klaus Hahn würde es im Ernstfall einem großen Teil der behinderten Menschen in Deutschland gehen. Aus Sicht des DBSV muss die Politik deshalb alle Möglichkeiten ausschöpfen, um zu verhindern, dass eine Triage notwendig wird. Sollte ein Auswahlverfahren jedoch unvermeidlich sein, darf die Gebrechlichkeits-Skala nicht zur Anwendung kommen und Behinderung darf zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens zum Entscheidungskriterium werden.

Parallel kritisiert der Verband das Schweigen des Gesundheitsministeriums. „Der Staat kann sich in dieser rechtlich und ethisch unglaublich heiklen Frage nicht einfach wegducken“, sagt Hahn. Der DBSV unterstützt in diesem Punkt die Position des deutschen Ethikrats, die besagt, dass der Staat auch in Zeiten eines Notstandes die Grundlagen der Rechtsordnung garantieren muss. „Wenn Mediziner Empfehlungen veröffentlichen, die die Menschenrechte behinderter Menschen auf Schutz in Katastrophenzeiten und auf den diskriminierungsfreien Zugang zur Gesundheitsversorgung faktisch aufheben, dann muss der Staat reagieren und sein Wächteramt ausüben“, bringt Klaus Hahn es auf den Punkt.

Pressekontakt

Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV)

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