AGG, BGG, BFSG zusammendenken und jetzt ambitioniert für mehr Inklusion reformieren!

Barrierefreiheit und Nichtdiskriminierung müssen endlich zum Standard werden, egal ob bei der Gesundheitsversorgung, dem Zugang zu Schule, Ausbildung, Hochschule und Arbeit, im Supermarkt, bei Sport und Kultureinrichtungen oder im Internet! Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag angekündigt: „Wir wollen, dass Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens, vor allem aber bei der Mobilität (u. a. bei der Deutschen Bahn), beim Wohnen, in der Gesundheit und im digitalen Bereich, barrierefrei wird. ... Dazu überarbeiten wir unter anderem das Behindertengleichstellungsgesetz und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz sowie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz.“

Der DBSV fordert, dieses Versprechen jetzt einzulösen! Es ist nicht länger hinnehmbar, dass Menschen mit Behinderungen wegen vorhandener Barrieren von ganz normalen Aktivitäten des alltäglichen Lebens ausgeschlossen sind. Für parteipolitische Machtspiele ist kein Platz, wenn es um den Schutz und die Gewährleistung menschenrechtlicher Garantien geht. Das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BGG), das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) müssen daher für einen lückenlosen Schutz vor Diskriminierung miteinander verzahnt und umfassend reformiert werden. Besonderen Handlungsbedarf für die gleichberechtigte Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen sieht der DBSV in folgenden Bereichen:

Im Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BGG):

  • Der Anwendungsbereich des BGG muss so erweitert werden, dass alle dem Bundesrecht zugewiesenen staatlichen und nichtstaatlichen Akteure verbindlich und rechtssicher an das BGG gebunden sind, wenn sie im öffentlichen Interesse liegende Aufgaben der Daseinsvorsorge erfüllen. In diesem Sinne sind auch die Vorgaben in anderen Rechtsbereichen, etwa im Sozialrecht, im Verkehrs- und Gesundheitssektor oder bei den Verwaltungsvorgaben zur Digitalisierung so anzupassen, dass alle handelnden Akteure den Zugang zu Leistungen der Daseinsvorsorge barriere- und diskriminierungsfrei gewährleisten müssen.
  • Der Schutz vor Benachteiligungen ist zu stärken. Die Träger öffentlicher Gewalt müssen aktiv zu angemessenen Vorkehrungen verpflichtet werden und Menschen mit Behinderungen ein Wahlrecht einräumen. Begrifflich sowie konzeptionell ist das Benachteiligungsverbot im BGG mit demjenigen im AGG zu harmonisieren.
  • Im Bereich Bau und Verkehr sollte das Gesetz auch für alle angemieteten Einrichtungen gelten. Die Pflicht zur Herstellung von Barrierefreiheit ist auf alle Gebäudeteile auszuweiten, die als Arbeitsstätte im Sinne der Arbeitsstättenverordnung gelten. Eine regelmäßige Berichtspflicht in Bezug auf den Stand der Barrierefreiheit ist zu verankern.
  • Hat eine Behörde Kenntnis vom Bedarf an Dokumenten in barrierefreier Form, darf die Bekanntgabe von Bescheiden erst erfolgen, wenn das Dokument in barrierefreier Form zugeht. Elektronische Dokumente müssen entsprechend der Vorgaben in der BITV 2.0 generell barrierefrei gestaltet sein.
  • Bei den Vorschriften zur Barrierefreiheit von Webseiten und Apps sind Schutzlücken zu schließen. So ist zu verankern, dass nicht barrierefrei zugängliche Inhalte in einem zugänglichen Format angefordert werden können und innerhalb bestimmter Fristen dem Anliegen zu entsprechen ist. Der Feedbackmechanismus ist mit verbindlichen Eingangsbestätigungen und kürzeren Bearbeitungsfristen auszugestalten. Die Ergebnisse der Überwachung von Webseiten und Apps sind künftig unter namentlicher Nennung der geprüften Stellen zu veröffentlichen. Der von den obersten Bundesbehörden nach § 12c Abs. 1 Nr. 2 BGG zu erstellende Bericht zum Stand der Barrierefreiheit der elektronisch unterstützten Verwaltungsabläufe ist als Bundestagsdrucksache zu veröffentlichen. Gleiches sollte für die von den obersten Bundesbehörden zu erstellenden verbindlichen und überprüfbaren Maßnahmen- und Zeitpläne zum weiteren Abbau von Barrieren gelten.
  • In jeder obersten Bundesbehörde ist eine Koordinierungsstelle einzurichten, die sich darum kümmert, dass bei der Erfüllung der in die Zuständigkeit der Behörde fallenden Aufgaben die sich aus dem BGG und anderen Rechtsvorschriften ergebenden Verpflichtungen zur Barrierefreiheit eingehalten und umgesetzt werden.
  • Der Aufgabenbereich der Bundesfachstelle Barrierefreiheit ist zu erweitern, insbesondere um die Unterstützung der Schlichtungsstelle, des Behindertenbeauftragten und der Antidiskriminierungsstelle, um die Beratung zur Gesetzgebung des Bundes, die Initiierung von Forschung und das Angebot von Schulungen zur Barrierefreiheit. Auch der Aufgabenbereich der Überwachungsstelle ist zu ergänzen, insbesondere um eine entwicklungsbegleitende Beratung und die Überprüfung, ob von der Überwachungsstelle festgestellte Mängel zur Barrierefreiheit beseitigt wurden.
  • Die Rechtsdurchsetzung ist deutlich effektiver auszugestalten. Der Katalog in § 15 BGG, gegen welche Vorschriften vorgegangen werden kann, ist offen zu gestalten. Zusätzlich zur Feststellungsklage muss es möglich werden, den Abbau von Barrieren oder das Unterlassen eines bestimmten Handelns konkret einklagen zu können. Der verbandliche Rechtsschutz ist zu stärken, u. a. durch Gerichtskostenfreiheit, transparente Regelungen zu Streitwerten im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, durch Rechtsmittelfonds, den Zugang zu Beratungs- oder Prozesskostenhilfe.
  • Die Schlichtungsstelle ist durch erweiterte Befugnisse und eine Mitwirkungspflicht der Beteiligten zu stärken. Das Schlichtungsverfahren und die Klagebefugnis sind auch für Schwerbehindertenvertretungen zu öffnen, soweit es um die Ansprüche schwerbehinderter Beschäftigter geht. Landesbehörden sind als mögliche Schlichtungsgegner zuzulassen, soweit eine Verletzung von Bundesrecht in Betracht kommt und das Land selbst keine Schlichtungsmöglichkeit vorsieht.
  • Die Position des Bundesbehindertenbeauftragten ist zu stärken, seine Unabhängigkeit und ressortübergreifende Verantwortung sind stärker zu betonen. Er sollte ein eigenes Klagerecht bei strukturellen Benachteiligungen und zum Abbau von Barrieren erhalten und durch Mitwirkungspflichten der Klagegegner unterstützt werden. Seine Zuständigkeit sollte auf die Koordination der Beauftragten der Länder sowie die Zusammenarbeit mit vergleichbaren Stellen in der EU und ihren Mitgliedstaaten erweitert werden.

Im Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG):

  • Das BFSG ist als Spezialgesetz zur Herstellung von Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen des privaten Sektors auszubauen. Insbesondere sind in absehbarer Zeit die Bereiche Postdienstleistungen, Haushaltsgeräte, Medizinprodukte und jegliche Selbstbedienungs- und Bezahlterminals einzubeziehen.
  • Der Anwendungsbereich ist auf vom BFSG erfasste Produkte und Dienstleistungen zu erweitern, die beruflich genutzt werden.
  • Der bislang bestehende Ausschluss von regionalen Personenverkehrsdienstleistungen ist aufzuheben.
  • Die bauliche Umwelt ist einzubeziehen.
  • Die gewährten Übergangsfristen sind deutlich zu kürzen.

Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)

  • Wenn gegen Vorgaben zur Barrierefreiheit verstoßen wird und wenn verhältnismäßige Einzelfalllösungen zur Überwindung von Barrieren („angemessene Vorkehrungen“) versagt werden, muss das als Diskriminierung gelten und sanktioniert werden.
  • Der Schutz behinderter Menschen vor Diskriminierung muss auf alle der Öffentlichkeit zugänglichen Angebote, beispielsweise auch Gesundheitsleistungen, erweitert werden.
  • Die zulässigen Gründe für eine Ungleichbehandlung müssen so formuliert werden, dass behinderte Menschen wegen einer vorgeschobenen Gefahrenabwehr nicht länger von Versicherungen, aus Schwimmbädern, Freizeitparks oder von Reisen ausgeschlossen werden.
  • Der Rechtsschutz muss verbessert werden, insbesondere durch verlängerte Fristen, um Diskriminierungen geltend zu machen, die Einführung eines Verbandsklagerechts und einer niedrigschwelligen Schlichtungsmöglichkeit.

In allen Bereichen:

  • Das Thema Barrierefreiheit ist in die Ausbildungs- und Studienpläne, Prüfungsordnungen, Weiterbildungsprogramme und Schulungsmodule aller Berufssparten einschließlich der Weiterqualifizierung verpflichtend aufzunehmen.
  • Die personelle Ausstattung der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, der Überwachungsstelle des Bundes zur Barrierefreiheit von Informationstechnik, der Schlichtungsstelle BGG und des Bundesbehindertenbeauftragten sind deutlich zu erhöhen
  • Es ist ein Förderprogramm aufzulegen, um Unternehmen dabei zu unterstützen, Barrierefreiheit voranzubringen.
  • Menschen mit Behinderungen müssen effektive Möglichkeiten erhalten, auf die Festlegung der technischen Spezifikationen im Bereich Barrierefreiheit Einfluss zu nehmen. Die dafür notwendigen finanziellen Mittel müssen bereitgestellt und der Auf- und Ausbau der fachlichen Kompetenzen muss gefördert werden. Technische Standards sind öffentlich, kostenfrei und barrierefrei zugänglich zu machen.
  • Wissenschaftliche Forschung sollte gefördert werden, um auf der Basis ihrer Ergebnisse Strategien und Programme für mehr Barrierefreiheit zu entwickeln und nachhaltig zu implementieren.

Verabschiedet vom Verbandsrat des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes am 12. Mai 2023 in Hannover.