Resolution "Arbeitswelt im Umbruch"

Forderungen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes zur Sicherung und Förderung der beruflichen Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen.

Ein tiefgreifender und rasant voranschreitender Wandel in der Arbeitswelt ist Realität. Die zunehmende Digitalisierung verändert Tätigkeitsfelder, Arbeitsabläufe und Beschäftigungsmodelle. Die Anforderungen an Arbeitnehmer gewinnen an Komplexität und die Akademisierung schreitet voran. Flexibilität und die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen sind Grundanforderungen an jeden, der am ersten Arbeitsmarkt mithalten möchte.

Aktuell ist nur weniger als ein Drittel der blinden und sehbehinderten Menschen im erwerbsfähigen Alter berufstätig. Das ist deutlich zu wenig. Die Umbrüche der Arbeitswelt stellen diesen Personenkreis vor zusätzliche Herausforderungen. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband fordert die politischen Entscheidungsträger daher mit Nachdruck auf, Steuerungsverantwortung zu übernehmen und die Rahmenbedingungen für die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben an die aktuellen Anforderungen anzupassen und spürbar zu verbessern. Es geht dabei nicht nur um das Recht auf Arbeit im Sinne von Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention. Deutschland kann es sich aufgrund des demographisch bedingten Fachkräftemangels nicht leisten, auf das Know-how behinderter Arbeitnehmer zu verzichten. Handlungsbedarf sehen wir insbesondere in den folgenden Bereichen:

Beschäftigungspflicht schwerbehinderter Menschen durchsetzen und Verstöße wirksam sanktionieren!

Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit unter schwerbehinderten Menschen sind Appelle an den "guten Willen" der Arbeitgeber nicht mehr ausreichend. Die Beschäftigungspflicht von Unternehmen muss endlich konsequent eingefordert und durchgesetzt werden. Dies schließt eine spürbar erhöhte Ausgleichsabgabe für Betriebe ein, die ihrer Beschäftigungspflicht gar nicht oder in unzureichendem Maße nachkommen.

Chancen der Digitalisierung nutzen – Umfassende gesetzliche Verpflichtungen zur Barrierefreiheit für die öffentliche Hand und Private schaffen!

Die Digitalisierung bietet für blinde und sehbehinderte Menschen große Potentiale für mehr Teilhabe am Arbeitsleben, wenn eine uneingeschränkte Nutzbarkeit des Internets und digitaler Lern-, Arbeits- und Kommunikationsprozesse erreicht wird. Das Behindertengleichstellungsgesetz, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und die Arbeitsstättenverordnung müssen angepasst werden, damit Barrierefreiheit zur Pflicht wird. Untätigkeit führt dazu, dass blinde und sehbehinderte Menschen zwangsläufig von der Arbeitswelt und damit auch aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden.

Damit Barrierefreiheit hergestellt werden kann, müssen Informatiker, Softwareentwickler und Mediengestalter für die Konzeption barrierefreier Produkte sowohl in der Ausbildung wie im Beruf kontinuierlich geschult werden. Dazu ist das Thema Barrierefreiheit in die entsprechenden Ausbildungspläne und Prüfungsordnungen verpflichtend aufzunehmen.

Rationale Arbeitsmarktpolitik braucht verlässliche Zahlen!

Unabdingbar ist ein statistisches Berichtssystem, das über Beschäftigung und Arbeitslosigkeit (schwer-)behinderter Menschen nach Art und Intensität der Behinderung und weiteren relevanten Merkmalen informiert. Jährliche, zeitnah zu veröffentlichende konsolidierte Berichte der Rehabilitationsträger über den Erfolg der beruflichen Eingliederungsmaßnahmen und -erfolge sind zu gewährleisten.

Leistungen zur Eingliederung in Arbeit und begleitende Hilfen an aktuelle Bildungs- und Berufsbiographien anpassen und modernisieren!

Beim Auftritt massiver Sehprobleme muss ein systematisches Management zur Abklärung von Rehabilitationsbedarfen, u. a. hinsichtlich erforderlicher Maßnahmen zur beruflichen Teilhabe, einsetzen. Eine Grundrehabilitation in allen Fällen, einschließlich insbesondere einer Beratung zur beruflichen Rehabilitation, ist notwendig und zeitnah umzusetzen. Wegen bislang fehlender medizinischer Rehabilitation nach Sehverlust und der damit einhergehenden Versorgungslücke hängt es oft vom Zufall ab, ob berufliche Rehabilitationsmaßnahmen veranlasst werden oder nicht. Das hat für betroffene Erwerbstätige häufig lange Phasen der Arbeitsunfähigkeit mit sich oftmals anschließender Verrentung zur Folge.

Dringend notwendig ist ein Rechtsanspruch auf eine einkommens- und vermögensunabhängige Finanzierung des behinderungsbedingten Mehraufwandes für sämtliche berufliche Aus-, Fort- und Weiterbildungen, einschließlich akademischer Bildungsgänge sowie ggf. Maßnahmen zur Ausbildung in einem gänzlich neuen Berufsfeld. Das schließt die Finanzierung des behinderungsbedingten Mehrbedarfes bei Praktika und Auslandsaufenthalten ein. Lineare Berufsbiografien sind zur Ausnahme geworden. Lebenslanges Lernen ist unumgänglich. Die Ansprüche an individuelle IT-, Medien- und Hilfsmittelkompetenz steigen.

Mit Blick auf die gestiegenen Anforderungen der Arbeitswelt an eine berufliche Qualifikation und die zunehmende Bedeutung von akademisch geprägten Ausbildungsgängen ist es zur Gewährleistung einer zukunftsorientierten und diskriminierungsfreien Ausgestaltung von Bildungs- und Rehabilitationsleistungen notwendig, künftig alle behinderungsbedingt erforderlichen berufsqualifizierenden Maßnahmen den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zuzuordnen. Dies beinhaltet die Überleitung der Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich des Besuchs einer Hochschule im Sinne von § 75 SGB IX in den Leistungsbereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Damit einhergehend muss zur Sicherstellung der Chancengleichheit am Arbeitsmarkt die Finanzierung von Auslandsaufenthalten und Praktika im Rahmen dieser Bildungsgänge gewährleistet werden.

Die Teilhabeleistungen, wie insbesondere notwendige technische Arbeitshilfen, Hilfsmittel und Arbeitsassistenz, müssen der gestiegenen Flexibilisierung gerecht werden und etwa bei der Ausübung mehrerer gleichzeitig ausgeübter (u. U. auch geringfügiger) Beschäftigungen oder bei einem späteren Übertritt ins Rentenalter zeitgerecht zur Verfügung stehen. Blinde und sehbehinderte Menschen müssen zudem die Möglichkeit haben, sich über informelle Arbeitsverhältnisse – von freiwilligen Praktika über Bürgerarbeit bis zur geringfügigen Beschäftigung, die der Verbesserung der Eingliederungschancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt dienen können - zu qualifizieren. Hierfür müssen die sächlichen und personellen Hilfen finanziert und zeitnahe zur Verfügung gestellt werden.

Zugang zu Aus-, Fort- und Weiterbildung verbessern!

Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote aller Art - vom Volkshochschulkurs über zertifizierte Bildungsmaßnahmen bis hin zu Online-Bildungsangeboten - müssen barrierefrei nutzbar sein. Das schließt die Bereitstellung barrierefreier Lernmittel und -medien ein. Für Bildungsanbieter, die von Staat oder Sozialleistungsträgern finanzielle Förderungen erhalten, muss diese Verpflichtung unverzüglich umgesetzt werden.

Langzeitarbeitslose Menschen effektiv fördern!

Initiativen zum Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit müssen gezielt auch Menschen mit Behinderungen einschließen. Sie sind als zu fördernde Gruppe (Förderkriterium) bei Programmen explizit zu benennen. Entsprechende Programme müssen sicherstellen, dass schwerbehinderte Menschen die Angebote auch nutzen können. Das heißt, die Programme müssen mit den Leistungen für schwerbehinderte Menschen verschränkt werden. Geschieht dies nicht, drohen behinderte Menschen an den Rand gedrängt zu werden.

Zugleich muss der Zugang zur Rehabilitation für behinderte Menschen im Rechtskreis des SGB II verbessert werden, indem der Bundesagentur für Arbeit hier einheitlich die Reha-Zuständigkeit übertragen wird. Es kann nicht sein, dass die Eingliederung von blinden und sehbehinderten Menschen bislang scheitert, weil das Budget der SGB II-Träger für notwendige Rehabilitations- und Teilhabeleistungen nicht ausreicht oder weil in den Jobcentern das Know-how für die Belange blinder und sehbehinderter Menschen fehlt.

Fachlichkeit sichern!

Die flächendeckende Unterstützung blinder und sehbehinderter Menschen durch Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben über Spezialanbieter muss sichergestellt werden, denn dort ist das Know-how für die insgesamt sehr kleine Gruppe der blinden und sehbehinderten Menschen im erwerbsfähigen Alter gebündelt. Diese speziellen Anbieter müssen zu Kompetenzzentren für die Förderung der beruflichen und sozialen Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen weiterentwickelt werden. Die Vorgabe des § 117 Abs. 1 Nr. 1a SGB III, dass „besondere Leistungen zur Rehabilitation“ überwiegend in Einrichtungen stattfinden müssen, ist im Sinne der Inklusion anzupassen. Zur Realisierung eines flexiblen, wohnortnahen Rehabilitationsangebotes muss es möglich sein, von diesen Zentren aus sowohl stationäre, als auch inklusive, wohnortnahe Dienstleistungen betriebsnah anbieten und verschränken zu können.

Zugang zu den Berufsfeldern „Masseur/medizinischer Bademeister“ und „Physiotherapeut“ erhalten!

Bei der Novellierung der gesetzlichen Regelungen für die Ausbildung von Masseuren und Physiotherapeuten im MPhG ist sicherzustellen, dass blinde und sehbehinderte Menschen diese Berufe auch in Zukunft im bisherigen Umfang ergreifen und ausüben können. Die Berufsbilder Physiotherapie und Masseur/medizinischer Bademeister bieten blinden und sehbehinderten Menschen traditionell gute Berufsperspektiven. Wegen der zunehmend älter werdenden Bevölkerung und einem damit zu erwartenden ansteigenden Fachkräftebedarf im Bereich der medizinisch-therapeutischen Berufe, sind blinde und sehbehinderte Masseure sowie Physiotherapeuten auch zukünftig unverzichtbar und ihre Erwerbschancen weiterhin als besonders positiv einzuschätzen.

Forschung stärken!

Zur Sicherung und Erweiterung der beruflichen Einsatzmöglichkeiten blinder und sehbehinderter Menschen müssen Forschungsprojekte aufgelegt werden, insbesondere zur Erschließung neuer Tätigkeiten und Geschäftsfelder, neuer Berufsfelder und zur Weiterentwicklung vorhandener Berufsbilder - vor allem unter dem Aspekt der digitalisierten Arbeitswelt. Parallel sollten sich weitere Projekte mit gering qualifizierten blinden und sehbehinderten Menschen befassen, um für diese Zielgruppe neue Tätigkeitsfelder auf dem ersten Arbeitsmarkt zu erschließen.

Partizipation umsetzen!

Es ist dringend notwendig, bei allen Vorhaben zur Gestaltung der Rahmenbedingungen in der sich rasant wandelnden Arbeitswelt die Belange behinderter Menschen konsequent mitzudenken. Dabei muss gelten: „Nichts über uns ohne uns!“. Frühzeitig und kontinuierlich stattfindende Werkstattgespräche zu den geplanten arbeitsmarktpolitischen Vorhaben mit den Verbänden behinderter Menschen sind mögliche Beteiligungsformate.

Verabschiedet vom Verbandstag des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) am 28. Juni 2018 in Berlin