Gesundheitspolitische Forderungen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes

Blinde und sehbehinderte Menschen haben dasselbe Recht auf ortsnahe gesundheitliche Versorgung in derselben Bandbreite und derselben Qualität wie Menschen ohne Behinderungen. Das schließt Leistungen ein, die sie speziell wegen ihrer Behinderung benötigen. Die Realität sieht anders aus: Es fehlt an ausreichender Behandlung und Rehabilitation sowie nicht zuletzt an einem barrierefreien und damit zugänglichen Gesundheitssystem. Diese Situation verstößt gegen das Menschenrecht auf einen gleichwertigen Zugang zum Gesundheitssystem und zur Rehabilitation gemäß den Artikeln 25 und 26 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention). Es fehlt zudem an notwendigen Leistungen zum Verhüten von Sehverlust.

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband sieht deshalb dringenden Handlungsbedarf insbesondere in den folgenden Bereichen:

Barrierefreiheit im Gesundheitssystem herstellen!

Blinde und sehbehinderte Menschen stoßen auf zahlreiche physische, digitale und kommunikative Barrieren, wenn sie das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen wollen. Daher fordern wir den Gesetzgeber auf, dafür zu sorgen, dass

  • alle Einrichtungen des Gesundheitswesens – von Arztpraxen über Krankenhäuser und Rehabilitationseinrichtungen bis zu therapeutischen Praxen - barrierefrei zugänglich sind,
  • bereitgestellte Informationen aller Leistungserbringer, wie z. B. Webseiten oder Anamnesebögen, barrierefrei zugänglich und nutzbar sind,
  • im Internet vollständige Informationen über den aktuellen Stand der Barrierefreiheit des jeweiligen Anbieters von Gesundheitsleistungen bereitgestellt werden – nach einheitlichen Kriterien, transparent dargestellt und objektiv nachprüfbar,
  • Patienteninformationen über Leistungserbringer, Erkrankungen, Behandlungsoptionen und bestehende Beratungsangebote barrierefrei zugänglich, verständlich und gesichert sind, z. B. auf aus öffentlichen Mitteln geförderten Gesundheitsportalen,
  • der umfassende und barrierefreie Zugang zu telemedizinischen Angeboten, zur elektronischen Patientenakte und zu digitalen Anwendungen, wie dem E-Rezept oder dem elektronischen Medikationsplan, einschließlich der jeweils gespeicherten Informationen, gewährleistet ist,
  • digitale Gesundheits- und Pflegeanwendungen, die durch Sozialleistungsträger finanziert werden, barrierefrei nutzbar sind,
  • der Anspruch auf den persönlichen Kontakt mit medizinischen und therapeutischen Fachkräften auch beim zunehmenden Einsatz telemedizinischer Angebote bestehen bleibt.

Sehverlust effektiv vermeiden – Früherkennung stärken!

Werden bestimmte und häufig auftretende Augenerkrankungen, wie Glaukom, Katarakt, altersabhängige Makula-Degeneration oder diabetische Retinopathie, frühzeitig erkannt, kann Sehverlust vermieden oder zumindest verzögert werden. Deshalb fordern wir, dass

  • allen Menschen regelmäßige Augenuntersuchungen als Vorsorgeleistung spätestens ab dem 55. Lebensjahr angeboten und finanziert werden,
  • zu deren Inanspruchnahme durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen motiviert wird,
  • eine bundesweite Aufklärungskampagne zu den Volkskrankheiten altersabhängige Makula-Degeneration, Glaukom und diabetische Retinopathie aufgesetzt wird, die neben der Früherkennung und Vorsorge auch Warnsymptome und Handlungsempfehlungen einschließt.

Qualitätsgesicherte und bedarfsgerechte Behandlung flächendeckend sicherstellen!

Eine ausreichende (augen)medizinische Versorgung ist aktuell nicht für alle Menschen sichergestellt. Die Situation wird sich durch die demographisch bedingte Zunahme an Augenpatientinnen und -patienten sowie den gleichzeitig zunehmenden Fachkräftemangel verschärfen. Deshalb fordern wir

  • eine nachhaltige Strategie zur Fachkräftesicherung im Bereich der Augenmedizin,
  • die stärkere Verankerung der Themen Sehen, Rehabilitation und Teilhabe in der Aus- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe,
  • gesicherte flächendeckende Versorgungsstrukturen als Teil der Daseinsvorsorge auch im ländlichen Raum,
  • grundlegende Verbesserungen bei der Versorgung besonders vulnerabler Patientengruppen (vor allem pflegebedürftiger, älterer multimorbider und mehrfachbehinderter Menschen),
  • dass hauptsächlich renditeorientierte, investorenbetriebene Arztpraxen keine marktbeherrschende Stellung erhalten,
  • gesetzliche Rahmenbedingungen und auskömmliche Vergütungssysteme, die eine flächendeckende, adäquate ophthalmologische Versorgung – von der notwendigen Diagnostik bis zur Behandlung – für alle Indikationen gewährleisten,
  • einen zuzahlungsfreien Zugang von Patientinnen und Patienten auch zu innovativen, dem medizinischen Stand entsprechenden Diagnose- und Therapieverfahren sowie Arzneimitteln,
  • die Stärkung der Patientenrechte und -kompetenzen.

Rehabilitation für alle Menschen mit Sehverlust gewährleisten!

Rehabilitation ist ein wesentlicher Schlüssel zur Selbstbestimmung und Teilhabe. Sie trägt zu mehr Lebensqualität bei und verringert negative Folgen, wie das Entstehen weiterer Erkrankungen und damit verbunden auch unnötiger Kosten für das Gesundheits- und Sozialsystem. Für Menschen mit fortschreitendem oder plötzlich eingetretenem Sehverlust gibt es im Leistungssystem bislang allerdings keine ausreichende rehabilitative Versorgung. Deshalb fordern wir, dass

  • vorhandene Teilangebote wie die Finanzierung vergrößernder Sehhilfen und anderer Hilfsmittel sowie Schulungen in Orientierung und Mobilität (O&M) und lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF) allen Betroffenen bedarfsgerecht und zuzahlungsfrei zugänglich sind,
  • Betroffene unmittelbar nach einem akuten Sehverlust oder bei einem progredienten Verlauf Anspruch auf eine indikationsgerechte medizinische Rehabilitation erhalten,
  • Pilotprojekte zur konkreten Ausgestaltung einer medizinischen Rehabilitationsleistung nach Sehverlust gefördert werden,
  • die Ausbildung von Rehabilitationsfachkräften für blinde und sehbehinderte Menschen – ähnlich wie im Falle der Pflege und Gesundheitsberufe – aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, um dauerhaft den Fachkräftemangel in diesem Bereich abzuwenden.

Die Versorgung von Menschen mit Diabetes mellitus absichern!

Eine bedarfsgerechte Versorgung mit medizintechnischen Hilfsmitteln für die lebenslange Selbsttherapie des Diabetes mellitus ist für sehbehinderte und blinde Menschen aktuell nicht gewährleistet. Deshalb fordern wir, dass

  • notwendige medizintechnische Hilfsmittel (Blutzuckermessgeräte, Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung, Pens, Pumpen, Systeme zur automatisierten Insulindosierung etc.) und digitale Gesundheitsanwendungen so gestaltet werden, dass sie auch von Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung oder Blindheit barrierefrei nutzbar sind,
  • Patientinnen und Patienten eine bedarfsgerechte, dem Ausmaß ihrer Seheinschränkung und dem individuellen Krankheitsbild des Diabetes mellitus entsprechende Einweisung in den Gebrauch der erforderlichen medizintechnischen Hilfsmittel und digitalen Gesundheitsanwendungen durch adäquat geschultes Fachpersonal erhalten.

Forschung fördern und ausbauen – Datensouveränität der Patientinnen und Patienten stärken!

Augenkrankheiten und ihre Folgen dürfen nicht länger ein vernachlässigtes Forschungsgebiet bleiben. Ziel ist eine echte Weiterentwicklung der Prävention, Früherkennung, Therapie und Rehabilitation. Dabei werden sowohl indikationsspezifische, grundlagenwissenschaftliche und klinische Forschung als auch Versorgungsforschung und -planung benötigt. Grundlage dafür ist der Zugang zu entsprechenden Gesundheitsdaten. Deshalb fordern wir

  • Forschung zu Augenerkrankungen und deren Folgen stärker und langfristig finanziell und institutionell durch die öffentliche Hand zu fördern, seltene Augenerkrankungen dabei nicht zu vergessen und alle maßgeblichen Akteure einzubinden, einschließlich der Selbsthilfe,
  • den Aufbau eines zentralen Registers für Augenerkrankungen mit einem sektorenübergreifenden Kerndatensatz unter Nutzung der Versorgungsdaten inklusive einer interoperablen Datenstandardisierung mit internationalen Terminologien und Ordnungssystemen für Versorgungs- und Forschungszwecke,
  • für jegliche Datennutzung den Anforderungen des europäischen Gesundheitsdatenraums genügende, einheitliche, rechtlich verbindliche und ethisch abgesicherte Konzepte für eine verständliche Patientenaufklärung einzuführen sowie
  • patientenorientierte Mechanismen für eine differenzierte Einwilligung in Datenspenden, den Schutz personenbezogener Daten und die Überwachung der Datennutzung zu schaffen.

Zugang zu den Berufsfeldern der Physiotherapie erhalten!

Die Berufe Physiotherapeut sowie Masseur und medizinischer Bademeister bieten blinden und sehbehinderten Menschen traditionell sehr gute Perspektiven. Bei der Novellierung der gesetzlichen Regelungen für deren Ausbildung fordern wir, dass

  • beide Berufe, das heißt, "Masseur und medizinischer Bademeister" sowie "Physiotherapeut" uneingeschränkt erhalten bleiben
  • blinde und sehbehinderte Menschen weiterhin die uneingeschränkte Erlaubnis für die Ausübung beider Berufe erhalten,
  • es für die Berufe "Masseur und medizinischer Bademeister" und "Physiotherapeut" weiterhin grundständige Ausbildungen auf Berufsfachschulniveau gibt; eine Vollakademisierung lehnt der DBSV ab,
  • bei ergänzenden akademischen Ausbildungsgängen sichergestellt ist, dass sie ebenfalls uneingeschränkt für blinde und sehbehinderte Menschen zugänglich sind und behinderungsbedingt notwendige Teilhabeleistungen von den Rehabilitationsträgern finanziert werden.

Verabschiedet vom Verbandstag des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) am 23. Juni 2022 in Berlin