DBSV-Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege (Digitale Versorgung und Pflege - Modernisierungs-Gesetz – DVPMG)

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband, Spitzenverband der rund 1,2 Mio. blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland, fordert nachdrücklich, dass Angebote im Gesundheitsbereich für Menschen mit Behinderungen barrierefrei zugänglich und nutzbar sind.

Vor diesem Hintergrund sehen wir Nachbesserungsbedarf am vorliegenden Referentenentwurf insbesondere in den folgenden Bereichen:


Zu Artikel 1 Nr. 4:

Gemäß § 75 Absatz 7 Nr. 3a_E in Verbindung mit Absatz 1a wird die KBV verpflichtet, Richtlinien für die Umsetzung der Bundeseinheitlichkeit der auf den Internetseiten der Kassenärztlichen Vereinigungen bereitgestellten Informationen über Zugangsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen zur Versorgung (Barrierefreiheit) zu erlassen.

Die heute angebotene Arztauskunft verschiedener Kassenärztlicher Vereinigungen ist bundesweit uneinheitlich. Die Auskünfte weichen bezüglich Aussagekraft, Begrifflichkeiten, Kategorien und Erläuterungen zu Merkmalen der Barrierefreiheit deutlich voneinander ab. In allen Fällen beruhen die Angaben auf einer Selbstauskunft der Arztpraxen, d. h. die Interpretation und die Auffassungsgabe der Befragten bestimmen die Qualität der erhobenen Informationen. Damit ist die bislang angebotene Arztauskunft nicht nur uneinheitlich, sie ist für die Nutzenden auch nicht transparent und auf Grund der Selbstauskunft nicht verlässlich.

Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die KBV jetzt eine Richtlinienkompetenz für einheitliche Regeln erhält.

Gesetzlich abzusichern ist, dass bei der Erarbeitung der Richtlinien Menschen mit Behinderungen über die sie vertretenden Organisationen sowie Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der Barrierefreiheit zwingend einbezogen werden.

Sicherzustellen ist, dass die Barrierefreiheit im Sinne von § 4 Bundes Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) umfassend verstanden und die Belange von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen berücksichtigt werden.

Überdies ist mittels gesetzlicher Vorgaben zu gewährleisten, dass die an der vertragsärztlichen und fachärztlichen Versorgung beteiligten Arztpraxen Angaben über die Barrierefreiheit ihrer Praxen auch tatsächlich entsprechend der zu erlassenden Richtlinie an die Kassenärztlichen Vereinigungen übermitteln.

Einbindung der Leistungserbringer in die Telematik-Infrastruktur

Eine barrierefreie Ausgestaltung der digitalen Infrastruktur im Gesundheitswesen ist nicht nur aus Patientensicht wichtig. Vielmehr muss Barrierefreiheit auch für die Leistungserbringer gewährleistet werden. Gerade im Gesundheitswesen sind viele blinde und sehbehinderte Menschen beruflich tätig. Als Beispiele seien hier Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die Heilmittelerbringer und hier insbesondere Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten und Logopädinnen und Logopäden sowie Hilfsmittelleistungserbringer und nicht zuletzt Verwaltungsangestellte im Gesundheitswesen zu nennen. All diese blinden und sehbehinderten Menschen sind in ihrer täglichen beruflichen Arbeit darauf angewiesen, digitale Anwendungen und Programmoberflächen des Gesundheitswesens zu nutzen. Es muss ihnen auch möglich sein, sich barrierefrei zu authentifizieren. Wird Barrierefreiheit nicht abgesichert, können blinde und sehbehinderte Menschen, die im Gesundheitswesen wichtige Aufgaben wahrnehmen, nicht selbstständig beruflich tätig sein.

Nach Einschätzung des DBSV gibt es insofern Regelungslücken im Gesetz. Bislang bestehen in Bezug auf die zum Einsatz kommenden Komponenten insofern nur Anforderungen an das Sicherheitsniveau mit den Anforderungen des BSI. Gerade bei dem erwarteten hohen Sicherheitsniveau kann es aber schwieriger sein, geeignete barrierefreie Verfahren zu finden. Eine frühzeitige Klärung der Schnittstelle Sicherheit/Barrierefreiheit ist daher zwingend notwendig. Die Vorgaben für die Einhaltung der Barrierefreiheit sind gesetzlich zu ergänzen.

Handlungsbedarf zur Digitalisierung aus Versichertensicht

In § 338_E ist aus Sicht des DBSV nicht ausreichend gewährleistet, dass ein barrierefreier Zugriff möglich ist. Zwar sind die Krankenkassen bereits aus den Behindertengleichstellungsgesetzen von Bund und Ländern in Verbindung mit der Richtlinie (EU) 2016/2102 verpflichtet, Webseiten barrierefrei zu gestalten - und hier dürfte es sich letztlich um eine Webanwendung handeln -, doch benötigen sie dafür die Zuarbeit der GEMATIK, weil nur zugelassene Komponenten nach § 325 zum Einsatz kommen dürfen. Vor diesem Hintergrund ist zu gewährleisten, dass Barrierefreiheit umgesetzt wird.

Zu Artikel 8

Aus Sicht des DBSV ist die Anlage der DiGAV bezüglich der Anforderungen an die Barrierefreiheit unzureichend und unbefriedigend. Erfolgt keine Änderung, können gesetzlich Kranken- und Pflegeversicherte nicht von den für alle Versicherten vorgesehenen Leistungen profitieren. Das wiederum stellt eine Ungleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen dar und zwar einmal dadurch, dass behinderten Menschen die für die Allgemeinheit angebotenen Gesundheits- und Pflegeleistungen nicht zur Verfügung stehen und andererseits dadurch, dass diese unzugänglichen Leistungen mit Versicherungsbeiträgen finanziert werden, für die auch behinderte Menschen uneingeschränkt aufkommen.

Gesetzliche Kranken- und Pflegekassen sind verpflichtet, Sozialleistungen – und dazu gehört auch die Versorgung mit digitalen Gesundheits- und Pflegeanwendungen im Rahmen des Anspruchs nach § 33 a SGB V bzw. § 40a SGB XI - in zeitgemäßer Weise (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I) und diskriminierungsfrei (§ 33c SGB I) zur Verfügung zu stellen. Daraus resultiert ein Handlungsauftrag zur Sicherstellung einer barrierefreien Gesundheitsversorgung, der sich auch auf digitale Anwendungen erstreckt.

Aus unserer Sicht erscheint es sinnvoll, die technischen Anforderungen insbesondere aus der BITV 2.0 und der EN 301 549 für mobile Anwendungen abzuleiten (EN 301 549 in der Fassung 2.1.2 (2018-08), Annex A Tabelle A.2. Dieser europäische Standard ist bereits im Rahmen der Umsetzung der EU-Webseitenrichtlinie RL (EU) 2016/2102 als harmonisierte Norm anerkannt, international gebräuchlich und für Entwickler nachvollziehbar.

Dies erfordert, dass digitale Gesundheits- und Pflegeanwendungen wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sind. Für zentrale Navigations- und Einstiegsangebote sowie Angebote, die eine Nutzerinteraktion ermöglichen, beispielsweise die Durchführung von Authentifizierungs- und Identifizierungsprozessen, soll ein höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit angestrebt werden. Das entspricht den Konformitätsstufen AAA der WCAG 2.1.

Im Übrigen ist der Stand der Technik anzuwenden, soweit Nutzeranforderungen oder Teile von Angeboten, Diensten oder Anwendungen nicht erfasst sind.

Auf der Website der Überwachungsstelle des Bundes nach § 13 Abs. 3 BGG werden regelmäßig aktuelle Informationen zur EN 301 549 in deutscher Sprache, den zu beachtenden Standards zur Barrierefreiheit, Konformitätstabellen, die einen Überblick zu den wichtigsten Barrierefreiheitsanforderungen geben und weiterführende Erläuterungen veröffentlicht. Dem BfArM wird so auch eine Nachprüfbarkeit der Herstellerangaben möglich.

Zudem ist sicherzustellen, dass nicht nur die Usability Guidelines, sondern auch die Accessibility Guidelines der Plattformen befolgt werden.

Zu streichen ist aus unserer Sicht die Anforderung: „Ja, die digitale Gesundheitsanwendung bietet spätestens ab dem 1. Januar 2021 Bedienhilfen für Menschen mit Einschränkungen oder unterstützt die durch die Plattform angebotenen Bedienhilfen.“ Diese Formulierung würde es ermöglichen, dass Hersteller eigene Bedienungshilfen integrieren, also z. B. eigene Screenreader implementieren. Das wird von blinden und sehbehinderten Menschen kritisch gesehen. Zum einen können die allgemein verfügbaren Screenreader – anders als App-abhängige Speziallösungen - an die Bedürfnisse angepasst werden (z. B. Geschwindigkeit, wie viele Zeichen werden mit vorgelesen etc.). Zum anderen ist ein App-eigener Screenreader kritisch, weil er mit dem Standard-Screenreader des Smartphones kollidieren kann. Dass Bedienhilfen unterstützt werden müssen, sollte besser über eine andere Formulierung abgesichert werden.

 

Anlage 2 könnte in Bezug auf den Abschnitt zur Barrierefreiheit wie folgt neu gefasst werden:

 

„Ist die digitale Gesundheitsanwendung barrierefrei und nutzerfreundlich?

  1. ja, die digitale Gesundheitsanwendung ist wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestaltet; die Anforderungen für mobile Anwendungen nach Maßgabe der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) und der EN 301 549 in der Fassung 2.1.2 (2018-08), Annex A, Tabelle A.2 werden erfüllt.
  2. Ja, die Usability- und Accessibility Styleguides der jeweiligen Plattform für mobile Anwendungen sind vollständig umgesetzt, oder es wurden alternative Lösungen umgesetzt, für die im Rahmen von Nutzertests eine besonders hohe Nutzerfreundlichkeit nachgewiesen werden konnte.
  3. Ja, zentrale Navigations- und Einstiegsangebote sowie Angebote, die eine Nutzerinteraktion ermöglichen, wie Formulare und die Durchführung von Authentifizierungs-, Identifizierungs- und Zahlungsprozessen erfüllen ein höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit im Sinne der Konformitätsstufe AAA der WCAG 2.1.
  4. Ja, die Barrierefreiheit der digitalen Gesundheitsanwendung wurde im Rahmen von Tests mit die Zielgruppe repräsentierenden Fokusgruppen von Menschen mit Behinderungen bestätigt.
  5. Ja, die leichte und intuitive Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der digitalen Gesundheitsanwendung wurde im Rahmen von Tests mit die Zielgruppe repräsentierenden Fokusgruppen bestätigt.
  6. Ja, die digitale Gesundheitsanwendung kann von einer Plattform barrierefrei heruntergeladen werden."