DBSV-Stellungnahme zum Referentenentwurf der Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV)

Ziel der Verordnung

Mit der DiGAV soll das Nähere zum Verfahren und zu den Anforderungen der Prüfung der Erstattungsfähigkeit digitaler Gesundheitsanwendungen in der gesetzlichen Krankenversicherung geregelt werden. Rechtsgrundlage für den Anspruch der Versicherten auf digitale Gesundheitsanwendungen ist § 33a SGB V. Die Verordnung definiert ergänzende Anforderungen u. a. an die Funktionstauglichkeit. Den Herstellern digitaler Gesundheitsanwendungen soll es gleichzeitig möglich werden, die Anforderungen bereits bei der Produktentwicklung zu berücksichtigen und umzusetzen.

Barrierefreiheit muss in den Anforderungskatalog aufgenommen werden!

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband, Spitzenverband der rund 1,2 Mio. blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland, fordert nachdrücklich, dass die neu entstehenden digitalen Angebote im Gesundheitsbereich für Menschen mit Behinderungen barrierefrei zugänglich und nutzbar sind, um jetzt und in der Zukunft niemanden von Gesundheitsleistungen und Patientenrechten auszuschließen.

Vor diesem Hintergrund sehen wir dringenden Nachbesserungsbedarf am vorgelegten Entwurf.

Zwar ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass der Verordnungsentwurf in § 25 Abs. 5 die Barrierefreiheit des Verzeichnisses der digitalen Gesundheitsanwendungen ausdrücklich regelt. Das ist aber ohnehin gesetzlich geboten, weil das BfArM eine öffentliche Stelle des Bundes im Sinne von § 12 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und damit bereits gesetzlich verpflichtet ist, seine Websites einschließlich der Inhalte barrierefrei zu gestalten (§ 12a ff. BGG).

Dieses Verzeichnis allein hilft den Versicherten mit Behinderungen im Übrigen nicht weiter, wenn es um die Nutzbarkeit der digitalen Gesundheitsanwendungen selbst geht. Hier fehlen bislang Anforderungen an die Barrierefreiheit. Die in Anlage 2 zu § 9 vorgesehene Abfrage, ob es spezielle Bedienungshilfen für behinderte Menschen gibt, ist insoweit unzureichend.

Vielmehr müssen im Verordnungstext unter Berücksichtigung der einschlägigen technischen Standards konkrete Anforderungen an die Barrierefreiheit aufgenommen werden. Hierzu könnte § 9 der Verordnung wie folgt neu gefasst werden:

㤠9 - Anforderungen an Nutzerfreundlichkeit und Barrierefreiheit

  • (1)  Digitale Gesundheitsanwendungen sind von dem Hersteller so zu gestalten, dass die Versicherten diese leicht und intuitiv bedienen können.
  • (2) Digitale Gesundheitsanwendungen sind nach Maßgabe von § 12a Abs. 1 und 2 des Gesetzes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz - BGG) und der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) barrierefrei zu gestalten. Für zentrale Navigations- und Einstiegsangebote sowie Angebote, die eine Nutzerinteraktion ermöglichen, beispielsweise Formulare und die Durchführung von Authentifizierungs-, Identifizierungs- und Zahlungsprozessen, soll ein höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit angestrebt werden.
  • (3) Das Nähere zu den Anforderungen an die Nutzerfreundlichkeit und die Barrierefreiheit bestimmt sich nach Maßgabe der Anlage 2, deren Umsetzung der Hersteller im Rahmen seines Antrags mittels der entsprechenden Erklärung bestätigt.

Anlage 2 wird wie folgt ergänzt:

Ist die digitale Gesundheitsanwendung barrierefrei?

  1. § 9
    Ja, die digitale Gesundheitsanwendung ist wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestaltet; die Anforderungen für mobile Anwendungen nach Maßgabe der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) und der EN 301 549 in der Fassung 2.1.2 (2018-08), Annex A, Tabelle A.2 werden erfüllt.
  2. § 9
    Ja, zentrale Navigations- und Einstiegsangebote sowie Angebote, die eine Nutzerinteraktion ermöglichen, wie Formulare und die Durchführung von Authentifizierungs-, Identifizierungs- und Zahlungsprozessen erfüllen ein höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit im Sinne der Konformitätsstufe AAA der WCAG 2.1.
  3. § 9
    Die Barrierefreiheit der digitalen Gesundheitsanwendung wurde im Rahmen von Tests mit die Zielgruppe repräsentierenden Fokusgruppen von Menschen mit Behinderungen bestätigt.
  4. § 9
    Ja, die digitale Gesundheitsanwendung kann von einer Plattform barrierefrei heruntergeladen werden.

Im Übrigen ist auch in weiteren Vorschriften darauf zu achten, dass die Barrierefreiheit Berücksichtigung findet. Dies gilt insbesondere für die verbraucherschutzrechtlichen Vorgaben. Informationen zu den digitalen Gesundheitsanwendungen müssen barrierefrei zugänglich sein.

Begründung

Warum sind Verpflichtungen zur Barrierefreiheit notwendig?

In der Begründung zum Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG) heißt es in Nr. 23, zu den Abs. 2 und 3: „Das BfArM prüft vielmehr zusätzliche krankenversicherungsrechtlich begründete Anforderungen an Unbedenklichkeit, Funktionstauglichkeit und Qualität, die nicht bereits im Rahmen der CE-Zertifizierung geprüft werden. Das betrifft nicht zuletzt sozialversicherungsrechtliche Leistungsvoraussetzungen, Anforderungen des Datenschutzes und der Datensicherheit, der Barrierefreiheit sowie ...“

Der gesetzgeberische Wille, Anforderungen an die Barrierefreiheit zu formulieren, muss sich dementsprechend in der konkretisierenden Rechtsverordnung widerspiegeln. Geschieht dies nicht, können gesetzlich Krankenversicherte nicht von für alle Versicherten vorgesehene Leistungen profitieren. Das wiederum stellt eine Ungleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen dar und zwar einmal dadurch, dass behinderten Menschen die für die Allgemeinheit angebotenen Gesundheitsleistungen nicht zur Verfügung stehen und andererseits dadurch, dass diese unzugänglichen Leistungen mit Versicherungsbeiträgen finanziert werden, für die auch behinderte Menschen uneingeschränkt aufkommen.

Gesetzliche Krankenkassen sind verpflichtet, Sozialleistungen – und dazu gehört auch die Versorgung mit digitalen Gesundheitsanwendungen im Rahmen des Anspruchs nach § 33 a SGB V - in zeitgemäßer Weise (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I) und diskriminierungsfrei (§ 33c SGB I) zur Verfügung zu stellen, wobei gemäß § 2a SGB V den besonderen Belangen behinderter Menschen Rechnung zu tragen ist. Daraus resultiert ein Handlungsauftrag zur Sicherstellung einer barrierefreien Gesundheitsversorgung, der sich auch auf digitale Anwendungen erstreckt.

Hinzu kommt, dass laut Gesetzesbegründung zum DVG die Digitalisierung genutzt werden soll, um u. a. den Herausforderungen aufgrund der demographischen Entwicklung und der Zunahme chronisch kranker und letztlich auch behinderter Menschen begegnet werden soll. Dieses Ziel ist aber nur erreichbar, wenn der angesprochene Adressatenkreis – ältere, chronisch kranke und behinderte Menschen – die digitalen Gesundheitsleistungen auch nutzen kann.

Verbindliche Regelungen zur Barrierefreiheit sind auch deshalb erforderlich, weil zu verzeichnen ist, dass die bislang am Markt erhältlichen digitalen Gesundheitsanwendungen für blinde und sehbehinderte Menschen nicht barrierefrei nutzbar sind. Dies wurde zuletzt mit den Erfahrungen zum elektronischen Medikationsplan und den damit in Zusammenhang stehenden weiteren Gesundheitsanwendungen der Apps deutlich. Es ist auch noch kein ausreichendes Bewusstsein und Verständnis auf der Anbieterseite dafür vorhanden, Menschen mit Behinderungen einen ebenso sicheren und dauerhaft zuverlässigen Zugang zu ihren Angeboten zu ermöglichen, wie sie für Menschen ohne Behinderungen verfügbar sind.

Welche Normen sind zur Anwendung zu bringen?

Aus unserer Sicht erscheint es sinnvoll, die technischen Anforderungen insbesondere aus der BITV 2.0 und der EN 301 549 für mobile Anwendungen abzuleiten (EN 301 549 in der Fassung 2.1.2 (2018-08), Annex A Tabelle A.2. Dieser europäische Standard ist bereits im Rahmen der Umsetzung der EU-Webseitenrichtlinie RL (EU) 2016/2102 als harmonisierte Norm anerkannt, international gebräuchlich und für Entwickler nachvollziehbar.

Dies erfordert, dass digitale Gesundheitsanwendungen wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sind. Für zentrale Navigations- und Einstiegsangebote sowie Angebote, die eine Nutzerinteraktion ermöglichen, beispielsweise Formulare und die Durchführung von Authentifizierungs-, Identifizierungs- und Zahlungsprozessen, soll ein höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit angestrebt werden. Das entspricht den Konformitätsstufen AAA der WCAG 2.1.

Im Übrigen ist der Stand der Technik anzuwenden, soweit Nutzeranforderungen oder Teile von Angeboten, Diensten oder Anwendungen nicht erfasst sind.

Auf der Website der Überwachungsstelle des Bundes nach § 13 Abs. 3 BGG werden regelmäßig aktuelle Informationen zur EN 301 549 in deutscher Sprache, den zu beachtenden Standards zur Barrierefreiheit, Konformitätstabellen, die einen Überblick zu den wichtigsten Barrierefreiheitsanforderungen geben und weiterführende Erläuterungen veröffentlicht. Dem BfArM wird so auch eine Nachprüfbarkeit der Herstellerangaben möglich.