DBSV-Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (Teilhabestärkungsgesetz)

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) ist die Interessenvertretung der blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland. Der DBSV begrüßt die mit dem Gesetzesvorhaben vorgesehenen Verbesserungen zugunsten der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Grundsatz ausdrücklich.

Hervorzuheben sind insbesondere:

  • die gesetzlichen Regelungen zum Diskriminierungsschutz beim Zugang zu öffentlichen und privaten Einrichtungen mit Blindenführ- und anderen Assistenzhunden
  • die jetzt beabsichtigte Ausgestaltung des leistungsberechtigten Personenkreises im Recht der Eingliederungshilfe
  • die gesetzliche Klarstellung zum Einsatz von Einkommen und Vermögen volljähriger leistungsberechtigter Personen nach § 142 SGB IX
  • die Verankerung des Gewaltschutzes im SGB IX
  • die Neuregelungen zur Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben.

Jedoch sieht der DBSV in einigen Bereichen dringenden Änderungs- und Ergänzungsbedarf, damit das Gesetz seinem Namen gerecht werden kann. Das betrifft insbesondere

  • die Regelungen zum Verhältnis von Blindenführhunden und anderen Assistenzhunden,
  • die Regelungen zu digitalen Anwendungen in der Rehabilitation und Pflege,
  • den Gewaltschutz sowie
  • die notwendige und bereits angekündigte Erhöhung der Ausgleichsabgabe für Betriebe, die ihrer Beschäftigungspflicht schwerbehinderter Menschen nicht nachkommen.

Im Einzelnen:

Regelungen zum Einsatz von Blindenführhunden und anderen Assistenzhunden (Artikel 9)

Zu § 12e

Der DBSV begrüßt, dass Regelungen zum Einsatz von Assistenzhunden geschaffen werden. Das gilt insbesondere für die normierten Zutrittsrechte mit Blindenführhund oder anderem Assistenzhund sowie der Möglichkeit einer Schlichtung, wenn der Zutritt verweigert wird. Die Einbeziehung auch privater Anbieter in den Regelungsbereich ist dabei ein echter Meilenstein im Teilhaberecht. Die alltäglichen Schwierigkeiten blinder und hochgradig sehbehinderter Menschen, mit ihrem Blindenführhund in Arztpraxen, Geschäfte, Kinos etc. eingelassen zu werden, gehören damit endlich bald der Vergangenheit an.

Der DBSV kritisiert allerdings mit Nachdruck, dass Blindenführhunde, die durch eine gesetzliche Krankenkasse finanziert werden, gem. § 12e Abs. 6 generell keine Assistenzhunde im Sinne des BGG sein sollen. Die Regelung ist nicht sachgerecht und führt zu erheblichen Nachteilen für blinde Menschen.

Die vorgesehene Regelung ist offenbar allein von der Angst gesetzlicher Krankenkassen vor finanziellen Mehrbelastungen getragen. Dabei ist festzuhalten, dass das TSG keinerlei Aussagen zum Leistungsrecht des SGB V oder anderer Rehabilitations- und Sozialleistungsträger macht. Im Gegenteil verdeutlicht die in § 12k vorgesehene Evaluationsstudie, dass mit den Regelungen im BGG gerade keine Aussagen zum Leistungsumfang von Sozialleistungsträgern verknüpft werden sollen. Abgesehen davon hängt die Frage der Leistungserbringung immer davon ab, ob im individuellen Fall die Anspruchsvoraussetzungen des jeweiligen Trägers erfüllt werden.

Für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen verursacht die vorgesehene Regelung in § 12e Abs. 6 erhebliche praktische Nachteile: Wirtschaftsakteure, wie Fluggesellschaften, Ladeninhabern, Restaurantbetreibern oder Akteuren des Gesundheitswesens ist es gleichgültig, wer den Hund finanziert hat. Sie wollen bei der Beurteilung der Zutrittsberechtigung nur wissen, ob es sich um anerkannte Blindenführhunde bzw. andere Assistenzhunde handelt oder nicht. Es könnte für sie der Eindruck entstehen, dass die gesetzlichen Regelungen für Assistenzhunde im BGG einen höheren Rang haben, als die untergesetzlichen Regelungen im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, wie sie für Blindenführhunde etabliert sind. Werden Blindenführhunde aus den Regelungen des BGG also vollkommen ausgeschlossen, droht, dass blinde Menschen weiterhin ganz praktische Probleme haben, z. B. von Fluggesellschaften mitgenommen zu werden.

Um dieses sicher ungewollte Ergebnis zu vermeiden und den Zutrittsrechten nach Abs. 1 praktisch zur Geltung zu verhelfen, bedarf es mindestens nach außen hin einheitlicher Kennzeichen und Dokumente für alle Assistenzhunde, einschließlich der Blindenführhunde - und zwar unabhängig davon, wer diese Hunde finanziert.

Wenn man ernsthaft im Gesetz die sprachliche Spaltung von Blindenführhunden und Assistenzhunden vornehmen will, dann muss § 12e Abs. 4 so ergänzt werden, dass die einheitliche Kennzeichnung alle Assistenzhunde umfasst wird, einschließlich der Blindenführhunde im Sinne von § 12e Abs. 6. Ohne eine solche gesetzliche Klarstellung kann in der Rechtsverordnung keine ausgestaltende Regelung für eine einheitliche Kennzeichnung einschließlich eines personalisierten Ausweisdokuments getroffen werden. Es könnte wie folgt formuliert werden:

„Ein Assistenzhund oder Blindenführhund ist als solcher zu kennzeichnen.“

  • 12l Nr. 3 wäre wie folgt zu fassen:

„3. Näheres über die erforderliche Kennzeichnung des Assistenzhundes oder des Blindenführhundes sowie zum Umfang des notwendigen Versicherungsschutzes“.

Der DBSV weist darauf hin, dass die vorgesehene Regelung in § 12e Abs. 6 zu dem bizarren Ergebnis führt, dass ein durch die GKV finanzierter Hund kein Assistenzhund im Sinne des BGG ist, ein durch die Eingliederungshilfe oder die Beihilfe finanzierter Blindenführhund aber schon. Diese Spaltung läuft den auf europäischer Ebene aktuell verhandelten Normungsprozessen zu Assistenzhunden zuwider, in denen Blindenführhunde selbstverständlich integriert sind. Um es ganz klar zu sagen: Blindenführhunde sind Assistenzhunde.

Aus Sicht des DBSV ist § 12e Abs. 6 neu zu fassen. Um der Situation Rechnung zu tragen, dass Blindenführhunde gemäß § 33 SGB V als Hilfsmittel anerkannt sind und daher bereits etablierte und gute schützenswerte Regelungen zum Versorgungsablauf und zur Qualitätssicherung bestehen, schlagen wir folgende Formulierung vor:

„(6) Für Blindenführhunde und andere Assistenzhunde, die als Hilfsmittel im Sinne des Absatzes 3 Nr. 2 gewährt werden, gelten die §§ 12g, 12i, 12j und die Vorgaben der nach § 12l Nrn. 1, 4, 5 und 6 erlassenen Rechtsverordnung nur insoweit, als keine spezifischen Regelungen des jeweiligen Trägers anzuwenden sind.“

Zu § 12h

Tierschutzgesetz und Tierschutz-Hundeverordnung sind für alle Hundehalterinnen und Hundehalter bindend, gleichgültig, ob sie mit oder ohne Behinderungen leben. Aus diesem Grund ist es nicht erforderlich, die Geltung der tierschutzrechtlichen Regelungen in § 12h zu betonen. Wenn man also an dieser Stelle überhaupt eine Regelung für erforderlich erachtet, um der Sorge um den Tierschutz Rechnung zu tragen, dass Assistenzhunde vernachlässigt oder missbräuchlich ausgenutzt werden könnten, müsste neben der Haltung von Assistenzhunden auch die Ausbildung und Prüfung von Assistenzhunden einbezogen werden. Ansonsten entsteht der Eindruck, dass Menschen mit Behinderungen eine besondere Gefahr für Tiere darstellen. Das wird als Diskriminierung verstanden.

Der DBSV schlägt die folgende Formulierung vor:

„Wer einen Assistenzhund bzw. einen Assistenzhund in Ausbildung hält, ist zur artgerechten Haltung des Hundes verpflichtet.“

Zu § 12k

Wie bei allen Studien haben Studienfrage und Studiendesign entscheidenden Einfluss auf Ergebnis und Brauchbarkeit der Evaluation. Daher sind Assistenzhundhalterinnen und Assistenzhundhalter und die sie vertretenden Organisationen in die Formulierung der Studienfrage und die Erstellung des Studiendesigns einzubeziehen. Auch hier gilt: „Nichts über uns ohne uns.“

Weiterer Änderungsbedarf im Zusammenhang mit Blindenführhunden

Dringenden Handlungsbedarf gibt es in Bezug auf die Futtergeldpauschale für Blindenführhunde.

Gemäß § 14 BVG wird bislang ein Monatsbetrag für fremde Führung geleistet, der jährlich angepasst wird. In der Praxis erlangt die Vorschrift vor allem dadurch an Bedeutung, dass alle gesetzlichen Krankenkassen und die Träger der Eingliederungshilfe blinden Menschen eben diesen Betrag zum Unterhalt eines Blindenführhundes zur Verfügung stellen. In Produktgruppe 07 des nach § 139 SGB V erlassenen Hilfsmittelverzeichnisses heißt es insoweit: „Nebenkosten der Blindenführhundversorgung: Die Krankenkasse übernimmt im Rahmen des § 33 SGB V die dem Versicherten durch die Haltung des Blindenführhundes entstehenden Kosten. Regelmäßig entstehende Kosten (u.a. Futterkosten, Impfkosten, Entwurmung und sonstige Gesundheitsprophylaxe) werden von der Krankenkasse durch Zahlung eines monatlichen Pauschbetrages in Höhe des nach § 14 BVG jeweils gültigen Betrages abgegolten…“

Im Rahmen der Reform zum Sozialen Entschädigungsrecht ist diese Norm ersatzlos gestrichen worden. Damit fehlt ab 2024 eine maßgebliche Referenznorm.

Aus Sicht des DBSV wäre im SGB XIV ein Ersatz für § 14 BVG dringend erforderlich. Der insoweit für Hilfsmittel geltende Verweis ins SGB VII greift zu kurz, weil dort keine verbindlichen Leistungsbeträge vorgesehen sind. Wichtig ist jedenfalls, dass es wie bisher eine akzeptierte Referenznorm gibt, auf die die Krankenkassen im Hilfsmittelverzeichnis verweisen können. Hier bietet sich das SGB XIV an.

Zugang zur Eingliederungshilfe (Artikel 7 Nr. 15 und Artikel 8)

Der DBSV begrüßt ausdrücklich, dass mit dem TSG eine gesetzliche Regelung zur Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe geschaffen werden soll, die die Ergebnisse der Fachdiskussion in der vom BMAS eingesetzten Arbeitsgruppe „Leistungsberechtigter Personenkreis“ umsetzt. Dass die Bundesländer dieser Kompromissregelung laut Stellungnahme des Bundesrates vom 26.03.2021 nun doch nicht zustimmen wollen, betrachtet der DBSV als einen absoluten Vertrauensbruch. Wir unterstellen, dass es hier keineswegs um rechtliche Bedenken hinsichtlich der Regelungskonsistenz geht, sondern allein um den Versuch, die Kostensteigerungen in der Eingliederungshilfe doch noch durch einengende Regelungen beim Leistungszugang zu erreichen. Wir erinnern daran, dass die Frage nach dem Leistungszugang im BTHG-Entstehungsprozess zu einer massiven Verunsicherung behinderter Menschen führte. Diese Unsicherheit muss endlich ein Ende finden, zumal behinderten Menschen mit dem BTHG nicht nur theoretisch mehr ermöglicht, sondern praktisch viel mehr an Bürokratie und Rechtsunsicherheit bei der Anwendung des neuen Rechts zugemutet wird. Wir erinnern auch daran, dass die Frage des Leistungszugangs im BTHG-Entstehungsprozess zu massiven Protesten seitens behinderter Menschen führte. Vor diesem Hintergrund appellieren wir dringend an den Gesetzgeber, im TSG die vorgesehene Regelung zur Neufassung des § 99 zu verabschieden. Sie lehnt sich eng an bekannte Strukturen an und lässt den leistungsberechtigten Personenkreis im Wesentlichen unverändert. Außerdem sorgt die Regelung für den dringend erforderlichen Rechtsfrieden in diesem Bereich.

Da die durchgeführte wissenschaftliche Untersuchung nach Artikel 25 Abs. 5 BTHG in den Jahren 2017 und 2018 zu dem Ergebnis geführt hat, dass das in Artikel 25a BTHG (§ 99 BTHG) vorgesehene Konzept für den leistungsberechtigten Personenkreis in der Eingliederungshilfe zu einer Veränderung des leistungsberechtigten Personenkreises führen würde, ist Artikel 25a BTHG überdies zu streichen.

Digitale Anwendungen in der Pflege und der medizinischen Rehabilitation

Artikel 1 Nr. 18 und 19 sowie Artikel 7 Nr. 8 und 9 sehen die Aufnahme von digitalen Anwendungen in der Pflege und der medizinischen Rehabilitation vor. Zum Einsatz sollen nur solche digitalen Gesundheitsanwendungen kommen, die in das beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte geführte Verzeichnis aufgenommen sind. Der DBSV fordert erneut, dass alle im Verzeichnis gelisteten digitalen Anwendungen durchgehend barrierefrei und insoweit diskriminierungsfrei zur Verfügung stehen, d.h. für Menschen mit und ohne Behinderungen in gleicher Weise nutzbar sind. Hierzu sind die Sozialleistungsträger nach §§ 17 Abs. 1 Nr. 1, 33c SGB I gesetzlich verpflichtet. Bei der Umsetzung müssen die technischen Anforderungen an die Barrierefreiheit, wie sie sich insbesondere aus der BITV 2.0 und aus den europäischen Standards aufgrund harmonisierter Normen - hier etwa der EN 301 549 für mobile Anwendungen – ergeben, zugrunde gelegt werden.

Wichtig ist zudem, dass die Betroffenen Hilfe und Unterstützung beim Einsatz der erforderlichen Hard- und Software sowie Beratung und Schulung im Umgang mit der digitalen Gesundheitsanwendung erhalten. Hierfür wären rechtlich verpflichtende Vorgaben wichtig.

Gewaltschutz (Artikel 7 Nr. 7)

Wir begrüßen, dass der Gewaltschutz für behinderte Menschen im Recht der Rehabilitation und Teilhabe nach § 37 a SGB IX_E durch rechtliche Vorgaben verbessert werden soll. Das ist überfällig. Die vorgesehene Regelung ist jedoch in ihrer konkreten Ausgestaltung zu vage und unbestimmt. Und auch für Rehabilitationsträger wird der „große Spielraum“ betont, ihrer Hinwirkenspflicht zum Gewaltschutz nachzukommen. Aus Sicht des DBSV bedarf es dringend einer Konkretisierung der Vorgaben hinsichtlich des Inhalts und Umfangs, der Verbindlichkeit, der Aktualisierungs- und Berichtspflichten, wirksamer Kontrollmechanismen und Sanktionen. Es ist sicherzustellen, dass Betroffene und ihre Verbände in Erarbeitung und Umsetzung der Gewaltschutzkonzepte durch Leistungserbringer bzw. Rehabilitationsträger verpflichtend einzubeziehen sind.

Ausgleichsabgabe

Es ist aus Sicht des DBSV schließlich dringend an der Zeit, die von Bundesminister Heil am 03.12.2020 öffentlich angekündigte 4. Stufe der Ausgleichsabgabe einzuführen. Diese soll sich auf 720 € belaufen und für all jene Unternehmen gelten, die entgegen ihrer Gesetzespflicht keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen. Der DBSV fordert mit Nachdruck, dass dieses Vorhaben jetzt umgesetzt wird.