DBSV-Stellungnahme zum Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0)
Im vergangenen Jahr ist das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG) geändert worden, um die Richtlinie (EU) 2016/2102 zur Barrierefreiheit von Webseiten und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen umzusetzen. Gesetzliche Verpflichtungen zur Barrierefreiheit erfüllen aber nur dann ihren Zweck, wenn sie auch befolgt werden. Die Voraussetzung dafür sind anwenderfreundliche Regelungen hinsichtlich der konkret einzuhaltenden Standards.
Der vorgelegte Referentenentwurf zur Änderung der auf Grundlage des BGG erlassenen BITV (Artikel 1), die für die konkrete Anwendung in der Praxis eine besondere Bedeutung einnimmt, ist in einem entscheidenden Punkt (Formulierung des § 3) für den DBSV untragbar. Sollte die BITV in der vorliegenden Fassung rechtswirksam werden, dann bedeutet dies einen Rückschritt im Vergleich zum bisher geltenden Recht und es würde auch die Intention der europarechtlichen Vorgaben und der Umsetzungsgesetze, mehr digitale Barrierefreiheit zugunsten von Menschen mit Behinderungen zu schaffen, praktisch verhindert. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich wegen der kurzfristigen Stellungnahmefrist auf § 3 BITV_E, da der Entwurf im Übrigen weitgehend die Zustimmung des DBSV findet.
Die Einbindung harmonisierter Normen
In der derzeit gültigen BITV 2.0 sind die einzuhaltenden Anforderungen in der Anlage 1 konkret aufgeführt. Der Änderungsentwurf sieht nun eine ersatzlose Streichung der Anlage 1 vor. Zur Festlegung der einzuhaltenden Standards zur Barrierefreiheit enthält der Referentenentwurf in § 3 BITV_E stattdessen lediglich einen pauschalen Verweis auf das Amtsblatt der Europäischen Union. Wird dort die Referenz auf eine harmonisierte und damit verbindliche Norm veröffentlicht, dann besteht künftig die Vermutung der Barrierefreiheit, wenn die darin enthaltenen Anforderungen eingehalten werden.
Problematisch ist, dass im Verordnungstext die Angabe der einschlägigen Fundstelle im Amtsblatt ebenso fehlt wie ein Verweis auf die anzuwendende Norm. Ob und wann im Amtsblatt der Europäischen Union eine Referenz auf harmonisierte Normen veröffentlicht, geändert oder aktualisiert wurde, lässt sich der BITV also nicht entnehmen. Das bedeutet ganz praktisch: Um zu erfahren, welchen technischen Standard man wie umsetzen muss, um im Einklang mit deutschem Recht zu handeln, reicht es nicht aus, das BGG und die BITV zu lesen und zu verstehen. Vielmehr ist es künftig erforderlich, zunächst die aktuelle Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union zu ermitteln, diese Norm dann auf einer anderen Webseite zu recherchieren und anschließend zu klären, welche Teile der harmonisierten Norm für welche IKT-Produkte und -Dienste anwendbar sind. Dieser Dreischritt führt zu einer absoluten Intransparenz.
Die als harmonisiert erklärte Norm EN 301 549 (V 2.1.2) vom August 2018 liegt nur in englischer Fassung vor und soll nach Ankündigung des DIN e.V. auch nicht ins Deutsche übersetzt werden, da bereits an einer weiteren Überarbeitung der Norm gearbeitet wird. Wann diese neue Version vorliegt, ist ungewiss. Für die Übersetzung der (nicht mehr aktuellen) Vorgängerversion hat der DIN e.V. mehr als 3 Jahre benötigt. Es steht zu befürchten, dass diese veraltete deutsche Fassung in der Praxis genutzt wird, weil Rechtsanwender die Recherche und damit die Nutzung der englischen Fassung scheuen. Hinzu kommt, dass die Recherche auf den Seiten der EU nicht einmal barrierefrei möglich ist, da die EU selbst an die Vorschriften zur Barrierefreiheit von Webseiten nicht rechtlich gebunden ist.
Aus den folgenden Gründen ist es erforderlich, die harmonisierten Normen in der BITV und deren Fundstelle explizit zu benennen und die einzuhaltenden Standards wie bisher auch in einer Anlage zur BITV auszuweisen:
- Die BITV dient laut § 1 Abs. 2_E dem Ziel, eine umfassende und grundsätzlich uneingeschränkte barrierefreie Gestaltung moderner Informations- und Kommunikationstechnik zu ermöglichen und zu gewährleisten. Intransparente Regelungen, wie in § 3 des Referentenentwurfs vorgesehen, gehen zu Lasten behinderter Menschen. Wenn es gelingen soll, dass Barrierefreiheit ernsthaft und flächendeckend umgesetzt wird, dann müssen die Hürden zur Umsetzung so klein wie möglich gehalten werden. Dafür müssen Anwender schnell, präzise und ohne besonderen Aufwand wissen, was wie mit welchen technischen Standards umgesetzt werden muss.
- Die verpflichteten öffentlichen Stellen müssen rechtssicher direkt aus dem anzuwendenden Gesetz (BGG) und der per Ermächtigungsgrundlage abgeleiteten Rechtsverordnung (BITV) ermitteln können, welche Pflichten sie einzuhalten haben, denn deren Einhaltung wird im Wege eines Monitoring und der Möglichkeit von Individualbeschwerden überprüft und nachgehalten.
- In der Praxis hat sich etabliert, dass es eine Anlage 1 zur BITV gibt, in der die einzuhaltenden Standards dargelegt sind. Es ist erforderlich, dass Anwender an einer ihnen bekannten Stelle auch künftig Referenzen für ihr Handeln finden. Es reicht nicht aus, dass der Bund auf den Internetseiten der Überwachungsstelle künftig einige Informationen bereitstellen will. Ein solches Informationsangebot ist ergänzend sehr zu begrüßen und notwendig. Ein solches Informationsportal aufzubauen ist jedoch eine komplexe, langwierige und dynamische Aufgabe, die einen hohen Personaleinsatz erfordert. Außerdem ist die Bereitstellung der Informationsangebote als Selbstverpflichtung des Bundes nicht rechtlich durchsetzbar. Das Informationsportal ist also kein geeigneter Ersatz für in der BITV zu benennende einschlägige Standards.
- Es gibt aktuell zu wenige Fachkräfte, die barrierefreie Informations- und Kommunikationstechnik erstellen können. Zudem bestehen bei vielen verpflichteten öffentlichen Stellen noch große Umsetzungsdefizite. Nicht nur die Anforderungen nehmen aufgrund der Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben zu, sondern es hat sich auch deutlich der Kreis derjenigen vergrößert, die erstmals ihre Angebote barrierefrei gestalten müssen. In dieser Situation ist es erforderlich, es Rechtsanwendern so leicht wie möglich zu machen, um in der vorgegebenen Zeit zur Umsetzung der Barrierefreiheit zu kommen und so die Teilhabemöglichkeiten von behinderten Menschen in unserer digitalen Gesellschaft (auch das ist ein Ziel der BITV) zu sichern.
- Da die BITV in zahlreichen Bundesgesetzen und vielen Landesbehindertengleichstellungsgesetzen ebenfalls für anwendbar erklärt wird, reicht ihre Bedeutung weit über das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes hinaus. Für eine gleichmäßige Rechtsanwendung muss ihre Vorbildwirkung erhalten und gestärkt werden. Um Barrierefreiheit zu verwirklichen ist es erforderlich, die hierfür einzuhaltenden Anforderungen bereits bei der Planung, Entwicklung, Ausschreibung von IT-Anwendungen und Beschaffung zu berücksichtigen. Dies setzt klare und verbindliche Vorgaben voraus. Die bisher bestehende Möglichkeit für den Bund und die Bundesländer auf die Anlage 1 der BITV zu verweisen, muss erhalten bleiben. Ansonsten drohen aufgrund von späteren Nachbesserungen wegen unklarer und uneinheitlicher Vorgaben erhebliche Mehrkosten.
Fehlende Einbeziehung der WCAG 2.1
Die Regelung in § 3 Abs. 4 BITV_E führt im Vergleich zur bisher geltenden Rechtslage zu einer wesentlichen Verschlechterung. Bislang sollen die durch die BITV verpflichteten öffentlichen Stellen bei der barrierefreien Gestaltung von zentralen Navigations- und Einstiegsangeboten zusätzlich die in der Anlage 1 zur BITV unter der Priorität II aufgeführten Anforderungen und Bedingungen berücksichtigen. Künftig sollen die öffentlichen Stellen nur noch verpflichtet sein, ein höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit anzustreben, ohne dass die hierfür einzuhaltenden Anforderungen benannt werden.
Die Anlage 1 der BITV listet unter der Priorität II bisher die Erfolgskriterien der WCAG 2.0 mit der Konformitätsstufe AAA auf, die in der harmonisierten EN 301 549 (V2.1.2) nicht enthalten sind. Durch das Streichen der Anlage 1 der BITV entfällt auch hier der Verweis auf die einzuhaltenden Anforderungen zur Barrierefreiheit. Die WCAG 2.0 wurden inzwischen durch die WCAG 2.1 aktualisiert und ergänzt. Um sicherzustellen, dass die Anforderungen der WCAG 2.1 mit der Konformitätsstufe AAA berücksichtigt werden, ist es zur Vermeidung von Rückschritten im Vergleich zum bisherigen Recht wichtig, auch diese Anforderungen weiterhin in einer Anlage zur BITV aufzulisten.
Fehlende Einbeziehung der DIN ISO 14289-1
In der Begründung zum Referentenentwurf wird ausgeführt, dass für PDF-Dokumente besondere Anforderungen gelten, die bei der Verwendung dieser Technologie zu beachten sind. Konkret wird auf die funktionalen Anforderungen der DIN ISO 14289 in der jeweils aktuellen Fassung Bezug genommen.
Aus Sicht des DBSV ist es unbedingt notwendig, dass der Verordnungstext selbst die Bezugnahme auf den PDF/UA-Standard DIN ISO 14289-1 enthält. Der Standard ergänzt die EN 301 549 in Bezug auf wesentliche Anforderungen an die Barrierefreiheit von PDF-Dokumenten und Software, die zur Wiedergabe von PDF-Dokumenten bestimmt und geeignet sind. Die Erfüllung dieser Anforderungen ist unverzichtbar, um sicherzustellen, dass der Inhalt von PDF-Dokumenten beispielsweise auch über einen Screenreader vorgelesen werden kann. Wenn nur in der Begründung zur Verordnung auf den PDF/UA-Standard verwiesen wird, dann ist absehbar, dass er in der Praxis nicht angewendet wird. Das wiederum führt dazu, dass IT-Angebote öffentlicher Stellen für behinderte Menschen nicht nutzbar sind. Dies wiederum wiederspricht dem Ziel der BITV „eine umfassende und grundsätzlich uneingeschränkte barrierefreie Gestaltung moderner Informations- und Kommunikationstechnik zu ermöglichen“.
Formulierungsvorschlag
§ 3 Abs. 1 und 2 BITV sollten wie folgt neu gefasst werden:
„(1) Die in § 2 genannten Angebote, Dienste und Anwendungen der Informationstechnik sind barrierefrei zu gestalten. Dies erfordert, dass sie wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sind.
(2) Bei Angeboten, Diensten und Anwendungen der Informationstechnik gemäß § 2 wird die Erfüllung der Anforderungen nach Absatz 1 vermutet, wenn sie mindestens nach Maßgabe der Anlage 1 dem im Amtsblatt der Europäischen Union als Referenz (ABl. L 327/84) veröffentlichten Standard EN 301 549 (V 2.1.2) vom August 2018 und den weiteren in der Anlage 1 aufgeführten Anforderungen entsprechen.“
In Anlage 1 sollten die anzuwendenden Standards in deutscher Sprache unbedingt ausformuliert werden. Es besteht diesseits kein Verständnis dafür, dass sich das BMAS vollkommen abhängig vom DIN e. V. hinsichtlich der Übersetzung der EN-Standards macht. Sollte eine vollständige Abbildung der einzuhaltenden Kriterien absolut nicht möglich sein, sind zur Erleichterung der praktischen Anwendung als Überblick über die einzuhaltenden Standards mindestens die Tabellen A.1 und A.2 des Annex A der EN 301 549 (V2.1.2) ergänzt um die oben skizzierten WCAG-Standards und den PDF/UA-Standard aufzuführen.