DBSV-Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes vom 15.05.2019 für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale Versorgung-Gesetz – DVG)

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband, Spitzenverband der rund 1,2 Mio. blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland, fordert nachdrücklich, dass die neu entstehenden digitalen Angebote im Gesundheitsbereich für Menschen mit Behinderungen barrierefrei zugänglich und nutzbar sind. Die Barrierefreiheit in diesem Bereich muss gesetzlich abgesichert werden, um jetzt und in der Zukunft niemanden von Gesundheitsleistungen, Patientenrechten und beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten im Gesundheitssektor auszuschließen. Vor diesem Hintergrund sehen wir Nachbesserungsbedarf am vorliegenden Referentenentwurf insbesondere in den folgenden Bereichen:

Digitale Gesundheitsanwendungen

Gemäß § 33a SGB V_E sollen Versicherte Anspruch auf digitale Gesundheitsanwendungen erhalten, die die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen unterstützen sollen. Das Nähere zur Zulassung dieser Anwendungen wird in § 139e SGB V_E geregelt. Digitale Gesundheitsanwendungen sollen Teil der vertragsärztlichen Versorgung werden.

Die Zulassungsvoraussetzungen solcher digitalen Anwendungen sind unbedingt an das Erfordernis der Barrierefreiheit zu knüpfen. Das ist weder durch die bislang bestehenden, noch die mit dem Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen gewährleistet.

Zwar sind gesetzliche Krankenkassen an sich als öffentliche Stellen im Sinne von § 12 des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes (BGG) verpflichtet, ihre Webseiten und mobilen Anwendungen barrierefrei zugänglich zu machen (§ 12a ff. BGG). Diese Verpflichtung gilt aber nicht unmittelbar für Leistungserbringer, deren sich Krankenkassen zur Erfüllung ihrer Aufgaben bedienen.

Andererseits sind gesetzliche Krankenkassen verpflichtet, Sozialleistungen – und dazu gehören auch die Leistungen nach § 33a SGB V_E - in zeitgemäßer Weise (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I) und diskriminierungsfrei (§ 33c SGB I) zur Verfügung zu stellen, wobei gemäß § 2a SGB V den besonderen Belangen behinderter Menschen Rechnung zu tragen ist. Daraus resultiert ein Handlungsauftrag zur Sicherstellung einer barrierefreien Gesundheitsversorgung, der sich auch auf digitale Anwendungen erstreckt.

Leider ist zu verzeichnen, dass die bislang am Markt erhältlichen digitalen Gesundheitsanwendungen für blinde und sehbehinderte Menschen nicht barrierefrei nutzbar sind. Dies wurde zuletzt mit den Erfahrungen zum elektronischen Medikationsplan und den damit in Zusammenhang stehenden weiteren Gesundheitsanwendungen der Apps deutlich. Es ist auch noch kein ausreichendes Bewusstsein und Verständnis auf der Anbieterseite dafür vorhanden, Menschen mit Behinderungen einen ebenso sicheren und dauerhaft zuverlässigen Zugang zu ihren Angeboten zu ermöglichen, wie sie für Menschen ohne Behinderungen verfügbar sind.

Wenn digitale Gesundheitsanwendungen nicht barrierefrei gestaltet sind, dann bedeutet das, dass sie von Menschen mit Behinderungen nicht genutzt werden können. Daraus folgt ein Ausschluss von Angeboten, die für alle Versicherten im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung gesetzlich vorgesehen sind. Das wiederum stellt eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung behinderter Menschen dar und zwar einmal dadurch, dass behinderten Menschen die für die Allgemeinheit angebotenen Gesundheitsleistungen gar nicht zur Verfügung stehen und andererseits dadurch, dass diese unzugänglichen Leistungen mit Versicherungsbeiträgen finanziert werden, für die auch behinderte Menschen uneingeschränkt aufkommen.

Ein faktischer Ausschluss von Gesundheitsleistungen aufgrund bestehender Barrieren ist auch nicht mit dem Recht auf Zugänglichkeit und eine gleichberechtigte Gesundheitsversorgung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar. In Artikel 25 UN-BRK heißt es ausdrücklich: „insbesondere stellen die Vertragsparteien Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung wie anderen Menschen“ und weiter: „verbieten die Vertragsstaaten die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in der Krankenversicherung“.

Die Sicherstellung von barrierefreien digitalen Gesundheitsleistungen und -anwendungen ist aber nicht nur wegen der aktuell geplanten digitalen Anwendungen mit niedriger Risikoklasse in den Blick zu nehmen. Vielmehr ist, wie aus der Begründung des Referentenentwurfs deutlich wird, davon auszugehen, dass digitale Gesundheitsanwendungen bei der Prävention, der kurativen Versorgung und der Rehabilitation zunehmend an Bedeutung gewinnen werden. Wird nicht sichergestellt, dass derartige, durch die Versichertengemeinschaft finanzierte Anwendungen für alle Menschen zugänglich sind, dann droht, dass behinderte Menschen dauerhaft auch von zwingend notwendigen Gesundheitsleistungen ausgeschlossen werden. Die Fehler, die bei der baulichen Zugänglichkeit zu Arztpraxen und Therapeuten in der Vergangenheit gemacht wurden, dürfen sich im digitalen Zeitalter nicht wiederholen. Dafür ist durch staatliche Steuerung zu sorgen.

Nach alledem sind klare Vorgaben zur Barrierefreiheit von digitalen Gesundheitsanwendungen erforderlich.

Vor diesem Hintergrund schlagen wir vor, § 139e Abs. 2 Satz 1 SGB V_E wie folgt neu zu fassen:

„(2) Die Aufnahme in das Verzeichnis der digitalen Gesundheitsanwendungen erfolgt auf elektronischen Antrag des Herstellers beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, sofern die Erfüllung der Grundanforderungen an Sicherheit, Funktionstauglichkeit, der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen und Qualität der digitalen Gesundheitsanwendung sowie deren positive Versorgungseffekte nachgewiesen sind.“

Hinsichtlich der einzuhaltenden Standards kann auf die Anforderungen in der Barrierefreie Informationstechnik Verordnung (BITV) verwiesen werden.

Wir erachten es in diesem Zusammenhang für zwingend notwendig, dass die zur Wahrnehmung der Interessen der Patientinnen und Patienten und der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen maßgeblichen Organisationen bei Entscheidungen nach § 139e SGB V_E angemessen beteiligt werden. Die maßgeblichen gesetzlichen Regelungen in § 140f SGB V sind insofern zu ergänzen.

Elektronische Patientenakte

Vorgesehen ist die Ausgestaltung der elektronischen Patientenakte als versichertengeführte Anwendung der elektronischen Gesundheitskarte. Dem Versicherten sollen medizinische Patienteninformationen zur Verfügung stehen. Eingebunden werden soll u. a. der Impfpass, das Zahn-Bonusheft, der Mutterpass und das Untersuchungsheft für Kinder.

Ein barrierefreier Zugriff zur Patientenakte für Versicherte mit Behinderungen muss dabei gewährleistet sein. Das umfasst sowohl die zum Einsatz kommende Software, als auch die eingesetzte Hardware, z. B. in Form spezieller Kartenlesegeräte zur Authentifizierung.

Leider haben unsere Erfahrungen mit den durch einige Krankenkassen bereitgestellten Anwendungen (u.a. Vivy) gezeigt, dass diese nicht für blinde und sehbehinderte Menschen nutzbar sind. Wir fordern daher umso mehr, dass die nach § 291h SGB V_E zur Verfügung gestellte elektronische Patientenakte auch für blinde und sehbehinderte Menschen uneingeschränkt eigenständig nutzbar ist.

In diesem Zusammenhang weisen wir darauf hin, dass die Anzahl von Menschen mit erheblichen Seheinschränkungen aufgrund der zunehmenden Lebenserwartung und der Tatsache, dass Seheinschränkungen vor allem im höheren Lebensalter auftreten, massiv zunehmen wird. Ältere Menschen sind gleichzeitig die Patientengruppe, die besonders stark auf medizinische Leistungen angewiesen ist. Diese Menschen müssen – wie alle anderen auch - die Möglichkeit haben, selbstbestimmt und eigenverantwortlich auf ihre Gesundheitsdaten zugreifen zu können.

Zum anderen ist eine barrierefreie Ausgestaltung der digitalen Infrastruktur einschließlich der Zugriffsmöglichkeit auf die elektronische Patientenakte auch deshalb erforderlich, weil gerade das Gesundheitswesen vielen blinden und sehbehinderten Menschen eine berufliche Perspektive bietet. Als Beispiele seien hier die Heilmittelerbringer (angesprochen sind die für Blinde und Sehbehinderte klassischen Berufsfelder des Masseurs, Physiotherapeuten, Podologen und zunehmend auch Logopäden), die zunehmende Anzahl blinder und sehbehinderter Psychotherapeuten, die Hilfsmittelleistungserbringer oder auch die in der Verwaltung des Gesundheitssektors Berufstätigen erwähnt. All diese Menschen sind in der täglichen beruflichen Arbeit darauf angewiesen, digitale Anwendungen zu nutzen und sie sollen dies durch die vorgesehenen gesetzlichen Regelungen auch verstärkt tun. Es besteht dringender Handlungsbedarf zur Gewährleistung barrierefreier Anwendungen und Bedienmöglichkeiten also auch vor dem Hintergrund der Berufsausübungsmöglichkeiten.