DBSV-Stellungnahme zum Fragenkatalog des Bundesministeriums für Gesundheit zur Vorbereitung eines Referentenentwurfs über die Berufe in der Physiotherapie

Unter den rund 1,2 Mio. blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland sind viele, die auf eine gute physiotherapeutische Versorgung angewiesen sind. Zu den Aufgaben des DBSV gehören aber auch die Sicherung und Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabemöglichkeiten dieses Personenkreises. Vor diesem Hintergrund muss bei einer Reform gelten:

  • Der DBSV lehnt eine Vollakademisierung strikt ab. Es muss weiterhin grundständige Ausbildungen auf Fachschulniveau geben. Eine Teilakademisierung hält der DBSV für sinnvoll.
  • Die Berufe „Masseur und medizinischer Bademeister“ sowie „Physiotherapeut“ müssen uneingeschränkt erhalten bleiben. Blinde und sehbehinderte Menschen müssen weiterhin die uneingeschränkte Erlaubnis für die Ausübung beider Berufe erwerben können und die entsprechende Berufsbezeichnung führen dürfen.
  • Eine inhaltliche wie pädagogische Novellierung des MPhG ist überfällig.
  • Schulgeldfreiheit und Ausbildungsgeld sind sinnvoll, müssen aber für alle Auszubildenden ermöglicht werden.

Der DBSV nimmt zu ausgewählten Fragen Stellung:

Zu Frage 1

Der DBSV lehnt eine Vollakademisierung strikt ab. Für die Berufe „Masseur und medizinischer Bademeister“ und „Physiotherapeut“ muss es weiterhin grundständige Ausbildungen auf Fachschulniveau geben. Eine Teilakademisierung hält der DBSV für sinnvoll, sofern sichergestellt wird, dass sie uneingeschränkt für blinde und sehbehinderte Menschen zugänglich ist.

Begründung

Die Notwendigkeit des Erhalts grundständiger Ausbildungsgänge auf Fachschulniveau begründet der DBSV einmal mit Blick auf die Bedarfe von Patientinnen und Patienten und zum anderen unter dem Gesichtspunkt der beruflichen Teilhabemöglichkeiten blinder und sehbehinderter Menschen.

Patientensicht: Erstens ist festzuhalten, dass der Bedarf an Physiotherapeuten und Masseuren durch eine zunehmend ältere und damit verstärkt auf Gesundheitsleistungen angewiesene Bevölkerung steigen wird. Schon bislang besteht ein erheblicher Fachkräftemangel im Bereich der Gesundheitsberufe. Das führt dazu, dass Patientinnen und Patienten nicht überall ausreichend und bedarfsgerecht versorgt werden können. Eine Vollakademisierung würde die Berufszugangsvoraussetzungen verschärfen. Die Qualifizierung könnte nur noch von Personen angestrebt werden, die über eine Fachhochschul- bzw. Hochschulreife verfügen. Personen mit Haupt- und Realschulabschluss blieben die Ausbildungsgänge verschlossen. Allein das würde sich negativ auf den dringenden Fachkräftebedarf auswirken. Zweitens arbeiten Physiotherapeuten und Masseure in praktischen Berufen am Patienten bzw. Rehabilitanden. Dem muss die Ausbildung Rechnung tragen. Die notwendigen Kompetenzen für die berufliche Tätigkeit können aus Sicht des DBSV besser in den Berufsfachschulen im Rahmen einer Fachschulausbildung vermittelt werden. Kompetenzen zum wissenschaftlichen Arbeiten, wie sie primär in akademischen Settings vermittelt werden, sind nur für einen Teil der Berufstätigen erforderlich. Drittens: Wenn man die Akademisierung vorantreiben will, weil man sich davon eine erhöhte Attraktivität des Berufsbildes verspricht, so müsste man gleichzeitig deutlich die Vergütungsstrukturen ändern. Das wiederum hat finanzielle Auswirkungen für die Versicherten, und damit auch auf die Patientinnen und Patienten, die mit erhöhten Beiträgen in der Krankenversicherung rechnen müssten.

Teilhabe am Arbeitsleben: Massage und Physiotherapie gehören zu den wichtigsten Berufsfeldern für blinde und sehbehinderte Menschen. 90 % der Absolventen finden sofort einen Arbeitsplatz. Bei einer Beschäftigungsquote blinder und sehbehinderter Menschen von unter 30 % ist das von zentraler Bedeutung. Blinde und sehbehinderte Masseure und Physiotherapeuten leisten seit Jahrzehnten einen erheblichen Beitrag zur Fachkräftesicherung im Bereich der medizinisch-therapeutischen Berufe. Ihre Expertise ist anerkannt und wird von den Patientinnen und Patienten geschätzt. Wegen unserer zunehmend älter werdenden Bevölkerung und einem damit zu erwartenden ansteigenden Fachkräftebedarf im Bereich der medizinisch-therapeutischen Berufe sind blinde und sehbehinderte Masseure sowie Physiotherapeuten auch zukünftig unverzichtbar.

Die ganz überwiegende Anzahl blinder und sehbehinderter Menschen, die als Physiotherapeuten oder Masseure/medizinische Bademeister arbeiten, verfügen über einen Haupt- oder Realschulabschluss. Bei einer Vollakademisierung wären sie plötzlich von einem Berufsfeld nahezu gänzlich ausgeschlossen, dass ihnen bislang – anders als nahezu alle anderen Berufe – eine sehr gute Möglichkeit zur Teilhabe am Arbeitsleben bietet. Dazu darf es nicht kommen. Es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass blinde und sehbehinderte Menschen nur außerordentlich geringe berufliche Entfaltungsmöglichkeiten haben, weil sie behinderungsbedingt viele Berufe nicht ausüben können.

Ferner ist zu berücksichtigen, dass Behinderungen meist im Erwerbsleben auftreten. Eine Umschulung als Maßnahme der Rehabilitation wird gefördert. Das gilt bislang aber nicht für akademisch ausgerichtete berufliche Qualifizierungen nach dem Eintritt einer Behinderung als Umschulung. Die maßgeblichen Rehabilitationsträger, insbesondere die Bundesagentur für Arbeit und die Träger der Rentenversicherung, erkennen solche Maßnahmen bislang nicht an. Das bedeutet, dass therapeutische Berufe als Umschulungsmöglichkeit bei einer Vollakademisierung wegfallen.

Die Nachteile einer vollständigen Akademisierung sind zusammengefasst:

  • Ausweitung des Fachkräftemangels insgesamt wegen zu hoher Zugangshürden
  • deutlich weniger Praxisbezug in der Ausbildung
  • Verschließung von Möglichkeiten blinder und sehbehinderter Menschen zur Teilhabe am Arbeitsleben und damit verbunden ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosigkeit dieses Personenkreises
  • fehlende Vergütungsstrukturen für allein akademisch ausgebildete Fachkräfte.

Eine Akademisierung zur Qualifizierung eines Teils der Berufstätigen (etwa 10–20 Prozent) hält der DBSV für sinnvoll. Für die Lehre und die Leitungsebene bietet es sich an, eine Teilakademisierung zu ermöglichen.

Wenn ergänzend die Möglichkeit einer akademisierten Ausbildung geschaffen wird, dann muss auch hier ein uneingeschränkter Zugang für blinde und sehbehinderte Menschen abgesichert werden. Das bedeutet zum einen, dass die Anforderungen zur Teilnahme an den akademischen Ausbildungsgängen auch von blinden und sehbehinderten Menschen erfüllt werden können, womit die konzeptionelle Ausgestaltung ebenso angesprochen ist wie die Anerkennung von erforderlichen Nachteilsausgleichen. Es ist zum anderen zwingend notwendig, dass neu entwickelte Studiengänge von den zuständigen Rehabilitationsträgern als Rehabilitationsmaßnahme anerkannt werden, damit blinden und sehbehinderten Menschen die behinderungsbedingt entstehenden Mehraufwendungen finanziert werden.

Zu Frage 2

Wie unter Bezugnahme auf die Beantwortung von Frage 1 ausgeführt, hält der DBSV den Erhalt einer Ausbildung auf Fachschulniveau für unbedingt erforderlich. Die bisherigen Zugangsvoraussetzungen sind zu erhalten. Das heißt, auch Menschen, die über einen Haupt- oder Realschulabschluss verfügen, muss der Zugang zu den physiotherapeutischen Berufen erhalten bleiben.

Zu Frage 3

Beide Berufe, das heißt, „Masseur und medizinischer Bademeister“ sowie „Physiotherapeut“ müssen uneingeschränkt erhalten bleiben. Der Beruf des Masseurs und medizinischen Bademeisters darf keinesfalls wegfallen.

Blinde und sehbehinderte Menschen müssen weiterhin die uneingeschränkte Erlaubnis für die Ausübung der Berufe „Masseur und medizinischer Bademeister“ sowie „Physiotherapeut“ erwerben können und die entsprechende Berufsbezeichnung führen dürfen.

Zu Frage 4

Eine Durchlässigkeit von der abgeschlossenen Berufsausbildung zu einem Aufbaustudium ist zu begrüßen. Dabei ist sicherzustellen, dass die abgeschlossene Berufsausbildung immer zu einer Hochschulzugangsberechtigung für entsprechende Aufbaustudiengänge berechtigen muss.

Zu Frage 6

Die dreijährige Ausbildung bei Physiotherapeuten reicht im Rahmen der berufsfachschulischen Qualifizierung grundsätzlich aus. Allerdings ist dringend eine inhaltliche wie pädagogische Novellierung des MPhG überfällig, um moderne Therapiekonzepte und Fragestellungen im Sinne einer wirkungsvollen Patientenversorgung zu implementieren.

Bei einer hochschulischen Qualifizierung muss aufgrund der angedachten theoretischen Schwerpunktsetzung mit deutlich längeren Studienzeiten geplant werden, um die praktische Schulung zu gewährleisten.

Zu Frage 7

Es besteht aus Sicht des DBSV ein Modernisierungsbedarf bei der Weiterentwicklung des Fächerkanons.

Die Weiterbildungen für die sogenannten Zertifikatspositionen sind zumindest teilweise in die Ausbildung zu integrieren. Es wird dringend empfohlen, die Manuelle Therapie künftig direkt zum Ausbildungsinhalt in der Physiotherapie und die Manuelle Lymphdrainage direkt zum Ausbildungsinhalt beim Masseur und medizinischen Bademeister zu machen. Die vorbenannten Qualifikationen gehören heute zur Grundvoraussetzung, um überhaupt beruflich tätig sein zu können. Das gilt für behinderte und nicht behinderte Berufstätige gleichermaßen. Gerade für blinde und sehbehinderte Menschen ist aber die Organisation und Finanzierung eines behindertengerechten Weiterbildungsangebots zum Erwerb der o. g. Zertifikate mit besonderen Hürden verbunden. Die arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen direkt mit der Grundqualifikation zu erwerben, ist daher umso notwendiger.

Zu Frage 8

Solide ist eine praxisorientierte Ausbildung nur im Rahmen einer Teilakademisierung zu gewährleisten. In den Berufsfachschulen befindet sich seit Jahrzehnten die Expertise in der patientenzentrierten praktischen Qualifizierung von Physiotherapeuten. Die Teilakademisierung sichert somit eine, allerdings noch zu modernisierende, adäquate fachpraktische Ausbildung gepaart mit der konsekutiven Erlangung von Kompetenzen für herausgehobene Tätigkeiten (z.B. Lehre, Forschung, Leitung größerer Einrichtungen).

Zu Frage 11

Nein, nicht zwingend: Die deutsche berufsfachschulische Ausbildung qualifiziert hervorragend ausgebildete Physiotherapeutinnen und –therapeuten. Diese muss sich weder inhaltlich noch strukturell hinter den Kompetenzen verstecken, die im Ausland vermittelt werden. Im Gegenteil, in Deutschland wird wesentlich praxisnäher an den Berufsfachschulen ausgebildet.

Zu Frage 12

Der DBSV lehnt eine Vollakademisierung ab.

Für die Lehre und die Leitungsebene bietet es sich an, eine Teilakademisierung zu ermöglichen.

Zu Frage 13

Der DBSV lehnt eine Vollakademisierung ab. Daher stellt sich die Frage nach Bestandsschutzregelungen für den Verband nicht.

Zu Frage 14

Masseure und medizinische Bademeister leisten einen wichtigen und hochwertigen Beitrag im Kontext der therapeutischen Versorgung in Deutschland. Wichtige Aspekte sind hier:

Es handelt sich um ein europaweit fast einmaliges Berufsprofil, welches unter anderem im Kontext des bundesweiten Fachkräftemangels bei Physiotherapeuten an Bedeutung gewonnen hat und weiter gewinnen wird.

Das Berufsbild ist unbedingt zu erhalten, aufzuwerten und inhaltlich wie pädagogisch weiterzuentwickeln. So können auch mehr Aufgaben von dieser Berufsgruppe übernommen werden. Denkbar ist, dass z.B. sämtliche passive Maßnahmen, aber auch ein Teil der aktiven (Bewegungsbäder, Gruppentherapie, Bewegungserziehung u.a.) von dieser Berufsgruppe erbracht werden.

Der Zugang zu diesem Beruf muss unbedingt für untere Bildungsabschlüsse (Hauptschule) offenbleiben.

Darüber hinaus ist für alle Berufe in der Physiotherapie zu berücksichtigen, dass aufgrund des demographischen Wandels der Patientenanteil mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen stetig zunimmt. Es ist längst überfällig, diesem Umstand bei der Festlegung der Ausbildungsinhalte Rechnung zu tragen. Insbesondere ist hier die Vermittlung von Kenntnissen zur ICF und dem biopsychosozialen Modell von Behinderung als Grundlage für das Erbringen von Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe zu nennen. Damit in Zusammenhang stehend ist ein Kompetenzerwerb für eine interdisziplinäre, multiprofessionelle Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams sicherzustellen. Ferner sind die Auszubildenden aber auch im Umgang mit Menschen, die über ganz unterschiedliche Beeinträchtigungen verfügen, zu unterweisen. Dazu gehört die Vermittlung sowohl von Kenntnissen über Beeinträchtigungen, als auch über die sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergebenden Rechte und Anforderungen bis hin zur Kommunikation bei der Behandlung. Um Letzteres mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Physiotherapeuten müssen krankengymnastische Übungen auch gut verbalisieren können, um sie Menschen mit Seheinschränkungen vermitteln zu können.

Auch spielt im Praxisalltag zunehmend eine digitale Kommunikation eine Rolle. Ein Kompetenzerwerb in diesem Bereich muss sich auch in den Ausbildungsinhalten widerspiegeln.

Zu Frage 19

Der Direktzugang ist nicht von formalen Abschlüssen abhängig, sondern vom jeweiligen Berufsprofil und den erlangten Kompetenzen.

Diese sehen wir bei einer inhaltlichen Novellierung des MPhG und der berufsfachschulischen Ausbildung im Fokus.

Zu Frage 20

Die Finanzierung der physiotherapeutischen Berufe (Physiotherapie, Massage/medizinischer Bademeister) darf in keinem Fall den Auszubildenden obliegen.

Zu Fragen 21 und 23

Schulgeldfreiheit und eine Ausbildungsvergütung sind sinnvoll, wenn sie für alle Auszubildenden gleichermaßen erfolgen.

Eine Finanzierung der Ausbildung darf dabei aber nicht allein zu Lasten der Versichertengemeinschaft geschehen. Einer generellen Verschiebung der fachschulischen Ausbildung in die Strukturen der Krankenhausfinanzierung steht der DBSV kritisch gegenüber. Stattdessen sollten die Aufwendungen einer Schulgeldbefreiung und von Ausbildungsvergütungen aus Steuermitteln finanziert werden.

Bei der Einführung von Schulgeldfreiheit und ggf. Ausbildungsvergütungen ist in jedem Fall sicherzustellen, dass die fachgerechte blinden- und sehbehindertenspezifische Ausbildung, die bislang an besonderen Einrichtungen erfolgt und dort unter Einbindung von Auszubildenden ohne Behinderungen weitgehend inklusiv organisiert wird, erhalten bleibt. Wie bislang schon, muss es also auch künftig möglich sein, dass die Berufsförderungswerke inklusive Ausbildungsgänge anbieten können. Eine alleinige Organisation und Finanzierung der Ausbildung über die Krankenhausfinanzierung scheidet vor diesem Hintergrund aus.

Bei einer Schulgeldfreiheit und der Zahlung von Ausbildungsvergütungen müssen die entstehenden Aufwendungen für die Unterrichtung der Teilnehmenden ohne Behinderung unabhängig vom Lernort (also auch bei einer Ausbildung in einer inklusiven Lerngruppe z. B. eines Berufsförderungswerkes) von der öffentlichen Hand getragen werden.