DBSV-Stellungnahme zum Thema Sehhilfen – Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages am 04.11.2020

Gleich vier Anträge der Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestag (BT-Drs. 19/8566, BT-Drs. 19/18913, BT-Drs. 19/6057 und BT-Drs. 19/4316) befassen sich mit Weiterentwicklungsbedarfen bei der Versorgung mit Sehhilfen. Der DBSV ist als Sachverständiger zu einer Anhörung im Gesundheitsausschuss am 04.11.2020 geladen worden und hat zu den Anträgen die folgende Stellungnahme abgegeben:

Der DBSV vertritt als Selbsthilfeorganisation die Interessen von Menschen, die sehbehindert oder blind sind oder deren Erkrankung zur Sehbehinderung oder Erblindung führen kann. Dazu gehört es auch, für eine gute Versorgung mit Sehhilfen einzutreten.

Das Sehen spielt in unserer visuell geprägten Welt mit Abstand für den Menschen die bedeutsamste Rolle bei der Wahrnehmung seiner Umwelt. Ca. 85 % der sinnlich wahrgenommenen Informationen werden visuell erfasst. Schlechtes Sehen führt zu einer massiven, alltäglich und in nahezu allen Lebensbereichen spürbaren Teilhabebeeinträchtigung, wenn kein Ausgleich durch z. B. notwendige Hilfsmittel und Sehhilfen erfolgt. Wenn das Sehen schlechter wird, kommt es häufig zu einer geringeren sozialen Integration, einer geminderten Lebensqualität und einem niedrigeren sozioökonomischen Status. Gleichzeitig führt ein schlechtes Sehvermögen zu einem erhöhten Risiko, weitere Gesundheitsprobleme zu entwickeln oder deren Verlauf negativ zu beeinflussen. Zu nennen sind u. a. erhöhte Sturzgefahr mit typischen Folgeverletzungen, Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische Erkrankungen.

Die besondere Bedeutung des Sehens sowohl für die Bewältigung des Alltags und die gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben als auch für die Vermeidung von Folgeerkrankungen dürfte damit offensichtlich sein. Der DBSV appelliert vor diesem Hintergrund an den Gesetzgeber, in die Bewertung der Anträge sowie die Gesetzesfolgenabschätzung nicht nur die unmittelbaren finanziellen Mehrbelastungen durch einen erweiterten anspruchsberechtigten Personenkreis einzubeziehen. Vielmehr müssen das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe sowie die gesundheitlichen Risiken und deren Folgekosten bei einer kompensierbaren Seheinschränkung mit in den Blick genommen werden.

Dass ein Handlungsbedarf zur Weiterentwicklung des Anspruchs auf Versorgung mit Sehhilfen besteht, macht auch die Tatsache deutlich, dass sich gleich vier Anträge mit dieser Thematik befassen.

Die Anträge im Einzelnen bewertet der DBSV wie folgt:

Drucksache 19/8566 - Verlässliche und bedarfsgerechte Versorgung mit Sehhilfen in der gesetzlichen Krankenversicherung

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zielt darauf ab, perspektivisch wieder allen gesetzlich Krankenversicherten einen Anspruch auf Versorgung mit medizinisch notwendigen Sehhilfen zu verschaffen. Das begrüßt der DBSV ausdrücklich.

Dafür soll in einem ersten Schritt eine Erweiterung des anspruchsberechtigten Personenkreises unter Bezugnahme auf die benötigte Refraktion erfolgen. Diese Vorgehensweise hält der DBSV für plausibel, betont aber, dass es sich insoweit nur um einen Zwischenschritt hin zu einer vollständigen Anspruchsberechtigung aller gesetzlich Krankenversicherten handeln kann. Auch Sehhilfen bei Erwachsenen mit Dioptrien-Werten unter den mit dem Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) festgelegten Grenzen sind für die chancengerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zwingend erforderlich. Die Einschränkung ist umso größer, je größer der benötigte Refraktionsausgleich ist.

Im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses für das HHVG hatte der DBSV ähnliche Vorschläge unterbreitet, wie sie nun von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im ersten Antrag gemacht werden. Der DBSV hatte seinerzeit darauf hingewiesen, dass ab einem bestimmten Korrektionsbedarf ein eigenständiges Leben ohne ständige Unterstützung durch Dritte nicht mehr möglich ist, wenn keine Sehhilfe getragen wird. In diesen Fällen geht es darum, die Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu ermöglichen.

Weiterhin sieht der Antrag der Fraktion vor, bei einem geringeren Refraktionsbedarf zumindest einen Zuschuss i. H. v. 50% der Kosten zu erstatten. Das ist ebenfalls ein wichtiger Schritt.

Mit dem zweiten Antrag fordert die Fraktion eine Regelung zum Schutz vor einer finanziellen Überforderung von Leistungsbezieherinnen und -beziehern nach dem SGB II und SGB XII bei medizinisch notwendigen Sehhilfen. Auch diese Ergänzung ist richtig. An die Beratungsstellen des DBSV wenden sich zunehmend Menschen, die gegenüber der GKV keinen Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen, gleichzeitig hierfür aber hohe Aufwendungen haben. Die Fraktion schlägt zwei Lösungen vor. Zum einen könnte sie sich vorstellen, die Regelungen in der Grundsicherung zu ändern, um Sehhilfen außerhalb des Regelbedarfs zu erstatten. Die Alternative dazu ist, analog zu § 55 Abs. 2 SGB V eine Bezuschussung für Empfängerinnen und Empfänger geringer Einkommen zu etablieren. Der DBSV spricht sich für Alternative 2 aus. Bei den GKVen besteht das fachliche Wissen zu medizinischen Fragestellungen, etwa dazu, ob die Sehhilfe in ihrer konkreten Ausführung notwendig und die Kosten hierfür angemessen sind. Bei Bedarf kann der MDK hinzugezogen werden. Weiterhin ist es so, dass es im SGB V mit der Regelung in § 55 Abs. 2 SGB V im Bereich der zahnärztlichen Versorgung bereits ein Modell für Härtefallregelungen wegen finanzieller Bedürftigkeit gibt. Bei den Sozialbehörden, die mit Grundsicherungsleistungen befasst sind, ist hingegen keine vergleichbare fachliche Kompetenz vorhanden. Hinzu kommt, dass sich viele Betroffene davor scheuen, überhaupt einen Antrag auf Grundsicherungsleistungen zu stellen, obgleich sie einen Anspruch haben. Das trifft im besonderen Maße ältere Menschen mit geringen Renteneinkünften. Schließlich gibt es unter den Personen mit geringen Einkünften viele, die „gerade so“ aus der Grundsicherung ausgenommen sind, bei Finanzierungsbedarfen kostenaufwendiger Anschaffungen, wie zum Beispiel für Sehhilfen, aber überlastet sind. Im Ergebnis erscheint es daher zielführend, die Anspruchsgrundlage im SGB V zu schaffen.

Zurecht weist die Fraktion zudem darauf hin, dass unabhängig von der Frage der Anspruchsberechtigung auch die Höhe der geltenden Festbeträge für Sehhilfen unzureichend ist. Das kann der DBSV mit Blick auf zahlreiche Nachfragen in den Beratungsstellen bestätigen. Die aktuell vom GKV-Spitzenverband geplante Fortschreibung der Festbeträge sieht der DBSV äußerst kritisch. Eine medizinisch notwendige und gleichzeitig zuzahlungsfreie Versorgung sieht der Verband mit den vorgesehenen Festbeträgen auch weiterhin als nicht gewährleistet an, insbesondere für Menschen mit schweren Sehbeeinträchtigungen und komplexen Versorgungsbedarfen. Der DBSV führt die zu niedrigen Festbeträge auf Fehler bei der Kalkulation zurück. Unter anderem werden sowohl Arbeitsaufwand und Betriebskosten der Augenoptikerinnen und Augenoptiker als auch der Anspruch der Betroffenen auf eine qualifizierte Beratung nicht ausreichend berücksichtigt. Kritisch ist auch, dass die zur Bildung des Festbetrags genutzten Grundlagen, also die Materialpreise und die Kalkulation des Arbeitsaufwandes, nicht transparent offengelegt werden. Damit ist es auch dem DBSV nahezu unmöglich, die Festbetragsbildung dezidiert zu bewerten und Kalkulationsmängel offenzulegen. Hier bedarf es dringend einer gesetzlichen Nachsteuerung. Diese muss erstens sicherstellen, dass die Kalkulation der Festbeträge transparent erfolgt und nachvollzogen werden kann. Zweitens stellt der DBSV in Frage, dass für alle Versorgungen mit Sehhilfen eine Festbetragsbildung sinnvoll ist. Mit Festbeträgen sollte eine Steuerung durch eine Wettbewerbssteigerung unter den Anbietern erfolgen. Das mag für Medikamente oder andere Verbrauchsgüter möglich sein, weil letztlich nur der Materialpreis entscheidend ist. Bei vielen Sehhilfen bestimmt sich der Preis ganz wesentlich aber nicht durch den Materialpreis, sondern durch die Dienstleistung am Kunden. Insoweit kann kein Wettbewerb ausgelöst werden bzw. geht der Preiswettbewerb hier zu Lasten der Versicherten, die eine aufwändige und zeitlich intensivere Anpassung benötigen. Hinzu kommt, dass durch die gesetzlich bedingt starke Eingrenzung der Menschen, die überhaupt durch Krankenkassen mit Sehhilfen versorgt werden, dieses Marktsegment für Optikerinnen und Optiker unattraktiv ist. Für sie ist der Verwaltungsaufwand bei der Abrechnung im Vergleich zu den zu erzielenden Zuschüssen der Krankenkassen derart disproportional, dass sie kein Interesse haben, gesetzlich Versicherte zu den Konditionen der Krankenkassen zu versorgen. Sie sind auch nicht darauf angewiesen. Dieser Druck wird an die Versicherten weitergegeben. Leidtragende sind insbesondere diejenigen Versicherten, die keine Standardausführung von Sehhilfen benötigen, sondern mit Blick auf die vorliegende Seheinschränkung einen komplexen Versorgungsbedarf aufweisen.

Den dritten Antrag der Fraktion lehnt der DBSV ab, soweit die Kommission dabei unter anderem auch Empfehlungen entwickeln soll, wie medizinisch notwendige Sehhilfen nicht nur von Augenärztinnen und Augenärzten, sondern auch von hierfür geeigneten und qualifizierten Gesundheitsberufen wie Optikerinnen und Optikern sowie Orthoptistinnen und Orthoptisten verordnet werden sollen. Bereits im Rahmen der Diskussionen um die aufgrund des HHVG erforderliche Änderung der Hilfsmittelrichtlinie hat die Selbsthilfe deutlich gemacht, dass die Verordnung erforderlicher Sehhilfen zwingend durch Augenärztinnen und Augenärzte erfolgen muss. Nur sie können letztlich nach eingehender Untersuchung der Patientinnen und Patienten erkennen, ob eine behandlungsbedürftige Erkrankung vorliegt oder ob ein Ausgleich mit einer Sehhilfe erforderlich ist. Unter einem Verordnungsvorbehalt durch Augenärztinnen und Augenärzte stehen nur noch die Fälle, in denen eine erstmalige oder erneute ärztliche Diagnose oder Therapieentscheidung aus medizinischen Gründen zwingend geboten ist. Dies wurde vom G-BA für den gesamten Bereich der Sehhilfen in der Hilfsmittelrichtlinie zusammen mit der Umsetzung der HHVG-Neuregelung intensiv geprüft. Der augenärztliche Verordnungsvorbehalt wurde für die diesbezüglich in der Hilfsmittel-Richtlinie definierten Sehhilfen-Versorgungen von allen Bänken im G-BA für notwendig erachtet. Wenn die Dioptriengrenze für Erwachsenenbrillen herabgesetzt würde, könnten die bestehenden Regelungen fortgelten.

Drucksache 19/18913 - Sehhilfen als Satzungsleistung – Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung stärken

Auch die FDP-Fraktion fordert in ihrem Antrag Verbesserungen bei der Versorgung mit Sehhilfen. Der Antrag zielt darauf ab, den gesetzlichen Krankenkassen zu erlauben, selbst zu entscheiden, ob und in welchem Umfang sie ärztlich verordnete Sehhilfen als Satzungsleistungen anbieten oder unterstützen möchten.

Der DBSV begrüßt ausdrücklich, dass die FDP-Fraktion Handlungsbedarf bei der Sehhilfenversorgung gesetzlich Krankenversicherter erkennt und einen Vorschlag zur Verbesserung der Situation eingereicht hat. Der DBSV betont gleichzeitig, dass der Gesetzgeber – sollte er diese Möglichkeit schaffen – damit nicht in Frage stellen darf, dass Sehhilfen zu den notwendigen medizinischen Leistungen gehören, die für eine gleichberechtigte Teilhabe unbedingt erforderlich sind. Die Möglichkeit, für Sehhilfen Satzungsleistungen vorzusehen, kann aus Sicht des DBSV also nur ergänzend zu weiteren Maßnahmen (s.o.) genutzt werden. Es darf allerdings bezweifelt werden, dass gesetzliche Krankenkassen dazu beitragen werden, dass die Menschen künftig über eine Satzungsleistung mit Sehhilfen versorgt werden, die am dringendsten darauf angewiesen sind. Über Satzungsleistungen möchten Krankenkassen die für sie attraktiven Mitglieder werben. Einen großen Bedarf an Sehhilfen haben aber vor allem ältere Menschen, die insgesamt gesehen höhere Kosten verursachen, für Kassen also unattraktive Mitglieder sind. Krankenkassen würden also ihr Satzungsangebot im Bereich der Sehhilfen vermutlich eher auf Familienversicherte begrenzen, wie auch die früheren Beispiele zeigen.

Drucksache 19/6057 - Gesundheitsversorgung für alle sichern

Der DBSV nimmt insoweit ausschließlich zum Antrag zu 2 Stellung. Der Antrag der Fraktion Die Linke zielt darauf ab, sofort wieder für alle gesetzlich Krankenversicherten einen Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen zu schaffen. Das begrüßt der DBSV im Ergebnis ausdrücklich, denn Sehhilfen sind für eine gleichberechtigte Teilhabe unbedingt notwendig und es ist nicht einzusehen, dass ausschließlich im Bereich des Sehens die allgemeinen Grundsätze des Behinderungsausgleichs nicht gelten sollen, für alle anderen Bereiche der Krankenbehandlung aber schon.

Drucksache 19/4316 - Beseitigung von Teilhabebeeinträchtigungen aufgrund von Sehschwächen

Zum Antrag zu 1 „auch für Sehbeeinträchtigte mit einem Grad der Behinderung (GdB) unter 30 einen Teilhabeanspruch anzuerkennen“ ist anzumerken, dass die bisherige Systematik des § 33 Abs. 2 SGB V nicht an einen festgestellten Grad der Behinderung, sondern an das Sehvermögen anknüpft. Weshalb diese Systematik aufgegeben werden soll, erschließt sich dem DBSV nicht.

Der Antrag zu 2 „einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem alle Versicherten mit Sehschwächen in der gesetzlichen Krankenversicherung, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, die Kosten für ärztlich verordnete Brillengläser und Brillengestelle entsprechend den Grundsätzen einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung erstattet bekommen“ mag für „Brillenträger“ im Ergebnis wünschenswert sein. Allerdings vermag der DBSV nicht zu erkennen, weshalb die Versorgung mit Brillen gegenüber den weiteren Sehhilfen, wie u. a. Kontaktlinsen vorzuziehen sein soll.