DBSV-Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens

Mit Schreiben vom 13.07.23 ermöglichte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) Verbänden die Abgabe einer Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz – DigiG) bis zum 02.08.23. Der DBSV beteiligte sich mit folgender Stellungnahme.

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) ist Spitzenorganisation der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe und Verbraucherorganisation. Dementsprechend konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen auf ausgewählte Regelungsbereiche, die blinde und sehbehinderte Patienten besonders tangieren.

Der gleichberechtigte Zugang zur Gesundheitsversorgung einschließlich ihrer digitalen Angebote für Patientinnen und Patienten ist ein Menschenrecht. In Artikel 25 UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) heißt es ausdrücklich: „insbesondere stellen die Vertragsparteien Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung wie anderen Menschen,“ und weiter: „verbieten die Vertragsstaaten die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in der Krankenversicherung“.

Digitale Barrierefreiheit muss damit durchgängig gewährleistet werden. Es reicht nicht, einfach das Wort „barrierefrei“ an möglichst vielen Stellen in einem Gesetz zu nennen. Vielmehr muss systematisch sichergestellt werden, dass Barrierefreiheit tatsächlich und vollumfänglich gesichert wird. Immer dann, wenn eine öffentliche Stelle im Sinne von § 12 des Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes (BGG) eine Webseite oder eine App veröffentlicht (dazu gehören insbesondere die Gematik oder gesetzliche Krankenkassen) ist bereits durch das BGG verbindlich vorgegeben, dass diese Angebote barrierefrei entsprechend der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) vom 12. September 2011 (BGBl. I S. 1843) in der jeweils aktuellen Fassung sein müssen.

Rechtslücken entstehen dort, wo Akteure, die keine öffentlichen Stellen im Sinne von § 12 BGG sind, an der Bereitstellung von digitalen Angeboten beteiligt sind. Das betrifft sowohl bestimmte Dienste und Komponenten, die über die elektronische Patientenakte genutzt werden, als auch solche, die bei Videosprechstunden, DMPs oder digitalen Gesundheitsanwendungen zum Einsatz kommen. Es betrifft ebenso die Dokumente und Informationen, die innerhalb der elektronische Patientenakte gespeichert werden. Genau hier muss das SGB V verbindlich vorgeben, dass die hier beteiligten Akteure ihre Angebote barrierefrei im Sinne der BITV gestalten und bereitstellen müssen. Dem wird der vorliegende Referentenentwurf nicht gerecht. Der DBSV vermisst konkrete Vorgaben dazu, wie digitale Barrierefreiheit von allen handelnden Akteuren umzusetzen ist. Es gilt daher erstens vorhandene rechtliche Lücken zu schließen und zweitens Barrierefreiheit auch praktisch um- und durchzusetzen.

Im Einzelnen nimmt der DBSV wie folgt Stellung:

Elektronische Patientenakte und in ihr abgelegte Dokumente

Der flächendeckende Einsatz der elektronischen Patientenakte soll forciert werden. Um diesen Prozess zu erleichtern, soll eine sog. Widerspruchslösung („Opt-Out“) eingeführt werden. Die Nutzung der elektronischen Patientenakte soll aber freiwillig bleiben. Das umfasst sowohl die Entscheidung darüber, ob man die elektronische Patientenakte nutzen will, als auch die Frage, ob Leistungserbringer nur eingeschränkte Zugriffsrechte bzw. Einsichtsrechte erhalten sollen.

Damit einerseits eine echte Freiwilligkeit in Bezug auf die Nutzungsrechte gewährleistet wird und andererseits alle Patientinnen und Patienten einen echten Nutzen von der elektronischen Patientenakte haben, muss sie vollständig barrierefrei gestaltet sein. Ansonsten läuft das Widerspruchsrecht für bestimmte Patientengruppen faktisch ins Leere. Patienten mit Behinderungen wären zudem immer solche „zweiter Klasse“, wenn sie nicht alle Funktionen der elektronischen Patientenakte nutzen und die darin gespeicherten Informationen lesen können wie Menschen ohne Behinderungen auch. Beides ist sowohl verbraucherrechtlich als auch gleichstellungspolitisch inakzeptabel.

Aus Sicht des DBSV besteht eine erhebliche Gesetzeslücke. § 342 Ref_E sieht nur für bestimmte Bereiche vor, dass ein Zugriff barrierefrei möglich sein soll. Die für die elektronische Patientenakte erforderlichen Komponenten und Dienste werden im Übrigen nach § 325 von der Gesellschaft für Telematik zugelassen.

In § 325 SGB V fehlen indes verbindliche Vorgaben für die Barrierefreiheit von Komponenten und Diensten. Diese sind dringend zu ergänzen. Als verbindlicher Standard sind die Vorgaben aus der BITV 2.0 in der jeweils geltenden Fassung abzufordern. Dieser Standard greift zum einen auf internationale Grundlagen zurück (WCAG) und er ist auch für alle öffentlichen Stellen, wenn sie selbst Angebote machen, verbindlich. Es wäre nicht nachvollziehbar, dass eine Krankenkasse eine elektronische Patientenakte barrierefrei anbieten muss (dazu ist sie gesetzlich verpflichtet), wegen fehlender Vorgaben in § 325 SGB V aber nicht sichergestellt ist, dass die eingesetzten Komponenten und Dienste genau diesem Standard entsprechen.

Zudem sind die einschränkenden Verweise in § 342 SGB V aufzuheben.

Zu Artikel 1 Nr. 29: In § 325 Abs 2 SGB V sollte ergänzt werden, dass die Komponenten und Dienste auch barrierefrei nutzbar sein müssen, mindestens aber, dass die Funktionsfähigkeit auch die barrierefreie Nutzbarkeit für Menschen mit Behinderungen umfasst.

In § 325 Abs. 3 SGB V wird festgeschrieben, dass die Funktionsfähigkeit auf der Grundlage der von der Gematik veröffentlichten Kriterien geprüft wird. Damit bedarf es auch veröffentlichter Festlegungen, welche technischen Standards im Kontext Barrierefreiheit anzuwenden sind. Grundlage dafür muss aus Sicht des DBSV die EN 301 549 sein, die Niederschlag in der BITV 2.0 gefunden haben. Deshalb sollte die Regelung in § 325 SGB V um einen Satz ergänzt werden etwa wie folgt: „Maßgeblich für die elektronische Barrierefreiheit ist die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) vom 12. September 2011 (BGBl. I S. 1843) in der jeweils aktuellen Fassung.“

Aus Patientensicht ist zudem wichtig, dass auch alle abgelegten Daten, wie der Medikationsplan oder die Labordaten, um nur Beispiele zu nennen, als solche barrierefrei identifiziert und, soweit sie textbasiert sind, barrierefrei gelesen werden können. Das dient sowohl dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung als auch als Grundlage für Patientensouveränität.

Strukturelle Verankerung von Barrierefreiheit – Erweiterung des Digitalbeirats

Zu Artikel 1, Nr. 28: Der DBSV regt dringend an, dass der Digitalbeirat auch zu Fragen der Barrierefreiheit berät und dies auch gesetzlich festgeschrieben wird. Außerdem sollte der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen in diesem Beirat gesetzlich verpflichtend vertreten sein, da das Wissen um und die Sensibilität für das Thema Barrierefreiheit bislang vollkommen unzureichend strukturell verankert sind.

Digitale Weiterentwicklung von strukturierten Behandlungsprogrammen

Als neues Angebot neben den bestehenden strukturierten Behandlungsprogrammen werden zukünftig strukturierte Behandlungsprogramme für Versicherte mit Diabetes mellitus mit digitalisierten Versorgungsprozessen eingeführt. Menschen mit Diabetes haben ein stark erhöhtes Risiko, weitere Behinderungen zu erwerben, insbesondere auch Seheinschränkungen. Schon heute gibt es das Problem, dass medizintechnische Hilfsmittel zur Selbsttherapie des Diabetes von Menschen mit Seheinschränkung nicht genutzt werden können, weil sie nicht barrierefrei sind oder weil Hersteller mit dem Verweis auf Haftungsrisiken die Nutzung durch diese Gruppe ausschließen. Das gilt insbesondere für AID-Systeme. Es droht ganz konkret, dass diese Patientengruppe in absehbarer Zeit gar nicht mehr adäquat versorgt werden kann. Hier ist dringend gesetzgeberisch Abhilfe zu schaffen und die Anbieter von medizintechnischen Hilfsmitteln zur Selbsttherapie von Diabetes zur Barrierefreiheit der Produkte zu verpflichten. Wird der Gesetzgeber nicht aktiv, können diese sehbehinderten Patienten auch nicht von weiterentwickelten digitalen Behandlungsprogrammen profitieren. Diese Ungleichbehandlung ist unbedingt zu beenden und für alle Patienten mit Diabetes ist eine gleichwertige Versorgung sicherzustellen.

Digitale Gesundheitsanwendungen

Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) sollen künftig noch stärker genutzt werden. Von ihrer Nutzung sind Menschen mit Behinderung teilweise ausgeschlossen, weil es an der Barrierefreiheit mangelt. Das musste der DBSV im Rahmen von Tests der aktuell am Markt angebotenen Anwendungen leider feststellen.

Bislang fehlen in der Digitale Gesundheitsanwendungen-Verordnung einschlägige Anforderungen an die Barrierefreiheit, wenn es um die Nutzbarkeit digitaler Gesundheitsanwendungen geht.

Wenn digitale Gesundheitsanwendungen nicht barrierefrei gestaltet sind, dann bedeutet das, dass sie von Menschen mit Behinderungen nicht genutzt werden können. Daraus folgt ein Ausschluss von Angeboten, die für alle Versicherten im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung gesetzlich vorgesehen sind. Das wiederum stellt eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung behinderter Menschen dar und zwar einmal dadurch, dass behinderten Menschen die für die Allgemeinheit angebotenen Gesundheitsleistungen gar nicht zur Verfügung stehen und andererseits dadurch, dass diese unzugänglichen Leistungen mit Versicherungsbeiträgen finanziert werden, für die auch behinderte Menschen uneingeschränkt aufkommen.

Die in Anlage 2 zu § 5 Abs. 6 der DIGAV vorgesehene Abfrage, ob es spezielle Bedienungshilfen für behinderte Menschen gibt, ist unzureichend. Vielmehr müssen im Verordnungstext unter Berücksichtigung der einschlägigen technischen Standards konkrete Anforderungen an die Barrierefreiheit aufgenommen werden. Hierzu könnte § 5 Abs. 6 der Verordnung wie folgt neu gefasst werden:

§ 5 (6) Digitale Gesundheitsanwendungen setzen Anforderungen an die Barrierefreiheit und Nutzbarkeit unter Beachtung folgender Maßgaben um:

  1. Digitale Gesundheitsanwendungen sind von dem Hersteller so zu gestalten, dass die Versicherten diese leicht und intuitiv bedienen können.
  2. Digitale Gesundheitsanwendungen sind nach Maßgabe von § 12a Abs. 1 und 2 des Gesetzes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz - BGG) und der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) vom 12. September 2011 (BGBl. I S. 1843) in der jeweils aktuellen Fassung barrierefrei zu gestalten. Für zentrale Navigations- und Einstiegsangebote sowie Angebote, die eine Nutzerinteraktion ermöglichen, beispielsweise Formulare und die Durchführung von Authentifizierungs-, Identifizierungs- und Zahlungsprozessen, soll ein höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit angestrebt werden.
  3. Das Nähere zu den Anforderungen an die Nutzerfreundlichkeit und die Barrierefreiheit bestimmt sich nach Maßgabe der Anlage 2, deren Umsetzung der Hersteller im Rahmen seines Antrags mittels der entsprechenden Erklärung bestätigt.

Anlage 2 wäre etwa wie folgt zu ergänzen:

Ist die digitale Gesundheitsanwendung barrierefrei?

  1. § 5 Abs. 6 Ja, die digitale Gesundheitsanwendung ist wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestaltet; die Anforderungen für mobile Anwendungen nach Maßgabe der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) und der EN 301 549 in der Fassung 3.2.1 (2021-03), Annex A, Tabelle A.2 werden erfüllt.
  2. § 5 Abs. 6 Ja, zentrale Navigations- und Einstiegsangebote sowie Angebote, die eine Nutzerinteraktion ermöglichen, wie Formulare und die Durchführung von Authentifizierungs-, Identifizierungs- und Zahlungsprozessen erfüllen ein höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit.
  3. § 5 Abs. 6 Die Barrierefreiheit und Usability der digitalen Gesundheitsanwendung wurde im Rahmen von Tests mit einer die Zielgruppe repräsentierenden Fokusgruppen von Menschen mit Behinderungen bestätigt.
  4. § 5 Abs. 6 Ja, die digitale Gesundheitsanwendung kann von einer Plattform barrierefrei heruntergeladen werden.