Stockkampf mal anders – Ju-Jutsu für Blinde

Wenn der Stock zur Waffe wird - befindet man sich vielleicht gerade in einer Übungsstunde des philippinischen Eskrima, tanzt den brasilianischen Kampftanz Maculelé oder schaut einen Kung-Fu-Film. Stockkampf wird in ganz verschiedenen Kampfkünsten überall auf der Welt praktiziert, mal mit einem dünnen Stab, mal mit einer Art Gehstock oder auch mit einer beachtlichen Stange. Blindenstöcke würde man auf der Liste potentieller „Waffenmodelle“ wohl eher nicht erwarten. Und doch spielen sie eine Rolle – wenigstens in einem Ju-jutsu-Kurs, in dem Blinde Selbstverteidigung lernen können.

„Das hat mich interessiert: Wie kann ich mich als Blinde verteidigen, wenn mir jemand auf die Pelle rückt?“ sagt Nicole Bittner aus Nürnberg. Die 31-Jährige ist beim Stöbern im DBSV-Jugendkalender ganz zufällig auf das Angebot gestoßen. Ein ängstlicher Typ ist die Telefonvermittlungsangestellte des Finanzamts nicht – Sehende werden statistisch häufiger angegriffen als Blinde und sie selbst hat schon einmal durch selbstbewusstes Auftreten einer verbalen Attacke getrotzt -, aber die Sache mit der Selbstverteidigung fasziniert sie schon länger. Nach der Teilnahme an einem ganz „normalen“ Ju-jutsu-Schnupperkurs bei ihr um die Ecke ist die Teilnahme an diesem speziellen Angebot nur naheliegend.

Ju-jutsu ist keine jahrtausendealte asiatische Kampfkunst, sondern wurde Ende der 60er Jahre in Deutschland entwickelt. Es ist ein modernes, flexibles Selbstverteidigungssystem, das die effektivsten Techniken aus ganz verschiedenen Kampfkunst- und Kampfsportstilen miteinander vereint; Schläge und Tritte aus dem Karate, Würfe aus dem Judo und Hebel aus dem Aikido. Nicht zuletzt wegen seiner Effektivität und individuellen Kombinierbarkeit der einzelnen Elemente wird Ju-jutsu heute unter anderem an Polizeischulen gelehrt.

Carsten Prüßner hat sich allerdings auf Menschen mit Behinderung spezialisiert. Zusammen mit drei weiteren Trainern gibt er Nicole und den anderen Kursteilnehmenden von Donnerstag bis Sonntag einen Einblick in die Möglichkeiten des Ju-Jutsu im Allgemeinen – und für Blinde im Besonderen. Wie das mit dem Stock als Verteidigungsmedium so gehen kann, macht Nicole an einem alltagspraktischen Beispiel deutlich: „Wenn jemand mich am Hals packt, nehme ich meinen Stock in beide Hände, ziehe sie kräftig nach unten zu meinen Schultern und drücke mit dem Stock fest auf die Hände des Angreifers. Dann tut’s dem Angreifer ja weh und er lässt erst einmal automatisch los!“

Schon das Verdrehen oder Überstrecken von Gelenken kann nach der Philosophie Carsten Prüßners einen großen Effekt haben. Denn Angreifer suchen mit Vorliebe unter den vermeintlich Schwachen nach möglichst wehrlosen Opfern. Setzen sich diese zur Wehr oder fügen ihnen sogar Schmerzen zu, erzeugt das einen Respekt beim Angreifer, der mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass er von weiteren Schritten absieht. Wer mit dem guten Gefühl durch die Welt geht, sich zur Not verteidigen zu können, bekommt darüber hinaus eine Ausstrahlung, die potentielle Täter schon im Voraus abschreckt.

Dafür heißt es erst mal üben! Auf dem Trainingsplan stehen auch allgemeine Ju-jutsu-Übungen – etwa selbst jemanden zu Fall bringen -, Krafttraining, Yoga und Gymnastik.

„Die Trainer haben uns das alles gezeigt“, erklärt Nicole, „und wir haben das aneinander geübt.“ Menschenscheu oder Angst vor Körperkontakt sollte man bei dieser Sportart nicht haben, findet die 31-Jährige.

Darüber hinaus konnten die Teilnehmenden auch ganz andere Sporterfahrungen machen. Ein Trainer aus Hamburg zeigte ihnen die in Deutschland noch neue Sportart Blindentennis, ein anderer ließ sie gleich einen inklusiven Parcourslauf absolvieren. „Ein paar Jungs und Mädels hatten einen Parcours aufgebaut und wollten gucken, wie wir das angehen“ berichtet Nicole, die sich mit ihren Workshopkolleg*innen in Begleitung von drei sehenden  Jugendlichen auf das sportliche Abenteuer einließ. „Das ist für mich Inklusion – nicht drüber reden, sondern einfach machen! Hat mir echt Spaß gemacht!“

Nicole will auf jeden Fall weitermachen. Zwar wird sie Übungen wie Rollen, die man über Kopf machen muss, aus gesundheitlichen Gründen nicht mitmachen dürfen, aber die Sache mit der Selbstverteidigung ist ihr schon wichtig – und die Tatsache, dass es sich um einen Sport handelt, den man nicht allein im Fitnessstudio, sondern im direkten Kontakt mit verschiedenen Menschen ausübt. Leute kennenlernen steht ebenso auf der Liste ihrer Hobbys wie Hörspielhören, Reisen, Schwimmen, Shoppen, freunde treffen und Joggen.

Auch wenn die Ostsee im November zum Schwimmen zu kalt sein wird, bietet der nächste Selbstverteidigungsworkshop im Hotel Timmendorfer Strand der Nürnbergerin die optimalen Voraussetzungen, diese Hobbys auszuüben und gleichzeitig ihren neuen Sport zu praktizieren. Vom 10. bis zum 16.11.2019 heißt es dort wieder „Selbstverteidigung und Fitness für Blinde“. Nicole ist auf jeden Fall dabei!

PS. Wenn ihr auch neugierig geworden seid: Infos zum Kursprogramm und Buchungsdetails bekommt ihr unter info@aura-timmendorf.de oder telefonisch unter: 04503 – 60020