DBSV-Stellungnahme ans Bundesgesundheitsministerium vom 11.07.2016 zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz – HHVG)

Vorbemerkung

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV) ist Spitzenorganisation der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe. Dementsprechend konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen auf ausgewählte Regelungsbereiche, die blinde und sehbehinderte Menschen besonders tangieren. Im Schwerpunkt wird zu den Regelungen zum Hilfsmittelrecht ausgeführt. Im Übrigen schließt sich der DBSV der Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. an.

Zusammenfassende Bewertung

Der DBSV begrüßt die beabsichtigten Regelungen ausdrücklich. Insbesondere mit der Verpflichtung des GKV-Spitzenverbandes, eine regelmäßige Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses sicherzustellen und im Zuge dessen alle Produktgruppen bis 2018 zu überarbeiten, wird einer langjährigen Forderung auch unseres Verbandes Rechnung getragen, etwa für den Bereich der Blindenführhundversorgung (Produktgruppe 99). Hinsichtlich der im Entwurf bereits vorgesehenen Regelungen sehen wir daher nur punktuellen Nachbesserungsbedarf.

Gleichzeitig sieht der DBSV zur Versorgung stark sehbehinderter Patientinnen und Patienten dringenden Handlungsbedarf im Bereich der Sehhilfenversorgung, der im Rahmen der anstehenden Novellierung keinesfalls unberücksichtigt bleiben darf.

Zu den notwendigen Änderungen im Einzelnen

Sehhilfenversorgung (§ 33 Abs. 2 und 3 SGB V)

Mit dem Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz) 2003 wurde in § 33 Abs. 2 SGB V eine Regelung eingeführt, die bei der Berechtigung für die Inanspruchnahme von Sehhilfen zur Verbesserung der Sehfähigkeit allein auf die bestkorrigierte Sehschärfe (Visus) abstellt. Daraus resultiert eine besondere Härte für einen Teil der gesetzlich Krankenversicherten. Betroffen sind Versicherte, die ohne Korrektion, d. h., ohne Brille oder Kontaktlinse, eine massive Sehbeeinträchtigung aufweisen, also nahezu blind sind, mit bestmöglicher Sehhilfenkorrektur aber nicht mehr zum anspruchsberechtigten Personenkreis im Sinne von § 33 Abs. 2 rechnen. Das sind zum Beispiel Patienten mit pathologischer Myopie oder Aphakie (Linsenlosigkeit).

Die in § 33 Abs. 2 getroffenen Regelungen sind, da sie auf ein bestkorrigiertes Sehvermögen (d.h. mit Sehhilfe) mit der bereits hinzugedachten Sehhilfenversorgung abstellen, nur schwerlich mit der Zielsetzung des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V, einen möglichst weitgehenden Behinderungsausgleich zu bewirken, in Einklang zu bringen. Die aktuell bestehende Situation ist mit dem Fall vergleichbar, dass man einem beinamputierten Versicherten die Prothese nicht zur Verfügung stellt, weil er mit der „hinzugedachten“ Prothese ja laufen kann – der unmittelbare Behinderungsausgleich schon bewirkt ist. Dass dieses Ergebnis absurd erscheint, wird wohl niemand ernsthaft bestreiten. Auch der Deutsche Bundestag hat bereits in seinem Bericht vom 06.08.2007 diese Folge bezogen auf die Sehhilfenversorgung als "nicht hinnehmbar" bezeichnet und gesetzgeberischen Handlungsbedarf erkannt (Deutscher Bundestag, Drucksache 16/6270 S. 46).

Aufgrund der wegen der Fehlsichtigkeit erforderlichen hohen Brechkraft der Linse und dem damit eingeschränkteren Angebot an Sehhilfen, fallen in den beschriebenen Fallkonstellationen oft erheblich höhere Kosten an als bei Personen mit leichten oder mäßigen Sehfehlern. Dies bedeutet eine besondere finanzielle Belastung, die die Betroffenen teilweise nicht aufbringen können. Die Problematik betrifft sowohl Personen, die eine Brille benötigen als auch solche, für die eine Kontaktlinsenversorgung im Sinne von § 33 Abs. 3 in Verbindung mit der Hilfsmittelrichtlinie indiziert ist. Die aktuelle Gesetzeslage hat zur Konsequenz, dass Menschen mit einer sehr gravierenden Fehlsichtigkeit, die sich eine Brillen- oder Kontaktlinsenversorgung nicht leisten können, vermeidbare, aber ganz erhebliche Einschränkungen im alltäglichen Leben haben.

Immer wieder kam es daher in den letzten Jahren auch zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Dabei hat das BSG in seinem Urteil vom 23.06.2016 - B 3 KR 21/15 R – jüngst auf folgendes hingewiesen: „Der Gesetzgeber wird sich aber damit auseinanderzusetzen haben, dass sich das Regelwerk der WHO im Jahr 2010 geändert hat, und prüfen müssen, ob das Konzept, das allein auf den Schweregrad der Sehbehinderung abstellt und nicht (auch) auf die mit einer Sehhilfe erreichbare Verbesserung des Sehvermögens, soweit dieses so weit eingeschränkt ist, dass die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ohne Sehhilfe nicht möglich ist, noch dem heutigen Verständnis eines unmittelbaren Behinderungsausgleichs entspricht.“.

Unter Berücksichtigung der funktionellen Beeinträchtigung ohne Sehhilfenversorgung, der beeinträchtigten Körperstruktur und der gravierenden Teilhabeeinschränkung beim Ausbleiben einer Sehhilfenversorgung, ist mit Blick auf die rehabilitative Zielsetzung des SGB V eine Gesetzesänderung unbedingt angezeigt, die diesen Versicherten wieder einen Anspruch auf eine adäquate Sehhilfenversorgung verschafft.

Dabei muss für die Ausgestaltung der gesetzlichen Regelungen handlungsleitend sowohl die präventive, als auch die rehabilitative Zielsetzung des SGB V und des SGB IX maßgebend sein. Zutreffend verweist der vorgelegte Referentenentwurf in der Einleitung darauf, dass im Zuge des demographischen und gesellschaftlichen Wandels der Prävention und Rehabilitation als Teil der Gesundheitsversorgung eine immer größere Bedeutung zukommt. Wörtlich heißt es: „Neben die Behandlung von Akuterkrankungen und Verletzungen treten die Prävention, die Verhinderung des Voranschreitens chronischer Beschwerden sowie die Wiederherstellung verloren gegangener Alltagskompetenzen und Hilfen zur selbstbestimmten Bewältigung der Anforderungen des Alltags auch bei chronischer Erkrankung oder Behinderung. Eine Folge dieser Entwicklung ist die zunehmende Bedeutung von Heil-und Hilfsmitteln für die Gesundheitsversorgung.“

Die Verpflichtung, Leistungen zur (medizinischen) Rehabilitation zu erbringen, ergibt sich leistungsrechtlich aus § 11 Abs. 2 SGB V i. V. m. § 26 ff. SGB IX. Das Ziel der me-dizinischen Rehabilitation, „eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern“ ist ausweislich des § 33 SGB V i. V. m. §§ 26 Abs. 2 Nr. 6, 31 SGB IX auch im Wege der Hilfsmittelversorgung anzustreben. Dieser Grundsatz gilt auch bei Einschränkungen des Sehvermögens und Rehabilitation ist hier besonders wichtig, denn das Sehen spielt in unserer optisch geprägten Welt mit Abstand für den Menschen die bedeutsamste Rolle bei der Wahrnehmung seiner Umwelt. Ca. 85 % der sinnlich wahrgenommenen Informationen werden visuell erfasst. Führt eine Erkrankung dazu, dass der Sehsinn ausfällt oder nur noch sehr eingeschränkt nutzbar ist, bedeutet dies eine massive, alltäglich und in nahezu allen Lebensbereichen spürbare Teilhabebeeinträchtigung. Gleichzeitig führt ein schlechtes Sehvermögen zu einem erhöhten Risiko, weitere Gesundheitsprobleme zu entwickeln oder deren Verlauf negativ zu beeinflussen; zu nennen sind u. a.:

  • erhöhte Sturzgefahr mit typischen Folgeverletzungen,
  • Herz- Kreislauferkrankungen durch eingetretenen Mobilitätsverlust oder fehlende Mög-lichkeiten zur Wahrnehmung von Sport- und/oder Bewegungsangeboten,
  • Fehlernährung durch den Verlust der Kompetenz zum selbstständigen Einkauf, der Zubereitung von Speisen und der adäquaten Nahrungsaufnahme,
  • mittelbare oder unmittelbare psychische Erkrankungen, wie Schlafstörungen, Anpas-sungsstörungen, Depressionen.

Die besondere Bedeutung des Sehens sowohl für die Bewältigung des Alltags und einer gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, als auch für die Vermeidung von Folgeerkrankungen einschließlich der damit verbundenen finanziellen Belastungen der Solidargemeinschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung dürfte damit offensichtlich sein.

Abgesehen von den offensichtlich vor allem fiskalisch motivierten Gesetzesänderungen im Jahr 2003 ist durch die weiterhin vorgesehene Sehhilfenversorgung bei Kindern bis zum 18. Lebensjahr, schwer sehbehinderten Menschen (d.h. sehbehindert auch mit Sehhilfe) und für die Versorgung mit therapeutischen Sehhilfen aber zumindest erkennbar, dass der Gesetzgeber grundsätzlich die medizinische Notwendigkeit für eine Sehhilfenversorgung durch die GKV in besonderen Fallkonstellationen anerkennt.

Will man die Intention aufgreifen, Versicherte nur bei medizinisch/therapeutischem Anlass oder bei gravierenden teilhabeeinschränkenden Auswirkungen mit Sehhilfen zu versorgen, dann muss das bisherige Leistungsrecht zumindest so ergänzt werden, dass als Voraussetzung für den Anspruch auch ein hoher Grad der funktionellen Beeinträchtigung aufgrund der Sehschädigung ohne Korrektur ausreichend ist und zwar unabhängig davon, welches Sehvermögen mit Korrektur erreicht wird. Das ist bei Dioptrienwerten von mindestens 5 Dpt Kurz- oder bei mindestens 5 Dpt. Weitsichtigkeit oder bei mindestens 2,5 DPT Astigmatismus in jedem Fall anzunehmen. Beispiele können aber auch eine zusätzlich bestehende Gehörlosigkeit oder besonders schwerwiegende Beeinträchtigung des Hörvermögens sein, zu deren Ausgleich ein gutes Sehvermögen absolut notwendig ist.

Wird ein Versicherter in diesen Fällen nicht adäquat mit einer Sehhilfe versorgt, ist ihm ein eigenständiges Leben ohne ständige Unterstützung durch Dritte nicht mehr möglich. Diese Person müsste, wenn sie nicht mit einer Sehhilfe versorgt werden kann, Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und/oder Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen, um ihren Alltag organisieren zu können. Das fängt bei der Aufnahme von Informationen (Lesen, Fernsehen etc.) an, setzt sich fort bei der täglichen Selbstversorgung über die eigenständige Mobilität innerhalb und außerhalb der Wohnung bis hin zur beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe. In diesen Fällen geht es also nicht nur darum, einen vollständigen Behinderungsausgleich im Sinne von § 33 Abs. 1 SGB V, sondern bereits die Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu ermöglichen.

§ 33 Abs. 2 Satz 2 ff. SGB V könnte etwa wie folgt neu gefasst werden:

„Für Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, besteht der Anspruch auf Sehhilfen, wenn sie auf Grund ihrer Sehschwäche oder Blindheit, entsprechend der von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung, auf beiden Augen eine schwere Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 aufweisen oder wenn ohne Korrektion auf beiden Augen eine schwerwiegende funktionelle Beeinträchtigung besteht. Das ist insbesondere der Fall, wenn ein Korrektionsbedarf von => 5 Dpt- Myopie oder =>5 Dpt. Hyperopie oder => 2,5 Dpt. Astigmatismus besteht. Anspruch auf therapeutische Sehhilfen besteht unabhängig vom vorhandenen Sehvermögen, wenn diese der Behandlung von Augenverletzungen oder Augenerkrankungen dienen.“

Zuschlagskriterien bei Ausschreibungen (§ 127 Abs. 1b S. 2)

Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass bei Zuschlagsentscheidungen im Rahmen von Ausschreibungen zur Hilfsmittelversorgung künftig auch qualitative Aspekte, wie die Zugänglichkeit für behinderte Menschen, eine Rolle spielen soll. Die Barrierefreiheit, d. h., die Zugänglichkeit für behinderte Menschen, muss allerdings bereits auf Ebene der Leistungsbeschreibung analog § 121 Abs. 2 GWB regelhaft abgesichert werden. Die Pflicht zur Sicherstellung barrierefrei zugänglicher Hilfsmittelversorgungen resultiert aus § 17 SGB I und § 2a SGB V i. V. m. Art. 9, 25 und 26 UN-BRK. Die vorgesehene Einbeziehung des Kriteriums der Zugänglichkeit für behinderte Menschen auf Ebene der Zuschlagskriterien ist ergänzen notwendig, um über diesen Wettbewerb Innovationen in diesem Bereich zu befördern.

Sicherung der Beratungsqualität (§ 127 Abs. 4a)

Die Implementierung verbindlicherer Beratungspflichten durch die Leistungserbringer ist grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings wird bezweifelt, ob Leistungserbringer die richtigen Berater sind, wenn es darum geht „welche Hilfsmittel und zusätzliche Leistungen nach § 33 Absatz 1 Satz 1 und 4 für die konkrete Versorgungssituation im Einzelfall geeignet und medizinisch notwendig sind.“

Der Interessenkonflikt des Leistungserbringers, der als Vertragspartner der GKV seinen Absatz steigern will und dem Versicherten, der eine bedarfsgerechte Versorgung benötigt, bleibt bestehen. Hier wäre es dringend angezeigt, endlich eine unabhängige Beratung und Bedarfsfeststellung sicherzustellen.

Berlin, 11.07.2016