DBSV-Stellungnahme zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der EU-Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste

Vollständiger Titel: „Stellungnahme des DBSV vom 14.07.2016 zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2010/13/EU zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste im Hinblick auf sich verändernde Marktgegebenheiten (AVMD-Richtlinie) – hier: Änderungsvorschlag der Europäischen Kommission vom 25.05.2016“

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV) ist Spitzenverband der blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland und Mitglied der Europäischen Blindenunion (EBU), die sich für die Belange der mehr als 30 Mio. blinden und sehbehinderten Menschen in Europa engagiert.

Der von der europäischen Kommission vorgelegte Entwurf zur Änderung der AVMD-Richtlinie vom 25.05.2016 wird seitens des DBSV hinsichtlich der vorgesehenen Streichung von Artikel 7 massiv beanstandet. Es ist absolut untragbar, dass der Richtlinienentwurf keinerlei Regelungen zur Sicherstellung von Barrierefreiheit mehr vorsieht. Ganz im Gegenteil bedarf es im Rahmen der Revision der AVMD-Richtlinie einer Weiterentwicklung in diesem Bereich.

Begründung:

Der DBSV setzt sich gemeinsam mit der EBU seit Jahren für die Verankerung von vollumfänglicher Barrierefreiheit in der AVMD-Richtlinie ein. Im Rahmen der Anhörung zur Überarbeitung der AVMD-Richtlinie im vergangenen Jahr hat der DBSV eine rechtsverbindlichere Formulierung in Bezug auf die barrierefreie Ausgestaltung audiovisueller Mediendienste und deren Angebote angemahnt (siehe dazu die Stellungnahme des DBSV vom 15.07.2015).

Die Überarbeitung der AVMD-Richtlinie hat das Ziel, Barrieren für Anbieter und Produzenten audiovisueller Medien abzubauen und den Schutz von Konsumenten zu garantieren. Zur Gruppe der Konsumenten gehören in beträchtlichem Maße auch behinderte und ältere Menschen, die auf die Bereitstellung barrierefreier Medienangebote angewiesen sind. In der Streichung der Vorschriften zur Barrierefreiheit sehen wir einen Verstoß gegen die EU-Charta der Grundrechte und gegen die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die die Europäische Union ratifiziert und zu deren vollumfänglicher Umsetzung sie sich verpflichtet hat.

Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit einschließlich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist einer der wesentlichen Pfeiler jeder demokratischen Gesellschaft sowie eine der wichtigsten Bedingungen der Entwicklung und Entfaltung des Einzelnen. Daher kommt diesem ein hoher Stellenwert zu. Insbesondere die Erwägungsgründe 39 und 40 des Entwurfs bringen die besondere Relevanz audiovisueller Mediendienste in diesem Kontext und die daraus abgeleitete Befugnis zur Regulierung deutlich zum Ausdruck.

Das Recht der Meinungsfreiheit und damit auch DER Freiheit, sich zu informieren, kann von behinderten Menschen nur dann gleichberechtigt mit anderen wahrgenommen und gelebt werden, wenn die Informationen – und dazu zählen auch die Angebote der audiovisuellen Mediendienste – in einem für sie zugänglichen Format zur Verfügung stehen. Dementsprechend konkretisiert die UN-BRK, die sowohl für Deutschland, als auch für die Europäische Union verbindlich ist, das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit sowie den Zugang zum kulturellen und politischen Leben wie folgt:

„Artikel 21

(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen das Recht auf freie Meinungsäußerung und Meinungsfreiheit, einschließlich der Freiheit, Informationen und Gedankengut sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben, gleichberechtigt mit anderen und durch alle von ihnen gewählten Formen der Kommunikation im Sinne des Artikels 2 ausüben können, unter anderem indem sie

d) die Massenmedien, einschließlich der Anbieter von Informationen über das Internet, dazu auffordern, ihre Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu gestalten;“

„Artikel 30

(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen

b) Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmen, Theatervorstellungen und anderen kulturellen Aktivitäten in zugänglichen Formaten haben;“

Der zur Begründung des Ausschlusses von Vorschriften zur Absicherung von Barrierefreiheit in der AVMD-Richtlinie vorgebrachte Verweis auf den Rechtsvorschlag der europäischen Kommission eines European Accessibility Acts, ist verfehlt.

Der Vorschlag des European Accessibility Acts sieht in seiner jetzigen Form zwar die rechtsverbindliche Barrierefreiheit von Verbraucherendgeräten mit erweitertem Leistungsumfang in Verbindung mit audiovisuellen Mediendiensten sowie Audiovisuelle Mediendienste und zugehörige Verbraucherendgeräte mit erweitertem Leistungsumfang vor. Es besteht Seitens der unterschiedlichen EU-Institutionen jedoch kein Konsens darüber, dass diese Produkte und Medieninhalte zum Geltungsbereich des European Accessibility Act gehören sollen. Insbesondere gibt es seitens des Europäischen Parlaments Bestrebungen dahingehend, audiovisuelle Mediendienste sowie E-Books aus dem Anwendungsbereich zu streichen und zwar mit Verweis auf die AVMD-Richtlinie. Ob audiovisuelle Mediendienste also überhaupt im Rahmen des European Accessibility Acts berücksichtigt werden, ist damit keineswegs gesichert. Vielmehr droht aktuell, dass weder in der AVMD-Richtlinie, noch im European Accessibility Act Regelungen zur Barrierefreiheit audiovisueller Mediendienste getroffen werden, ein Zustand, der mit Blick auf die Bedeutung audiovisueller Medien (s. o.) absolut untragbar ist.

Ferner ist die Definition von audiovisuellen Mediendiensten und ihrer Produkte im European Accessibility Act bisher wenig aussagekräftig und scheint sich vorrangig auf die Produkte wie Fernseh- und Videoabspielgeräte zu beziehen. Die Barrierefreiheit der Angebote selbst, insbesondere etwa die Zurverfügungstellung von Audiodeskription im Falle sehbehinderter und blinder Menschen, ist keineswegs abgesichert.

Weiterhin heißt es zum Geltungsbereich des European Accessibility Act : „Die vorgeschlagene Richtlinie wird die Barrierefreiheitsanforderungen für ausgewählte Produkte und Dienstleistungen harmonisieren, und diese Barrierefreiheitsanforderungen werden dazu dienen, die Barrierefreiheitspflichten zu konkretisieren, die im EU-Recht (etwa im Bereich des Vergabewesens oder der Struktur- und Investitionsfonds) zwar schon vorhanden, aber nicht genau definiert sind.“ Da der European Accessibility Act also auch konkretisierenden Charakter hat, gibt es keinen Grund, die Vorgaben zur Barrierefreiheit in der AVMD-Richtlinie zu streichen.

Letztlich ist absehbar, dass sich die Verhandlungen zum European Accessibility Act noch über Jahre hinziehen werden und im Anschluss weitere Zeit – nach aktuellem Stand 6 Jahre – für die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht vergeht. Das bedeutet, dass es hier frühestens in 10 Jahren zu verbindlichen Vorgaben kommen kann. Werden die Vorschriften zur Barrierefreiheit in der AVMD-Richtlinie jetzt ersatzlos gestrichen, dann gibt es für behinderte Menschen damit auf unabsehbare Zeit, wenn nicht gar dauerhaft, keinerlei Vorgaben zur Sicherstellung von Barrierefreiheit audiovisueller Medienangebote auf europäischer Ebene. Das schränkt den Konsum und die Nutzung barrierefreier Medieninhalte sowie ihrer Dienstleistungen unangemessen ein und schließt behinderte Menschen von Bildung, kultureller Teilhabe und politischer Meinungsbildung aus.

Es ist damit absolut notwendig, die rechtliche Absicherung der Barrierefreiheit audiovisueller Medien sowie ihrer Dienste in der AVMD-Richtlinie zu belassen und ihre rechtsverbindliche Ausgestaltung noch stärker und mit entsprechenden Zielvorgaben zu hinterlegen. Beide Rechtsakte – also die AVMD-Richtlinie und der European Accessibility Act –, sofern sie auf die Barrierefreiheit der Produkte und Dienste im Audiovisuellen Medienbereich verweisen, können einander nur ergänzen und ihre Rechtsverbindlichkeit verstärken.

Folgende Änderungen der AVMD-Richtlinie sind erforderlich:

  1. Artikel 7 darf nicht gestrichen werden.
  2. Im Rahmen der Revision der AVMD-Richtlinie ist anzustreben, möglichst verbindliche Regelungen zu schaffen, die den kontinuierlichen Ausbau barrierefreier Angebote sicherstellen und zwar über alle audiovisuellen Angebote hinweg. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob es sich um lineare oder nichtlineare audiovisuelle Mediendienste handelt, um welche Inhalte es geht und ob der Anbieter öffentlichrechtlich organisiert ist oder privatrechtlich seine Dienstleistungen zur Verfügung stellt.

Artikel 5:

Es ist sicherzustellen, dass auch Menschen mit Behinderung Zugang zu den dort näher bezeichneten Informationen erhalten. Die Formulierung könnte etwa wie folgt lauten:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die ihrer Rechtshoheit unterworfenen Anbieter audiovisueller Mediendienste den Empfängern eines Dienstes mindestens die nachstehend aufgeführten Informationen leicht, unmittelbar, barrierefrei und ständig zugänglich machen:“

Artikel 7:

Die bisherigen Mechanismen haben nicht dazu geführt, dass ein flächendeckendes, über alle Anbieter und Programmsparten hinweg ausreichendes Angebot mit Audiodeskription zur Verfügung steht. Insbesondere private Mediendiensteanbieter – vor allem in Deutschland – verweigern bislang vollständig Maßnahmen zur Herstellung von Zugänglichkeit ihrer Angebote für blinde und sehbehinderte Menschen. Aus unserer Sicht bedarf es daher verbindlicher Regelungen, die einen kontinuierlichen Zuwachs an Angeboten mit Audiodeskription sicherstellen. Großbritannien ist ein gutes Beispiel dafür, dass verbindliche Quotenregelungen ein geeignetes Instrument zur Erreichung dieses Ziels sind. Anknüpfend an dieses Konzept sollte auch im europäischen Kontext eine Quotenregelung vereinbart werden, um kontinuierlich und rechtsverbindlich zu mehr Barrierefreiheit zu kommen. Quotenregelungen sind der AVMD-Richtlinie im Übrigen nicht fremd (vgl. u. a. Artikel 17)

Weiterhin sollte ausdrücklich klargestellt werden, dass auch audiovisuelle Mediendienste auf Abruf verpflichtet sind, ihre Angebote barrierefrei und möglichst zeitgleich anzubieten.

Schließlich sollte die Verpflichtung zur schrittweisen Herstellung von Barrierefreiheit durch Berichtspflichten der Mitgliedsstaaten und im Wege eines Monitorings ständig überprüft werden, da Artikel 7 ansonsten ein „stumpfes Schwert“ bleibt.

Letztlich darf an dieser Stelle auf den Nutzen barrierefreier Angebote audiovisueller Mediendienste und deren Angebote noch einmal besonders aufmerksam gemacht werden:

Der barrierefreie Zugang zu Medieninhalten bedeutet eine Erschließung neuer Kundenkreise, sowie erleichterte Zugänge und Bedienung für die gesamte europäische Gesellschaft. Barrierefreiheit ist ein Konzept von dem nicht nur behinderte Personen, sondern die Gesellschaft als Ganzes profitiert. Die barrierefreie Gestaltung von Kulturgütern im Zuge der Wettbewerbsvielfalt auf dem europäischen Binnenmarkt steht im Einklang mit den rechtlichen Grundsätzen der europäischen Union und trägt zur Expansion, Pluralität und Teilhabe aller EU-Bürgerinnen und Bürger an Kulturgütern bei. Die Einschränkung des Geltungsbereichs hingegen entzieht der europäischen Industrie neue und wertvolle Kundenkreise, ist technologisch rückschrittlich und verhindert behinderten Europäerinnen und Europäern ihr Recht auf Teilhabe an der kulturellen Vielfalt und gesellschaftlichen sowie politischen Teilhabe.

Berlin, 14.07.2016