EBU Onkyo Braille Essay Contest

Der EBU Onkyo Braille Essay Contest wird jährlich von der japanischen Onkyo Corporation und dem japanischen Braille Mainichi organisiert und in Europa von der Europäischen Blindenunion (EBU) durchgeführt. Er existiert seit 2007 und soll die weltweite Nutzung von Braille fördern.

Schreibwettbewerb 2020: Kreative Überlegungen zur Brailleschrift

45 blinde Menschen aus ganz Europa beteiligten sich am „EBU Onkyo Braille Essay Contest 2020 – Europa“.

Die Gewinner 2020°

Maria Jesus Camares Munoz (Spanien),              Braille and Lockdown  

Viorel Serban (Rummänien),     The Moment That Changes The Course of Life

Amir Gumerov (Russland),        Braille and Music

Andreas Rudisuli (Schweiz),       Is Braille Still Needed Today?

Anne Kochanek (Deutschland), Greetings from Dots

Seb Sloot (Niederlande),            Braille song

Tone Mathieson (Norwegen),   Braille in the Past and Present

Die Beiträge sind zu finden unter
http://www.euroblind.org/campaigns-and-activities/current-activities/braille-promotion#_Onkyo_World_Braille

 

Liebe Grüße von Pünktchen

Meine dünnen Finger, die eines alten Mannes, zittern, als ich den Briefumschlag öffne. Ein festes Blatt Papier fällt heraus. Auf dem Blatt befinden sich Braillepunkte. Meine fast blinden Augen versuchen umsonst, irgendetwas mit den Punkten anzufangen. Die Pflegerin liest mir die Adresse auf dem Couvert vor: „Familie Sonntag. Holzstraße 22.“ Diese Straße liegt nicht weit vom Seniorenheim in der Parkstraße, in dem ich lebe. Aber wer sollte mir schreiben?

Im Radio hatte eine Reporterin für eine Aktion geworben: Kinder schreiben alten Menschen in Seniorenheimen, die, aufgrund der vorherrschenden Coronakrise, derzeitig keinen Besuch empfangen dürfen.

Meine Finger tasten vorsichtig, fast als würden sie die Punkte zerbrechen, über die erste Zeile. „Hallo“, entziffere ich schließlich. Etwas ungeschickt lese ich weiter. „Wir haben vor der Coronakrise in der Schule Blindenschrift durchgenommen. Ein blindes Ehepaar war in unserer Klasse. Sie zeigten uns eine Braillezeile, die man mit einem Laptop oder einem Smartphone koppeln kann. Cool!

Aber zum Ausprobieren hatten wir Punktschriftmaschinen und Alphabete. Am Ende fragte unsere Lehrerin, wer zu Hause weiter die Brailleschrift üben und eine Maschine mitnehmen wollte. Ich habe mich sofort gemeldet.

Dann kam dieses komische Virus und jetzt sitze ich zu Hause. Blindenschrift ist genial und leicht zu lernen. Ein blinder Franzose, der Louis Braille hieß, erfand sie im 19. Jahrhundert, hat das Ehepaar erzählt. Die Schrift heißt genauso wie er. Unsere Lehrerin hat erklärt, dass viele Menschen im Alter schlecht sehen können und erblinden.

Kann jemand von euch Braille? Wenn ja, bitte schreib zurück – in Blindenschrift, wenn du kannst.
Liebe Grüße von Pünktchen.“

Mir schmerzt der Kopf, aber ich habe es nach einer gefühlten Ewigkeit geschafft, den Brief zu lesen! Vor einigen Jahren hatte ein Lehrer mit Engelsgeduld versucht, mir die Brailleschrift schmackhaft zu machen und vor allem, sie mir beizubringen. Ich sträubte mich und versuchte, die Punkte mit den immer schlechter werdenden Augen zu lesen. Schließlich gab ich auf – bis heute.

Das blonde Mädchen mit kleinen Zöpfen reißt den Briefumschlag auf. „Wow“, denkt sie, „jemand hat zurückgeschrieben. In Braille.“ Ihre Augen beginnen die Punkte zu lesen:

„Hallo Pünktchen, danke für deine Post. Ich habe noch Mühe beim Lesen und Schreiben der Schrift, aber ich bin neugierig. Wie alt bist du? Hast du einen Garten, in dem du spielen kannst, wenn du dich in dieser Zeit nicht mit Freunden treffen darfst? Hast du Geschwister?
Liebe Grüße von Ha-Ri.“

„Hi Ha-Ri! Danke für den Brief. Ich bin schon ganz schön schnell auf der Braillemaschine. Nee, einen Garten haben wir nicht. Nur einen Balkon. Ich habe einen kleinen Bruder, Chris. Er ist ‚ne richtige Nervensäge! Bin neun Jahre und 299 Tage. Wie alt bist du?
Liebe Grüße von Pünktchen.
P.S.: Wie macht man ein Smiley in Braille??

„Hallo Pünktchen, Meine Finger werden jeden Tag geübter, im Lesen und im Schreiben. Meine Augen sind fast blind. Einige Buchstaben muss ich im Alphabet nachschauen. Auch ich habe keinen Garten, nur einen kleinen Balkon an meinem Zimmer. Dort sitze ich selten. Ich vertrage die Sonne nicht. Was arbeiten deine Eltern? Ich bin 91.
Liebe Grüße von Ha-Ri.
P.S.: Ein Smiley in Braille kann ich auch nicht schreiben, aber in Gedanken fliegt es zu dir.“

„Hi Ha-Ri! Komischer Name. Mein Onkel heißt Harry. Meine Eltern haben gerade keine Arbeit wegen Corona.Ihr kleiner Laden musste schließen. Darüber sind sie sehr traurig. Mama freut sich, dass wir uns schreiben. Sie sagt, ich wäre dadurch beschäftigt.
Liebe Grüße von Pünktchen.“

„Hallo Pünktchen, schade, dass wir nicht miteinander verwandt sind. Hast du Großeltern oder Urgroßeltern? Leider habe ich keine Urenkelkinder. Ich würde sie verwöhnen und ihnen Geschichten erzählen. Oder ist das heute, wie nennt man es - uncool?“
Liebe Grüße von Ha-Ri.“

„Hallo Ha-Ri! Ich freue mich immer, wenn Post von dir kommt und sonst keiner unserer Briefe lesen kann. Chris sagt, die Maschine klappert so laut. Seine schreckliche Rap-Musik ist noch viel lauter. Sie geht mir auf die Nerven. Und dann diese blöden Texte. Du würdest umfallen! Welche Musik hörst du gern? Volkslieder? Schlager? Hast du eigentlich ein Foto von dir? Schickst du es mir? Ich beschreibe dir, wie ich aussehe: Ich bin eine der kleinsten Mädchen in der Klasse. Ich trage Jeans, ein buntes T-Shirt und eine Brille. Ach ja, ich bin blond und habe kleine Zöpfe. Wenn du mehr wissen willst, schreib es mir.
Liebe Grüße von Pünktchen.“

„Hallo Pünktchen, du bist bestimmt hübsch. Ich habe ein Bild von dir vor meinem inneren Auge. Volkslieder und Schlager habe ich nie gemocht. Ich höre lieber Klassische Musik.
Ein Foto von mir habe ich nicht, aber eins von meiner Tochter. Es ist allerdings schon älter. Unglücklicherweise lebt sie nicht mehr. Ich lege das Foto dem Brief bei. Julia war schön, gescheit und blond – wie du – mit kleinen Zöpfen.
Liebe Grüße von Ha-Ri.“

„Hi Ha-Ri! Ich muss dir was erzählen: Als ich mir gerade das Foto angeschaut habe, kam Mama ins Zimmer. Sie fragte: „Was ist das für ein Foto?“ Ich hielt es ihr hin und erklärte ihr, wer drauf ist. Plötzlich riss sie es mir aus der Hand und schrie: „Nein! Das gibt es nicht! Das glaube ich nicht!“ Dann murmelte sie was von einem roten Mercedes und ihrem Opa, der so stolz auf sein Auto war. „Er ist Auto gefahren, obwohl er nicht mehr gut sehen konnte“, sagte Mama. „Dann der Unfall Vor zehn Jahren. Ich war mit dir schwanger. Julia, meine Mutter, saß mit ihm im Auto und wurde schwer verletzt. Später ist sie im Krankenhaus gestorben.“ Mama hat mich nicht mehr angesehen.
Aber Moment mal Ha-Ri: Das heißt: Du bist mein Uropa? Mama hat mir erzählt, ich habe keine Großeltern und keine Urgroßeltern. du warst doch nicht schuld an dem Unfall, oder? Dir ist sicher jemand reingefahren, stimmt’s? Wurdest du auch verletzt? Mama sagt, ich soll sofort den Kontakt zu dir abbrechen.
Liebe Grüße von Pünktchen.“

„Hallo Ha-Ri! Wie geht es dir? Ich habe die Braillemaschine in den Keller gebracht, in einen kleinen Raum, den nur ich kenne. Warum habe ich nicht gleich dort geschrieben?
Irgendwann komme ich dich besuchen und bringe einen Schokoladenkuchen mit. Selbst gebacken! OK?
Liebe Grüße von Pünktchen.“

Zwei Wochen später, an einem Sonntag Morgen. Das Mädchen mit kleinen Zöpfen steht vor dem Haus. Sie schließt die Augen, hört einer Amsel zu, die ihr Lied aus voller Kehle singt und spürt die Sonne auf ihrem zarten Gesicht.

Eine Frau eilt auf das Haus zu. „Familie Sonntag“ fragt sie, „Bist du Pünktchen? Deinen richtigen Namen weiß ich nicht. Mein Name ist Angela Schmidt. Ich bin Pflegerin im Seniorenheim an der Parkstraße. Das soll ich dir von Hans-Richard Berger geben.“ „Ha-Ri?“, ruft das Mädchen und öffnet die Augen. „wie geht es ihm? Wieso hat er nicht mehr geschrieben? Ist er krank?“ „Es tut mir sehr leid“, erwidert Frau Schmidt und überreicht dem Kind einen Briefumschlag. „Letzte Nacht ist er gestorben. So, Ich muss weiter.“

„Annika,“ ruft Mama vom offenen Küchenfenster.

Ohne zu antworten, läuft das Mädchen in den Keller, in ihren Raum. Sie macht kein Licht, denn Braille liest sie viel lieber mit den Fingern. Ihre Hände zittern, als sie den Briefumschlag öffnet. Sie berühren eine Halskette mit feinen, federleichten Perlen, dann ein festes Blatt Papier mit Braillepunkten.

„Hallo Pünktchen, wir danken Louis Braille für seine tolle Erfindung. Besonders aber danke ich Braille und dir dafür, dass ich mein Urenkelkind kennengelernt habe. Die Kette hat Julia gehört. Nun sollst du sie tragen.
Liebe Grüße von Ha-Ri.“

Anne Kochanek, 47 Jahre

Weitere Texte über Braille aus den Vorjahren

Punkte zeigen den Weg

Der Stock findet den Weg hinunter zum Fluss. Sie genießt die Sonne auf ihrem Gesicht. Genießt die Freiheit, die ihr die neuen Technologien bescheren. Ihr Smartphone navigiert sie sicher durch die lärmenden Straßen der fremden Stadt. Aber da ist noch etwas anderes. Etwas, das sie glücklich macht.
Seit jene Vorschriften gelten, kann sie endlich ihre Neugier stillen. Sie bleibt stehen, hebt ihre Hand. Behutsam wendet sie sich der Wand zu. Sie spürt die vom Mauerwerk ausstrahlende Wärme schon, bevor ihre Hand den rauen Stein berührt. Sie findet die Plastikleiste, einer Hochwassermarke ähnelnd, folgt ihr mit dem Mittelfinger.
Da ist es, das Schild. Aus diesem wundersam glatten Material, das sich weich anfühlt und doch unverwüstlich hart ist. Jetzt nimmt sie den Zeigefinger zur Hilfe, gleitet mit der Fingerkuppe über die erhabenen Punkte. „City of London School“
Eine Schule also, direkt am Themseufer.
Sie dreht sich halb um ihre Achse, kehrt dem Gebäude den Rücken. Langsam tastend wagt sie sich durch Menschenströme, die der Brücke zustreben oder von dort angeschwemmt werden. Gegenüber der Schule stößt sie auf einen modernen Bau, Stahl und Glas. Wie eine Gravur fühlt sich die Rille an, weit wie der Horizont, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Dann erneut dieses eigenartige Plastik oder was auch immer.
Es passt gut, denkt sie. Es gleicht ihren Fingern, zart und weich – und dennoch hart im Nehmen, allen Widrigkeiten trotzend. Ihre Finger gleiten leichtfüßig dahin. Angetrieben von einer brennenden Neugier, dem Verlangen nach Informationen, fliegen sie über die runden Erhebungen. „Salvation Army Headquarters.“
Lachend setzt sie ihren Weg fort, hinunter zur Themse, zur Millenniumbridge. Ein Leitstreifen bringt sie sicher an ihr Ziel. Wieder ein von Punkten übersätes Schild, Informationen über dieses stählerne Bauwerk, über das Datum der Einweihung durch die Queen. Über eine Sperrung, über Nachbesserungen, über die endgültige Freigabe.
Sie taucht ein ins wogende Meer der Touristen, spürt die sanften Schwingungen der Brücke. Tief inhaliert sie den Geruch des Wassers. Sie tastet nach dem Geländer und sie lässt es nicht mehr los. Punkte am Handlauf künden davon, dass sie die Mitte der Fußgängerbrücke erreicht hat. Gedankenverloren bleibt sie stehen.
Schiffe oder Boote gleiten über das Wasser. Sie kann sie hören, riecht deren Abgase. Sie weiß, dass sogar diese Schiffe voller Punkte sein müssen, voller Informationen. Überall gibt es sie jetzt, Punkte so zahlreich wie Wassertropfen im Fluss. Die Welt ist bunter geworden, mitteilsamer. Jeder Supermarkt hat sich in eine Fundgrube verwandelt, ganz gleich ob zuhause in dem kleinen Nest oder hier in dieser großen fremden Stadt.
Braillebeschriftungen auf jedem einzelnen Artikel. All die früher namenlosen Dosen, Flaschen, Kartons, Tüten, Becher, Schachteln haben ein Gesicht bekommen. Nun treten sie aus ihrer Anonymität heraus und enthüllen endlich ihre Geheimnisse. Gestern hatte sie bei Marks & Spencer zwei Stunden damit zugebracht, all die englischen Wörter durch ihre Finger gleiten zu lassen, um sie im Gedächtnis zu bewahren. Thomas, ihr Freund, hatte sie für verrückt erklärt. Nicht einmal das hatte sie gestört.
Immer noch steht sie still da und atmet die vom Themsewasser und dem Ausstoß der Schiffe geschwängerte Luft tief ein. Menschen laufen an ihr vorbei, ein buntes, vielsprachiges Stimmengewirr flattert durch die Lüfte. Sie schnappt einzelne Wortfetzen auf. „Manchare“, „Guck mal, dort!“, „Su maleta no tiene…“, „Heathrow“,.
Ihre Gedanken ziehen weiter, wandern zurück zu jenem unglaublichen Abenteuer, das hinter ihr liegt. Sie springen von Heathrow zu dem deutschen Flughafen. Zu den unzähligen Braillefeldern überall. Sogar die Anzeigetafeln fand sie in Punktschrift vor. So vieles, was vorher verborgen war, enthüllte sich ihr plötzlich. Die freudige Erregung, als sie mit den Fingern über die Auflistung der Abflüge huschte, über all die fernen Ziele. Als sie die Liste der Städte mit den eigenen Händen begriff, in sich aufsaugte.
Dann im Flugzeug. Früher hatte sie nie mitbekommen, was da alles an Informationen preisgegeben wurde. Thomas hatte sich stets geweigert, ihr vorzulesen. „Das interessiert dich sowieso nicht!“, hatte er gebrummt. Oder er hatte ihr die Existenz dieser Informationen schlicht verschwiegen. Hatte darüber bestimmt, wovon sie erfuhr und wovon nicht. Hatte dieses nagende Gefühl des Ausgeschlossenseins genährt.
Dieses Mal jedoch hatte sie ihre Finger nicht von der Rückseite des ausklappbaren Tischchens gelassen. Jede neue Meldung hatte sie mit Feuereifer gelesen. Die unterschiedlichen Flughöhen. Die Außentemperatur. Die Fluggeschwindigkeit. Jede Menge an neuem Wissen, ein Gefühl von Macht, ein Gefühl von unbeschreiblicher Freude breitete sich in ihr aus und verlieh ihr Flügel.
Beim bloßen Gedanken an den Flug kehrt die unbändige Freude zurück. Sie gibt sich einen Ruck, läuft weiter. Einmal über die Brücke und zurück. Ganz allein, selbstbestimmt. Die Finger über die Punkte gleiten lassend. Ob Thomas inzwischen wach ist? Sie beschließt, zum Hotel zurückzukehren.
In der U-Bahn-Station studiert sie die Braille-Tafeln, findet damit und mit den Leitstreifen den Weg zu ihrem Bahnsteig. Eine Durchsage bestätigt ihr, dass der nächste Zug der richtige ist. Die Punkte machen alles so einfach. So wunderbar klar. Auch im Zug der Circle Line.
Ihre Finger finden die Namen der Haltestellen, entdecken ein Braillefeld, auf dem sie immer die aktuelle Ansage nachlesen kann. Auf diese Weise entgeht ihr nichts, auch dann nicht, wenn der Zug gerade mit ohrenbetäubendem Lärm durch die enge Röhre rattert.
„Warst du draußen vor der Tür?“, begrüßt Thomas sie und gähnt laut, „Hast du wieder die Straßenschilder gelesen?“ Sie lächelt. Tatsächlich hat sie soeben jedes einzelne Straßenschild zwischen der U-Bahn-Station und dem Hotel unter den Fingern gehabt. Genuss pur. Sie freut sich, dass es ein weltweit geltendes Gesetz gibt, das vorschreibt, jede gedruckte Information, jedes Schild, jeden Text auch in Braille zur Verfügung zu stellen.
„Ich war auf der Millenniumbridge!“, verkündet sie stolz und merkt im selben Moment, wie unglaublich das klingt, wie fantastisch. Sie muss lachen. „Na klar“, erwidert er prompt, „und ich bin auf deinen komischen Pünktchen mal schnell eine Runde über London geflogen!“
Bettina Hanke, 51 Jahre

Die Sprache aller Blinden

"Was sollen wir nur tun? Jemand scheint uns zu erpressen. Aber nicht mal das wissen wir mit Sicherheit. Und alles nur, weil wir diese Reliefpunkte nicht lesen können! Es ist zum Verzweifeln! Bitte Herr Müller, helfen Sie uns, dieses Problem zu lösen!" "So kenn' ich Sie ja gar nicht. Das ist das erste Mal, dass Sie mich um etwas bitten. Normalerweise stellen Sie doch nur Forderungen an mich." "Möglicherweise habe ich mich ein paar Mal im Ton vergriffen. Bitte entschuldigen Sie, falls es so war. Aber bitte tun Sie was." "Gut, ich fasse ihr Problem mal zusammen. Seit drei Monaten spielen immer wieder einzelne Computer oder andere mit dem Internet verbundene Geräte verrückt. Es kam dadurch zum Beispiel zu Engpässen in der Nahrungsmittelversorgung, da der 3-D-Drucker statt Fleisch nur noch Legosteine aus Plastik druckte. An den betroffenen Geräten fanden sie jedes Mal mit Punktschrift bedruckte Zettel, die mit einer Art Geheimschrift geschriebene Nachrichten enthalten." "Genauso ist es. Es handelt sich um Punktschrift, aber um keine uns bekannte Sprache. Deshalb bitten wir Sie mit Ihrer blinden Tochter Kontakt aufzunehmen. Vielleicht kennt sie diese Art von Schrift." "Gut, ich werde Lena fragen."

Herr Müller erzählte seiner Tochter Lena von dem Gespräch und gab ihr die Zettel. Lena las und begann zu lachen. "Was ist daran so lustig?", fragte ihr Vater. "Das ist eine Schrift, die ihr nie hättet lesen können." "Warum nicht? Wir haben Spezialisten für sowas. Trotzdem konnten wir nichts entziffern. Woran liegt das?" "Gut, ich erklär's dir. Wir setzen uns am besten auf den Boden. Hier in diesen Häusern, in die ihr uns Blinde abgeschoben habt, gibt es keine Stühle. Schließlich ist es ja nur ein Ort wo Blinde hingeschickt wurden. Da erschienen euch die Ausgaben für Stühle wohl überflüssig." "Dass wir euch hierher abgeschoben haben tut…" "…euch nicht leid. Schließlich hat niemand etwas dagegen unternommen. Aber jetzt mal zu der Schrift. Es handelt sich um unsere eigene Sprache…" "Eure eigene…" "Ja, und bitte unterbrich mich nicht. Wir haben sie erfunden, weil hier Blinde aller möglichen Nationalitäten vertreten sind und wir uns nicht einigen konnten, welche Sprache wir zu unserer Umgangssprache machen sollten. Außerdem gab es oft Schwierigkeiten mit Dialekten, sodass es mit der Verständigung sehr schwer war. Da ist uns die Brailleschrift eingefallen, denn die Punkte sind viel eindeutiger als gesprochene Wörter. Natürlich war es nicht leicht, die Zeichenzusammenstellungen für eine ganze Sprache zu erfinden…  Aber wir hatten ja Zeit. Schließlich habt ihr vor zehn Jahren beschlossen, dass ihr für uns dumme Blinde keine Verwendung habt und uns deshalb alle in dieses abgelegene Dorf geschickt." "Wir haben euch wohl unterschätzt. Ihr seid uns voraus. Eine Schrift, die alle verstehen, haben wir nicht. Wir haben nur Übersetzungscomputer, aber wenn der Strom mal ausfällt, können wir uns nicht mehr mit Leuten aus anderen Ländern verständigen." "Da hast du Recht. Ihr habt uns die ganze Zeit unterschätzt. Aber jetzt sollte ich dir verraten, was auf den Zetteln steht. Der Text ist immer derselbe und lautet: Gebt uns Blinden Arbeit und die Störungen eurer Computer werden aufhören." "Wer hat das geschrieben und wie stellt er oder sie sich das vor?", die Stimme von Herrn Müller klang ratlos. "Wer das war, weiß ich nicht. Aber uns Blinde in eure Welt zu integrieren wäre sehr einfach." "Aber die Arbeitsplätze sind doch nicht barrierefrei." "Das war vielleicht vor 50 Jahren so, als es viel Handschriftliches auf Papier gab. Aber seit 15 Jahren läuft doch alles über Computer und die Programme sind inzwischen mehr als barrierefrei. Ein Beweis dafür ist, dass es der unbekannte Briefeschreiber geschafft hat, in die technischen Abläufe einzugreifen." "Das stimmt allerdings. Wie wurden die Programme eigentlich so barrierefrei?" "Das war wohl reiner Zufall. Der Programmierer arbeitete wohl gern mit der Tastatur und hat deshalb einfach dafür gesorgt, dass alles auch per Tastaturbefehl bedienbar ist. Außerdem besitzen seit 50 Jahren alle Computer eine Sprachausgabe. Die habt ihr aber schon vergessen, weil sie zur Benutzung erst aktiviert werden muss." "Und wie kam der Erpresser in unser Netzwerk?" "Da gibt es nur eine Möglichkeit. Der Angriff muss über den einzigen Rechner stattgefunden haben, den es hier im Dorf gibt." "Und was machen wir jetzt?"
"Das ist doch klar. Wer auch immer es war, hat euch eindrucksvoll bewiesen, dass wir Blinden mit eurer Technik zurechtkommen. Wie jeder weiß, arbeitet ihr nicht gern im unterirdischen Computerraum, weil es da so dunkel ist. Uns macht das nichts aus, gebt uns dort Arbeit und wir alle können zufrieden sein."
"Stimmt, das ist eine Lösung, die allen gerecht wird. Ich rede gleich mal mit meinem Chef, aber ich bin sicher, dass er zustimmen wird."
"Gut, und ich schreibe gleich mal eine Nachricht an alle Bewohner dieses ungemütlichen Dorfes, dass wir bald umziehen werden. Wie gut, dass wir alle diese Schrift lesen können, sie ist die Sprache aller Blinden."
Carina Hofstetter, 22 Jahre

 

 

 

Er konnte nicht sehen, was sie fühlte. Die Welt war zu dunkel. Sie konnte nicht hören, was er fühlte. Die Welt war zu still. Sie konnten nicht verstehen, was sie verbindet. Gesprochene Worte waren zu flüchtig. Punkt für Punkt werden Dunkelheit und Stille leise fühlbar durchbrochen.
Nadine Wettstein

Ich habe herausgefunden, dass Punktschrift einem ganz schön was nützt. Denn ich mag es mehr, zu lesen, als dass es mir ein Computer vorliest. Denn dann weiß man auch gleich, wie Fremdwörter geschrieben werden. Wenn man selbst liest, kann man mehr lernen und es versetzt einen in andere Welten. Denn es ist langweilig, wenn die ganze Zeit ein Roboter alles herunter rattert.
Juli Schweizer, 8 Jahre

Braille bringt deinen Tweet sogar im Dunkeln auf den Punkt!
Luca Sariyannis, 11 Jahre

Braille gegen den Lärm
Hallo Nachbarn, werft Eure Rasenmäher und Kreissägen an! Liebe Kinder, grölt herum so viel ihr wollt! All ihr motorisierten Angeber, tretet das Gaspedal durch und lasst den Auspuff röhren! Egal. Meine Finger stört es nicht. Ich hab mir die Braille-Vollschrift beigebracht. Tschüss, bin auf der Terrasse, lesen!
Bettina Hanke

Buchstaben
rollen durch meine Finger
ach wie schön kann fühlen sein
ich tauche ein in meine Fantasie
lieber noch als zu hören,
lese ich und genieße.
es ist ein Fest .
Susanne Aatz

Braille-Elfchen

Leise
Und still.
Es kann fühlen,
Wer nicht hören will.
Brailliant!
(Tim Ahrendt

Bäckers
Blinde Kunden
Knacken in Sekunden
Brailles Code auf Mohnbrötchen,
nimmersatt
(Gustav Douvrava

Fingerkuppen
Tasten wach
Über kleinste Punkte
Nicht schwarz nicht weiß
Leise
(Annalena Knors