II Gleichbehandlung und Barrierefreiheit

1 Allgemeines

"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.” So steht es in Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG). Eine verbotene Benachteiligung liegt insbesondere bei Maßnahmen vor, die die Situation von Menschen mit Behinderungen wegen der Behinderung verschlechtern. Erfasst werden ebenfalls Benachteiligungen, bei denen sich der Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten nicht als Ziel, sondern als Nebenfolge einer Maßnahme darstellt. Benachteiligungsverbote finden sich auch in den Verfassungen der Bundesländer.

 

Das verfassungsrechtlich garantierte Benachteiligungsverbot wird durch zahlreiche gesetzliche und untergesetzliche Regelungen konkretisiert. Dazu gehören solche zur Nichtdiskriminierung, zur barrierefreien Gestaltung der Umwelt und ein individuelles Leistungsrecht. Letzteres ist in Deutschland vor allem im Sozialgesetzbuch geregelt. Daneben enthalten aber auch andere Rechtsbereiche Schutzrechte und Nachteilsausgleiche.

Gemeinsam ist allen Regelungen das Ziel, dass Menschen mit Behinderungen tatsächlich gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Dieser Maßstab muss immer bei der Auslegung von Gesetzen, Verordnungen und sonstigen Regelungen angelegt werden. Verboten ist die „Benachteiligung” wegen der Behinderung. Nachteilsausgleiche für behinderte Menschen als positive Ungleichbehandlung unterliegen keinem Verbot und auch nicht einer besonderen Begründungspflicht.

Die nachfolgenden Ausführungen nehmen die für blinde und sehbehinderte Menschen wichtigsten Regelungen in den Blick.

2 Die UN-Behindertenrechtskonvention

Seit dem 26.03.2009 ist das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2006 (kurz: Behindertenrechtskonvention, BRK) in Deutschland unmittelbar geltendes Recht. Die BRK schafft keine „Sonderrechte“, sondern sie konkretisiert die universellen Menschenrechte aus der Perspektive von behinderten Menschen. Durchgängiger Grundsatz ist dabei die Inklusion. Das heißt, Menschen mit Behinderungen sind von Anfang an selbstverständlich Teil einer pluralen Gesellschaft. Ihre Belange müssen konsequent mitgedacht und mitberücksichtigt werden, damit volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe gelingt. Zu den Grundprinzipien gehören weiter die Achtung der Menschenwürde und der individuellen Autonomie einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, die Nichtdiskriminierung, die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt, die Chancengleichheit und die Zugänglichkeit. Konkretisiert werden diese Grundsätze für alle Lebensbereiche, also die unabhängige Lebensführung, persönliche Mobilität, Gesundheit, Bildung, Beschäftigung, Rehabilitation, freie Meinungsäußerung, Teilhabe am politischen Leben, um nur einige Beispiele zu nennen.

Die BRK geht von einem menschenrechtlich basierten Verständnis von Behinderung aus. Das bedeutet, dass Behinderung aus einer Wechselwirkung von individuellen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen mit verschiedenen Barrieren entsteht, die Menschen an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Es kommt also nicht allein auf medizinisch registrierte Defizite eines Menschen, sondern auch auf ihre gesellschaftlichen Auswirkungen an. Denn auch und gerade dort ist konkretes Handeln gefragt: Ungleichbehandlungen müssen korrigiert, Barrieren müssen abgebaut und ihre Entstehung muss verhindert werden.

Da es sich bei der BRK um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, verpflichtet er vorrangig die Staaten zum Handeln, das heißt zur kontinuierlichen Umsetzung der für eine gleichberechtigte Teilhabe erforderlichen Maßnahmen. Das bedeutet, dass nicht alle „Rechte”, die in der BRK niedergelegt sind, auch von einzelnen Personen unmittelbar einklagbar sind. Die BRK hat aber Einfluss auf die Auslegung der in Deutschland geltenden Gesetze und Rechtsverordnungen sowie auf den politischen Diskurs zur Weiterentwicklung unserer Rechtsordnung. Die beim Deutschen Institut für Menschenrechte angesiedelte Monitoring-Stelle hat gemäß Artikel 33 Abs. 2 BRK den Auftrag, die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Sinne der BRK in Deutschland konstruktiv wie kritisch zu begleiten.

3 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz

Schon vor Ratifizierung der BRK galten in Deutschland verschiedene Richtlinien der EU zur Gleichbehandlung. Sie wurden auf nationaler Ebene durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14.08.2006 gebündelt und präzisiert. Das Gesetz hat das Ziel, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.” Der Anwendungsbereich ist auf das Arbeitsrecht (siehe 3.1) und das Zivilrecht (siehe 3.2 und 3.3) beschränkt. Vom Schutzbereich werden sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungstatbestände umfasst.

Das AGG verbietet nicht jede Ungleichbehandlung (wegen einer Behinderung oder wegen einer der anderen genannten Merkmale), stellt aber an ihre Zulässigkeit bestimmte Anforderungen. Zulässig sind auf jeden Fall positive Maßnahmen zugunsten behinderter Menschen oder bestimmter Behindertengruppen, wenn sie dem Ausgleich von Nachteilen und somit der Gleichstellung dienen sollen.

Gemäß § 27 AGG kann sich jede Person, die der Ansicht ist, im Sinne des AGG benachteiligt worden zu sein, an die eigens dafür eingerichtete Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden (Glinkastraße 24, 10117 Berlin, Tel.: 0 30 / 1 85 55-18 65, E-Mail: poststelle@ads.bund.de, Internet: www.antidiskriminierungsstelle.de

Daneben steht der Rechtsweg zu den zuständigen Gerichten offen, wobei für die Durchsetzung von Ansprüchen eine für den Betroffenen günstigere Beweislastverteilung gilt.

3.1 Arbeitsmarkt, Berufsleben

Die Gleichbehandlung im Berufsleben ist in den §§ 6 ff. AGG geregelt (siehe Kapitel VII, 3).

3.2 Zivilrechtliche Rechtsgeschäfte

Benachteiligungen im Zusammenhang mit Verträgen und anderen Rechtsgeschäften unterliegen dem AGG nur, wenn es sich um sogenannte Massengeschäfte handelt. Das sind solche, „die typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen”. Es geht also um den Einkauf im Supermarkt oder um das Buchen von Reisen. Wohnungsmietverträge zählen erst dann zu den „Massengeschäften”, wenn der Vermieter bzw. die Vermieterin mehr als 50 Wohnungen vermietet. Das AGG gilt ferner nicht für die in einem Testament verfügten Anordnungen.

§ 20 Abs. 1 Satz 2 AGG erklärt allerdings eine unterschiedliche Behandlung immer schon dann für zulässig, wenn sie „der Vermeidung von Gefahren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken vergleichbarer Art dient.”

3.3 Private Versicherungsverträge

In der Versicherungswirtschaft gilt das Prinzip, dass die Höhe der Versicherungsbeiträge vom zu versichernden Risiko abhängt. Zu hohe Risiken werden erst gar nicht versichert. Ferner wäre es mit dem Risikoprinzip auch nicht vereinbar, wenn die Schadensursache schon vor dem Vertragsbeginn eingetreten und bekannt geworden ist. In der privaten Krankenversicherung (PKV) sind deshalb bekannte „Vorerkrankungen” und ihre Folgen nicht oder nur mit einem erhöhten Beitrag versichert. Oder es wird bestimmten Personen der Abschluss eines Vertrages komplett verwehrt.

Was erlaubt das AGG den Versicherungsunternehmen, was verbietet es? Der von der PKV vorgenommene Ausschluss von Vorerkrankungen ist dem Risikoprinzip geschuldet und verstößt deshalb nicht gegen das AGG. Wird aber der Abschluss des Vertrages aus Risikogründen verwehrt oder werden Risikozuschläge verlangt, so muss die Risikobewertung des Versicherungsunternehmens auf „relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhen” und ein für die Vertragsverweigerung oder für den Risikozuschlag „bestimmender Faktor” sein. Die Darlegungs- und Beweispflicht für die die Benachteiligung rechtfertigenden Gründe liegt voll beim betreffenden Versicherungsunternehmen.

4 Die Behindertengleichstellungsgesetze

Das Recht auf Gleichbehandlung einschließlich des Schutzes vor Diskriminierung gegenüber Behörden, anderen Trägern öffentlicher Gewalt und (im Bereich der Herstellung von Barrierefreiheit von Webseiten und Apps) von sonstigen öffentlichen Stellen finden sich im Wesentlichen in den Behindertengleichstellungsgesetzen des Bundes und der Länder sowie im Sozialgesetzbuch, teilweise aber auch in weiteren Fachgesetzen.

4.1 Allgemeines zum Diskriminierungsschutz in den Behindertengleichstellungsgesetzen

Das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG) hat das Ziel, die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und zu verhindern sowie ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten. Dadurch soll ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht werden. Das BGG bindet vor allem Träger öffentlicher Gewalt. Für den Bereich der Herstellung von Barrierefreiheit von Webseiten und Apps bindet es auch sonstige öffentliche Stellen des Bundes und im Bereich des Zutritts mit Assistenzhund zusätzlich private Rechtsträger.

Unter den Anwendungsbereich des BGG fallen insbesondere: Bundesministerien und die ihnen nachgeordneten Behörden, das Auswärtige Amt mit seinen Vertretungen im Ausland, Sozialversicherungsträger, beispielsweise die Deutsche Rentenversicherung Bund, die Berufsgenossenschaften, die Bundesagentur für Arbeit sowie Krankenkassen, deren Zuständigkeit sich auf mehr als drei Bundesländer erstreckt, Bundesorgane, zum Beispiel der Deutsche Bundestag und die Bundesgerichte, soweit sie öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeiten ausüben.

Der § 7 Abs. 1 BGG verbietet es den Trägern öffentlicher Gewalt, dass Menschen mit und ohne Behinderungen ohne zwingenden Grund unterschiedlich behandelt und Menschen mit Behinderungen dadurch in der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar beeinträchtigt werden. Ähnliche Regelungen zum Diskriminierungsschutz gibt es auch auf Landesebene.

Als Diskriminierungstatbestand im Sinne des BGG gilt zudem die Versagung angemessener Vorkehrungen. Angemessene Vorkehrungen sind Maßnahmen, die im Einzelfall geeignet und erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass ein Mensch mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Rechte genießen und ausüben kann, und die die Träger öffentlicher Gewalt nicht unverhältnismäßig oder unbillig belasten.

4.2 Recht auf zugängliche Dokumente

Blinde und sehbehinderte Menschen können gemäß § 10 BGG zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren insbesondere verlangen, dass ihnen Bescheide, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke ohne zusätzliche Kosten auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden. Das Nähere regelt die Verordnung über barrierefreie Dokumente in der Bundesverwaltung (VBD). Ähnliche Regelungen gibt es in allen Bundesländern für die Landesbehörden. Im staatsanwaltlichen oder gerichtlichen Verfahren gilt § 191a Gerichtsverfassungsgesetz nebst der dazugehörigen Ausführungsverordnung entsprechend. Wichtig: Anspruch auf Dokumente in zugänglichen Formaten hat man auch, wenn man eine andere Person mit der Wahrnehmung seiner Rechte beauftragt hat, wenn man also zum Beispiel anwaltlich vertreten wird. Je nach Wunsch der oder des Betroffenen erhält man die Dokumente in Blindenschrift, Großdruck, per elektronischer Übermittlung (Datei) oder als aufgesprochenen Text. Die Behörde kann das gewählte Format nur dann zurückweisen, wenn es „ungeeignet” ist.

Zu beachten ist, dass für das rechtliche Verfahren, das heißt insbesondere für die Einhaltung von Fristen, weiterhin der ganz normale Schriftverkehr in Schwarzschrift maßgeblich ist. Die Blindenschrift ist also verfahrensrechtlich kein Ersatz. Allerdings sollen die dem blinden oder sehbehinderten Menschen zugänglichen Informationen möglichst gleichzeitig mit dem Original zugehen. Geht die zugängliche Information erst später zu und kann der oder die Betreffende deshalb gesetzte Fristen nicht einhalten, so kann er/sie die Wiedereinsetzung des Verfahrens in den vorigen Stand beantragen und so die durch die Nichteinhaltung der Frist eintretenden Rechtsfolgen abwenden.

4.3 Verwendung von Gebärdensprache und anderen Kommunikationshilfen

Speziell für hör- und sprachbehinderte Menschen, wozu auch hörsehbehinderte und taubblinde Personen gehören, gibt es Regelungen zur Verwendung der Gebärdensprache und anderer Kommunikationshilfen. Es geht darin um die Bereitstellung bzw. Finanzierung von Kommunikationshelfern (zum Beispiel von Dolmetscherinnen bzw. Dolmetschern), um die Wahl der Kommunikationsformen (zum Beispiel Lormen oder taktil wahrnehmbare Gebärden) sowie um den Einsatz von Kommunikationsmitteln, zum Beispiel akustisch-technische Hilfen oder grafische Symbolsysteme.

Anspruch auf Kommunikationshilfen besteht nicht nur bei der Wahrnehmung von Rechten in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren (geregelt in § 9 BGG und in der dazu erlassenen Kommunikationshilfenverordnung sowie in parallelen Regelungen in den Ländern, in § 19 Abs. 1 SGB X und in § 186 GVG), sondern auch bei der „Ausführung von Sozialleistungen”, zum Beispiel bei ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen (§ 17 Abs. 2 SGB I).

4.4 Kommunikation in Leichter Sprache

Leichte Sprache soll vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten die Kommunikation erleichtern. Gemäß § 11 BGG sollen Träger öffentlicher Gewalt Informationen vermehrt in Leichter Sprache bereitstellen. Sie sollen mit Menschen mit geistigen oder seelischen Behinderungen in einfacher und verständlicher Sprache kommunizieren. Auf Verlangen sollen sie ihnen insbesondere Bescheide, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke in einfacher und verständlicher Weise und, soweit dies nicht ausreicht, in Leichter Sprache erläutern. Einen Rechtsanspruch auf Kommunikation in Leichter Sprache gibt es indes nicht.

4.5 Regelungen zur Barrierefreiheit

Barrierefreiheit ist eine notwendige Voraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe. Das BGG verpflichtet die Träger öffentlicher Gewalt, ihre baulichen Anlagen, Verkehrssysteme und Informationsangebote für behinderte Menschen zugänglich zu gestalten. Auch die Landesgleichstellungsgesetze sehen Regelungen zur Barrierefreiheit vor, wobei hier unterschiedlich weitgehende Normen geschaffen wurden.

Der § 4 BGG definiert Barrierefreiheit wie folgt: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.“ Diese Zieldefinition wird sodann für verschiedene Sachverhalte im BGG konkretisiert. Um die Her- und Sicherstellung von mehr barrierefreien Angeboten zu unterstützen, ist bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See die Bundesfachstelle Barrierefreiheit errichtet worden. Sie berät und unterstützt vorrangig Bundesbehörden, steht auf Anfrage aber auch Unternehmen, Verbänden und gesellschaftlichen Organisationen als Ansprechpartner zur Verfügung (https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Home/home_node.html).

Der § 8 BGG regelt die Bedingungen, unter denen die bauliche Barrierefreiheit in Gebäuden der Träger öffentlicher Gewalt zu gewährleisten ist.

Die §§ 12 ff. BGG regeln den barrierefreien Zugang zu digitalen Informationsangeboten. Das betrifft Websites (inklusive Intranets und Extranets), Apps sowie elektronische Verwaltungsabläufe. Sie sind nach Maßgabe des BGG und der 2019 neu gefassten Barrierefreie InformationstechnikVerordnung (BITV 2.0 barrierefrei zu gestalten. Ausnahmen sind unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Jede Webseite und jede App muss ab einem definierten Zeitpunkt eine aktuelle Erklärung zur Barrierefreiheit haben. Sie enthält

  • Informationen darüber, welche Teile oder Inhalte der Website bzw. der App (noch) nicht vollständig barrierefrei gestaltet wurden und warum; sofern vorhanden, ist ein Hinweis auf barrierefrei gestaltete inhaltliche Alternativen anzugeben
  • einen Feedback-Mechanismus, also einer Möglichkeit zur Anzeige vorhandener Barrieren, wobei eine Antwort auf angezeigte Mängel spätestens innerhalb eines Monats erfolgen muss
  • einen Hinweis auf die Schlichtungsstelle (siehe 4.6), um Barrierefreiheit wirksam durchsetzen zu können.

4.6 Diskriminierungsschutz beim Einsatz eines Blindenführhundes

Führhundhalterinnen und Führhundhalter sehen sich oft mit der Problematik konfrontiert, dass ihnen der Zutritt zu Geschäften, Arztpraxen, Restaurants, Hotels oder öffentlichen Einrichtungen mit ihrer tierischen Assistenz versagt wird. Zumeist wird auf ein allgemeines Hundeverbot oder Hygienebedenken verwiesen. Mit Beschluss vom 30.01.2020 – 2 BvR 1005/18 – hat das Bundesverfassungsgericht einer blinden Führhundhalterin Recht gegeben, der der Zutritt mit ihrem Führhund zu Räumlichkeiten einer Arztpraxis versagt worden war. Die Richter sahen eine Verletzung des Rechts auf Gleichbehandlung nach Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG), weil das zuvor befasste Kammergericht Berlin bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des AGG die Tragweite des besonderen Gleichheitsrechts nicht hinreichend berücksichtigt hat. Das scheinbar neutral formulierte Verbot, Hunde in die Praxis mitzuführen, sah das Gericht als eine zumindest mittelbare Benachteiligung der Führhundhalterin an. Das Benachteiligungsverbot soll es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen. Damit ist es nicht vereinbar, Menschen mit Behinderungen von Betätigungen auszuschließen, die nicht behinderten Menschen offenstehen, wenn nicht zwingende Gründe für einen solchen Ausschluss vorliegen. Dieser Auslegung liegt das auch in Art. 1 und Art. 3 Buchstabe a und c BRK zum Ausdruck kommende Ziel zugrunde, die individuelle Autonomie und die Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderungen zu achten und ihnen die volle und wirksame Teilhabe an der und die Einbeziehung in die Gesellschaft zu gewährleisten. Mit diesem Ziel und dem dahinterstehenden Menschenbild ist es – so das Bundesverfassungsgericht – nicht vereinbar, die Führhundhalterin darauf zu verweisen, ihre Führhündin vor der Praxis anzuketten und sich von der Hilfe ihr fremder oder wenig bekannter Personen abhängig zu machen.

Mittlerweile hat auch der Gesetzgeber reagiert und in § 12e des BGG die Zutrittsrechte von Menschen mit ihrem Assistenzhund, einschließlich Blindenführhund, ausdrücklich geregelt: „Träger öffentlicher Gewalt, Eigentümer, Besitzer und Betreiber von beweglichen oder unbeweglichen Anlagen und Einrichtungen dürfen Menschen mit Behinderungen in Begleitung durch ihren Assistenzhund den Zutritt zu ihren typischerweise für den allgemeinen Publikums- und Benutzungsverkehr zugänglichen Anlagen und Einrichtungen nicht wegen der Begleitung durch ihren Assistenzhund verweigern, soweit nicht der Zutritt mit Assistenzhund eine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen würde.“

Mit den Neuregelungen werden nun aber auch die Ausbildung, Prüfung, Zertifizierung und Kennzeichnung von Assistenzhunden einheitlich gefasst.

4.7 Rechtsschutz

Bei dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen ist eine Schlichtungsstelle eingerichtet (§ 16 BGG). Sie bietet Einzelpersonen und Verbänden die Möglichkeit, Streitigkeiten nach dem BGG außergerichtlich beizulegen. Das betrifft auch die Durchsetzung der Zutrittsrechte von Nutzenden eines Assistenzhundes. Das Verfahren ist kostenlos. (Kontakt: Schlichtungsstelle nach dem Behindertengleichstellungsgesetz bei dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Mauerstr. 53, 10117 Berlin, Tel.: 0 30 / 85 27-28 05, E-Mail: info@schlichtungsstelle-bgg.de, Internet: www.schlichtungsstelle-bgg.de).

Führt ein Schlichtungsverfahren nicht zum Erfolg und ist gerichtlicher Rechtsschutz angezeigt, kann eine Feststellungsklage erhoben werden. Einen Anspruch, dass ein bestimmtes Gebäude barrierefrei umgebaut oder eine Website barrierefrei programmiert wird, hat man jedoch nicht. Klagebefugt sind Einzelpersonen und Verbände. Will man gegen einen privaten Rechtsträger (zum Beispiel Supermarkt, Restaurant, Arztpraxis) die versagte Zutrittsmöglichkeit mit Assistenzhund einklagen, dann muss man sich an die zuständigen Zivilgerichte wenden.