Rio entdecken und beschreiben

Adrian Kosanke war von August bis November 2012 zusammen mit Johanna Becker im Rahmen des ASA- Programms in Rio de Janeiro.

Dieses von der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) und einigen weiteren Trägern finanzierte Programm, entsendet junge Menschen u. a. für drei Monate in ein Entwicklungs- bzw. Schwellenland, damit sie die Menschen und Lebensumstände dort kennen lernen können und Verständnis für die globalen Unterschiede entwickeln.
Zurückgekehrt sollen die ASA- Teilnehmer ihr Wissen und ihre Einstellung auch an andere weitergeben und so für mehr Zusammenhalt und Gerechtigkeit auf der Welt sorgen helfen.
Der brasilianische Kultur- und Sportverein URECE hatte zusammen mit dem DBSV ein ASA- Projekt für zwei Sehbehinderte entwickelt, was sich als etwas besonderes erweist, wenn man bedenkt, dass es das erste Mal in der 50- jährigen Geschichte ASA's war, dass Teilnehmer mit einer Behinderung bei solch einem Projekt dabei bzw. inkludiert waren.

Adrian Kosanke hat nach seiner Rückkehr vieles spannende zu berichten. Ohne mit Sicherheit einschätzen zu können, inwiefern seine Naivität gespielt war, berichtete er mir bei einem Treffen seine Eindrücke im Folgenden so:

Wer das Messer nicht erkennt, hat den Überfall verpennt!
Oder Die Wege waren das Ziel!

Adrian Kosanke

“Echt, ich dachte vorher, in Brasilien spielen alle super Fußball und sehen entweder aus wie Models oder sind Spitzensportler! Aber leider stellte sich heraus, dass die Leute dort doch so vielfältig wie hier in Deutschland sind. Es gibt dort zwar deutlich mehr dunkelhäutige Menschen und im Durchschnitt sind Südamerikaner etwas kleiner als z. B. Deutsche, aber die Vielfalt lässt kaum Raum für Klischees. Auffällig ist die offene, freundliche Art der Menschen, man ist oft sehr schnell miteinander befreundet oder wird zumindest sehr herzlich behandelt. Wir lernten aber auch, dass das zur Höflichkeit in Brasilien gehört und nicht immer so verbindlich gemeint ist, wie es sich für uns Deutsche anhört.

Zur Vorbereitung auf unsere Reise hatten Johanna und ich einen Privatsprachkurs über Skype (Internettelefon) in Portugiesisch mit einer blinden, älteren Frau aus Portugal, die als Deutschlehrerin gearbeitet hat, doch nun pensioniert ist. Obwohl der Unterricht bei dieser sehr erfahrenen Lehrerin sehr gut war, hatten wir nur etwa zwei Monate Zeit portugiesisch zu lernen, was dann doch eher weniger als mehr gut funktionierte.
Traurig ist, dass diese sehr gute Lehrerin gerne neue Schüler hätte, doch scheinbar niemand portugiesisch lernen möchte.
Falls nun doch mal jemand die Motivation zu einem Sprachkurs in Portugiesisch aufbringt, hier die Kontaktdaten der Lehrerin.
Ana Maria Fontes

Vom ASA-Programm aus gab es im Vorhinein auch zwei einwöchige Vorbereitungsseminare mit anderen Teilnehmern, welche ebenfalls drei Monate nach Süd- und Mittelamerika gehen sollten. Die Seminare, bei denen es um die Themen Rassismus, Migration und wirtschaftliche Zusammenhänge ging, fanden beide in größeren Jugendherbergen in Hessen statt. Bei diesen Seminaren waren 72 junge Leute, zumeist Studenten, aus ganz Deutschland, der Schweiz und Süd- wie auch Mittelamerika anwesend. Da die Teilnahme an speziell diesen ASA- Projekten nur für Personen bis einschließlich des 30sten Lebensjahres möglich ist, waren nur einige wenige Dozenten über dreißig. Die Teilnehmer aus Süd- und Mittelamerika waren für ein spezielles „Nord- Süd Programm“ für drei Monate nach Deutschland gekommen, wo sie verschiedene Projekte mit ihren jeweiligen deutschen Partnern durch- und später in ihren Heimatländern weiterführten.
Jedes der enorm vielfältigen Projekte wie z. B. das errichten eines Spielplatzes in Ecuador, die Mithilfe in einer Umweltschutzgesellschaft in Costa Rica oder auch deutsch Sprachunterricht in Südbrasilien wurde immer von zwei Personen, den so genannten Tandempartnern durchgeführt.
Unser Projekt nannte sich „Studie zur Mobilität von Blinden und Sehbehinderten in Rio de Janeiro“. Und ja, es war von allen das absolut geilste Projekt, denn wir waren professionelle Touristen in einer der schönsten Städte der Welt.

Die beiden Vorbereitungsseminare waren durchaus sehr interessant und sollten vor allem als Denkanstöße zu Weltpolitischen Themen dienen. Es waren sogar zwei junge Frauen aus Rio de Janeiro anwesend, die uns auch gern ein wenig über ihre Heimatstadt berichteten. Beide waren übrigens recht hübsch, was mein anfänglich erwähntes Klischee natürlich nährte.

Ansonsten wussten wir vorher wenig darüber was uns erwarten sollte, nur dass wir an der Copacabana wohnen würden. Auch wenn dies völlig verrückt klingen mag, war dieser eigentlich teuerste Teil der Stadt, der einzige (!) an dem wir eine erschwingliche Unterkunft finden konnten. Ob Schicksal oder Glück, lange zögerten wir nicht und nahmen das Angebot an der berühmten Copacabana zu wohnen gerne an.
Ganz nebenbei muss noch erwähnt werden, dass lediglich 40 Prozent der Kosten in den gesamten drei Monaten von ASA übernommen wurden. Der Rest musste selbst, privat bezahlt werden. Bedenkt man jedoch das die Seminare samt Anreise und Verpflegung kostenlos waren, gibt es vor allem im nachhinein keinen Grund zur Beschwerde.

Der zwölfeinhalbstündige Flug nach Rio de Janeiro war von sowohl positiven wie negativen Gefühlen begleitet, denn es war ein Flug ins Ungewisse und keiner von uns beiden war je länger als drei Wochen außerhalb Deutschlands gewesen. Schon bei der Ankunft am Flughafen kam es uns gleich sehr brasilianisch vor. Zumindest dann, wenn man von dem ausgeht, was ich in meinem Reiseführer über die Pünktlichkeit der Brasilianer gelesen habe. Unser Abholer kam mehrere Stunden zu spät, da er unverständlicherweise davon ausging, wir würden erst zwei Tage später ankommen.
Über das Internet am Flughafeninfopoint konnte die Telefonnummer unserer Partnerorganisation Urece herausgefunden und unser Abholer alarmiert werden. Zum Glück konnte er seine Pläne zwei Tage vorverlegen und uns sofort abholen.

Später fanden wir aber alles von URECE jedoch sehr gut organisiert- für brasilianische Verhältnisse wohl bemerkt. Was zuerst arrogant klingt, ist eine nachweisbar rein objektive Feststellung.

Der erste Spaziergang führte natürlich zum Strand von Copacabana. Auch wenn sowohl Johannas wie auch meine Augen nicht mehr als fünf Prozent Sehkraft aufweisen, konnten wir jedoch gleich verstehen, warum dieser Strand so berühmt und beliebt ist. Auch einiges andere fiel gleich ins Auge, sogar in unsere Trüben. So gibt es viel Polizei und Sicherheitsleute in den Straßen der Copacabana. Aber auch allerhand gute Gründe dafür, also naive Touristen und noble Bankhäuser.
Vergitterte Sicherheitstüren mit Wachmann vor normalen Wohnhäusern sind dort Standard.
Einpacker im Supermarkt und Liftboys in jedem Aufzug oder Bettler neben einem Juweliergeschäft sind ebenfalls Dinge, die eine gewisse Gewöhnungszeit beanspruchten.
Dies und vieles mehr wirkte auf mich wie aus einem Science- fiction Roman entlehnt, bei dem sich die Reichen mit Waffengewalt von den Armen abschirmen, doch es war echt und ich als deutscher Tourist teil der reichen Seite. Brasilien ist und vor allem wird zukünftig sehr reich und vielleicht irgendwann auch gerechter sein.

Wo wir schon bei Recht sind, muss ich erwähnen das ich die blindengerechte U-Bahn auch beeindruckend fand, so ist an jedem Eingang aller Stationen ein taktiler Plan der ganzen U-Bahn- Station samt Leitstreifen zu finden. An den Checkpoints am Eingang wartet hilfsbereites Personal nur darauf, blinde Fahrgäste zur Bahn zu bringen, was sicherlich auch einem gewissen Maß an Langeweile geschuldet ist.

URECE - der verein für Sport und Kultur - ist vor allem ein Sportverein. Der DBSV hat mit diesem schon öfter zusammengearbeitet, z. B. beim weltweit ersten Blindenfußballturnier für Frauen. Es gibt dort Blindenfußball für Kinder und Erwachsene, Sehbehindertenfußball und Goalball. In den drei Monaten unseres Aufenthaltes, fuhren URECE- Teams zu etlichen Turnieren im In- und Ausland. Ein Nationalspieler war auch bei den Paralympics in London.

Manchmal kam mir unser Aufenthalt vor wie Urlaub, aber wir hatten auch eine richtige Aufgabe.
Wir sollten für blinde und sehbehinderte Menschen die Wege zu wichtigen Zielen und Sehenswürdigkeiten beschreiben. So etwas hatte ich vorher schon im Projekt  Berlin für Blinde gemacht.
Wir hatten uns 20 Ziele vorgenommen, dabei berühmte wie z. B. den Zuckerhut, die Jesus- Statue auf dem Berg Cocovado, aber auch Dinge wie zur Universität Benjamin Constant, wo es beim Studiengang Blindenpädagogik Modelle von Gebäuden zum betasten gibt. Auch die Adresse von URECE durfte nicht fehlen, so wie das Museum für Schifffahrt, wo man u. a. Kanonen aus dem 18. Jahrhundert Anfassen oder nicht weit davon entfernt ein U- Boot und Schlachtschiff begehen kann.
Doch keine Sorge, Brasilien ist an sich keine sehr kriegerische Nation.

Beim Beschreiben der Wege fiel uns besonders auf, wie anders das Straßenbild in Rio ist. Auf den Gehwegen warten unzählige Hindernisse, allein schon die Menschenmassen in dieser enorm lauten Metropole würden sicherlich sogar einen guten Blindenfussballspieler nervös machen. Gerade in den Außenbezirken darf anscheinend alles auf dem Bürgersteig stehen:
So stehen Autos, Tische, Stühle, Werbung und sogar Bäume gerne mal mitten im Weg. Bordsteinkanten scheinen dafür unbekannt zu sein. Trotzdem wagen sich viele Blinde auf die Straße, jedoch typisch brasilianisch gelassen und selten auf Abwegen. Im Bus müssen sie sich darauf verlassen, dass der Fahrer ihnen Bescheid sagt, wenn ihre Haltestelle kommt. Oder sie merken es sich nach der ersten Fahrt selbst an der Reihenfolge der passierten Kurven.
Leider muss oft auf den Bus zurückgegriffen werden, da es in Rio de Janeiro nur zwei U- Bahnlinien gibt, die beide wie erwähnt barrierefrei sind. Einen Bus zu erwischen ist jedoch nicht leicht, vor allem wenn es denn der richtige sein soll, denn sie halten in der Regel nur, wenn man sie heran winkt. Da helfen bei Sehbehinderten nur das Monocular und langwierige volle Konzentration oder bei Blinden der Mund und geringe portugiesischkenntnisse.
Passanten helfen im Allgemeinen gern, was vermutlich vor allem an der tiefen Religiosität vieler Brasilianer liegt. Schließlich ist die Christusstatue ja auch nicht ganz allein auf den Cocovado gewandert, um den Wind da oben zu genießen.

Nun ist es aber auch so, das der Christo auf dem Berg üblicherweise nur in eine Richtung blickt und so nicht alles überwachen kann. So kam es dass wir am sechsten Tag nach unserer Ankunft noch nach Sonnenuntergang an der Copacabana am Strand saßen.

Wir waren zu dritt und machten Pläne für die nächsten Tage, da kamen ein paar Jungs aus der Nachbarschaft, die wie ich zuerst annahm Ball spielen wollten. Sie quatschten uns an und wir versuchten uns in gebrochenem portugiesisch mit ihnen zu unterhalten, doch schließlich griff einer nach meiner Uhr und es wurde eindeutig, dass sie eher an Wertgegenständen, als an einem guten Gespräch interessiert waren.
Ich habe ihn, den Uhrengrappscher, weg geschoben und stand auf. An sich blöd, da meine Uhr kaum etwas wert ist, lediglich besonders große Ziffern hat. Da wurde ich aber schon von hinten gepackt und gewürgt. Zuvor hatten sie uns schon mit Messern bedroht, was ich aber erst später erfuhr. Tatsächlich hatte ich die Messer gar nicht gesehen und noch versucht mich mit ihnen zu unterhalten. So geht das, wenn man einen Sehbehinderten mit einem Messer bedroht, der das Messer aber gar nicht sehen kann. Dann muss man anders verdeutlichen, was man alles haben will.
Ich hoffe die Jungs haben was draus gelernt, schließlich sollte Inklusion in allen Lebensbereichen vorherrschen. Unsere Handys, mein Monocular und etwas Bargeld waren danach übrigens weg, unsere Ausweise hatte man uns jedoch gelassen. Das war natürlich sehr unangenehm, auch wenn das ganze nicht länger als eine Minute dauerte. Aber eigentlich sind wir alle doch glimpflich davongekommen, denn niemand wurde verletzt oder von der Polizei geschnappt. Und ich war ohnehin vorbereitet und hatte genau für diesen Fall ein Zweitmonocular dabei.
Fazit ist, das es wirklich dumm ist dort noch nach 16.00 Uhr am Strand zu sitzen, da die getarnte Strandpolizei dann nämlich auch schon Feierabend hat und es bessere Wege gibt dem durchaus hilfsbedürftigen armen Bevölkerungsteil etwas zu spenden.

Wenn ich überlege, wie mich die Zeit in Brasilien insgesamt verändert hat, muss ich sagen, es gab jeden Tag ein neues Abenteuer, neue Welten zu entdecken, auch kulinarisch. Diese Offenheit für Neues will ich mir für mein weiteres Leben bewahren, denn selbst in Berlin, wo ich wohne, gibt es noch so vieles, das ich noch nicht kenne und meine Sehbehinderung ist offenbar kein Hindernis, mein Leben als Abenteuer oder zumindest mit Abenteuern zu leben.
In jeder etwas größeren Stadt gibt es Dinge oder besondere Menschen zu entdecken. Ich will auch gern weiter Portugiesisch lernen und ich habe mir vorgenommen, zu anderen Menschen fairer zu- allerdings im Guten wie im Bösen!“, sein.

Adrian Kosanke verriet mir bei unserem Treffen nicht was er mit dem letzten Satz genau meinte und erwähnte aus Zeitmangel auch kaum etwas über seinen Besuch in Sao Paulo und beim Oktoberfest in Südbrasilien, doch sein ASA Projekt verlief sehr erfolgreich und so stehen jedem Interessierten die Liste mit den 20 besten Attraktionen Rio de Janeiros für blinde- und sehbehinderte Touristen samt Kurz- und Wegbeschreibung in englischer Sprache beim DBSV zur Verfügung.

Rio entdecken und beschreiben Peer support in Rio

Vom 30.07 bis zum 30.10 2012 absolvierten zwei sehbehinderte junge Erwachsene ein dreimonatiges Praktikum in Rio De Janeiro (Brasilien) beim Blindensport- und Kulturverein"Urece Sports and Culture"
Dieses Praktikum wurde durch das ASA-Programm, dass ein interkulturelles Lernprogramm der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, darstellt, realisiert.
Das ASA-Programm möchte junge Menschen im Alter und 30 Jahren die Chance geben, Auslandserfahrungen zu sammeln, Verständnis und Toleranz zwischen den Kulturen zu fördern und positives globales Denken und Handeln zu stärken.