Braillenotenschrift

Musik mit allen Sinnen.

Ein Beitrag von Juliane Bally und Christiane Felsmann.

Braillenotenschrift
Blindennotenschrift

Behutsam tasten die Finger von Lothar Littmann über das Papier. Das Papier ist dick und auf ihm sind erhabene Punktkombinationen zu erkennen. Gegenüber sitzt Dr. Felix Pourtov am Klavier – mit einer Klaviersonate von Joseph Haydn auf dem Pult. Er spielt einige Takte aus dem zweiten Satz. „Hier ist ein Fehler“, sagt Lothar Littmann plötzlich, woraufhin sich Felix Pourtov eine Notiz in der Partitur macht.

Wir befinden uns in einem Raum der Deutschen Zentralbücherei für Blinde (DZB) zu Leipzig und sehen bei der Arbeit im Musiklektorat zu. Lothar Littmann und Felix Pourtov lesen gemeinsam eine in Blindennoten übersetzte Sonate Korrektur. Lothar Littmann, Sänger, ist blind; Felix Pourtov, Musikwissenschaftler, ist sehend. Beide gehören einem kleinen Projektteam an, das den Namen DaCapo trägt. Mithilfe eines speziellen Computerprogramms werden hier Noten in Blindennoten übersetzt.

Was viele nicht wissen:

Nicht nur die Blindenschrift, sondern auch die Blindennoten wurden von Louis Braille entwickelt. 1809 unweit von Paris geboren, erblindete Louis im Alter von fünf Jahren. Der Junge besuchte dennoch – wie alle anderen Kinder – die Dorfschule. 10-jährig kam er nach Paris an das Institut Royal des Jeunes Aveugles, das königliche Institut für junge Blinde.

Zumeist erfolgte der Unterricht mündlich, gelesen wurde wenig. Dies geschah nach dem System von Valentin Haüy. Es besteht aus kleinen, aus plastischem Material geformten Buchstaben, die nur schwer zu unterscheiden sind. Im Musikzimmer des Instituts unternahm Louis Braille seine ersten musikalischen Versuche. Schritt für Schritt machte er sich mit dem Klavier vertraut. Er lernte Klavier- und Orgelspielen.1821 entdeckte Braille die für das Militär entwickelte „Nachtschrift“ des Offiziers Charles Barbier, ein logisches Muster aus erhabenen, ins Papier geprägten Punkten. Braille entwickelte daraus ein System, das auf sechs Punkten basiert und 63 Kombinationen ermöglicht. So konnte er alle Buchstaben, die Zahlen von eins bis zehn und sämtliche mathematischen Operationszeichen darstellen. Bis hierhin ist die Geschichte weithin bekannt.

Im Jahre 1828 entwickelte Braille aus seinem Alphabet ein System, das es erstmalig ermöglichte, musikalische Werke in Blindenschrift zu übertragen. Die einzeln stehenden oder in Akkorden zusammengefassten Noten werden in der Punkt-Notenschrift linear dargestellt. Braille ersann Oktav- und Intervallzeichen sowie weitere Musikschriftzeichen, die für die Punktschrift erforderlich sind.

All diese Zeichen stehen in einer bestimmten Ordnung unmittelbar bei den Noten, zu denen sie gehören. Wenn notwendig, kann zum Beispiel vor einer Note ein Oktav- oder Versetzungszeichen, dahinter ein Intervall, ein Halte- oder Bindebogenzeichen stehen. Aus diesen Gründen ist das Lesen und Schreiben der Musikschrift im Vergleich zur Buchstabenschrift Brailles komplexer.1829 erschien Brailles theoretisches Grundlagenwerk über die Blindennotenschrift im Druck. 1833 schloss er seine Ausbildung zum Organisten ab, anschließend wurde ihm sogar die Orgel an Saint Nicholas des Champs in Paris anvertraut. Anfang des Jahres 1852 verstarb er in Paris. Louis Braille schuf mit seiner einzig-    artigen Erfindung die Grundlage für die Herstellung von Braillenoten, die heute weltweit verwendet werden und international standardisiert sind.

Weltweit einzigartig: das Braillenoten-Projekt DaCapo

Braillenoten und deren Herstellung haben in Leipzig Tradition. Das älteste, in der DZB noch heute ausleihbare Notenwerk stammt aus dem Jahr 1892. Bis 1986 erfolgte die sehr aufwändige Übertragung von Musikschriften per Hand durch ein kleines spezialisiertes Mitarbeiterteam. Ob professionelle blinde Musiker oder Laien, die einfach ihrem Hobby nachgehen, sie brauchen Noten, um Stücke einzuüben und, wenn sie diese beherrschen, aus dem Gedächtnis wiederzugeben. Der derzeit in der DZB-Bücherei vorhandene Bestand repräsentiert nur einen sehr kleinen Teil der weltweit verfügbaren Musikliteratur.

Zwischen 1995 und 2002 wurden in Deutschland keine Musikalien in Braillenotenschrift produziert.
Um die Berufschancen blinder Musiker zu stärken und die Verbreitung und Anwendung der Braillenotenschrift zu fördern, hat die DZB gemeinsam mit der Blindenselbsthilfe die Initiative ergriffen und 2003 das Projekt DaCapo ins Leben gerufen. Gegenstand dieses vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales für drei Jahre geförderten Projektes war es, einen leistungsfähigen Übertragungsservice in Leipzig zu eta-blieren und Verfahren zur computergestützten Braillenoten-Herstellung zu entwickeln.

Das DaCapo-Team konzipierte eine innovative Software, die es möglich macht, Noten adäquat und effektiv in Brailleschrift umzuwandeln. Die Noten werden zunächst für die Übertragung vorbereitet und anschließend durch das Computerprogramm übersetzt. Das Korrekturlesen erfolgt durch blinde und sehende Fachleute.

Mit dem Übertragungsservice bietet die DZB professionelle und kurzfristige Übertragungen jeglicher Art von Musik an, auch von Arrangements und eigenen Werken. Seit 2005 sind auch Übertragungen von Blindennoten in Noten für sehende Musiker möglich.

Es besteht ein immenser Bedarf an Braillenoten. Sowohl zur Behebung des Mangels an Standardwerken für blinde Musiker als auch zur Verbesserung der Berufschancen ist die zeitgemäße Notenübertragung durch DaCapo von fundamentaler Bedeutung. Die DZB Leipzig ist die einzige Anlaufstelle für Blinden-Musikalien in Deutschland. Das Projekt befindet sich inzwischen in seiner zweiten Projektphase und ist in seiner Art weltweit einzigartig. Da die Aktivitäten des DaCapo-Teams national und international auf reges Interesse stoßen, fand im November 2008 ein Symposium zum Thema Blindennoten in Leipzig statt.