Eine Tochter blinder Eltern erzählt

„Was zählt, war nie, was meine Eltern nicht konnten – was zählt, war ihre Persönlichkeit.“

Ein Bericht von Ute Gerhardt.

Wie ist es, als sehendes Kind blinder Eltern aufzuwachsen? Eigentlich ganz normal. Bis die anderen kommen, sich wundern und seltsame Fragen stellen. Ute Gerhardt erinnert sich an ihre Kindheit, an den Blindenatlas ihres Vaters, an die frühkindliche Lektüre von Kontoauszügen, an heimlich bekritzelte Tapeten und an Freunde, die nicht nach ihrem Aussehen ausgewählt wurden.

Sowohl mein Vater als auch meine Mutter wurden bereits mit geschädigten Augen geboren und besuchten bis zum Beginn ihres Berufslebens die Blindenschulen in Ilvesheim bzw. Soest. An die vollständige Erblindung meines Vaters kann ich mich nicht erinnern. Die meiner Mutter verlief – bedingt durch Retinitis pigmentosa – schleichend. Mich selbst sollte es eigentlich nie geben, denn 1969 war über die Ursachen der Augenerkrankungen meiner Eltern noch nicht viel bekannt und ein Genfehler nicht ausgeschlossen. Aber wie das Leben so spielt…

So richtig bemerkt, dass in meiner Familie etwas anders war, habe ich erst im Kindergarten. Nein, falsch: Im Kindergarten habe ich erstmals festgestellt, dass Sehende unsere Familie als anders empfanden. Denn eines Tages fand – für mich völlig überraschend und unverständlich – ein Ausflug unserer Gruppe zu mir nach Hause statt. Dort angekommen, wurde meine Mutter von den anderen Kindergartenkindern ausgefragt, wie sie denn kochen könne, waschen, lesen, schreiben, einkaufen, putzen… Ich verstand die Welt nicht mehr. Warum war für diese Kinder besonders, was meine Mutter ganz selbstverständlich tagtäglich tat? Meine Verwunderung war sicherlich auch dadurch bedingt, dass der Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern ebenfalls zu einem großen Teil aus Blinden bestand, die oft ihrerseits Kinder hatten – sowohl sehende als auch blinde.

In unseren Familien waren es wir Kinder, die unseren Eltern vorlasen, statt umgekehrt. Ich lernte Fahrpläne, Wagenstandanzeiger und Kontoauszüge lesen, bevor Kinder sehender Eltern überhaupt wussten, was eine Bank oder wo der Bahnhof ist. Ich war Mitglied der Stadtbücherei, bevor ich in die Schule kam. Ich lernte Hindernisse im Dunkeln anhand des Echos wahrzunehmen, das sie zurückwarfen, wie mein Vater es mir beschrieben hatte. Ich lernte, ohne hinzusehen, ein Gefäß mit Wasser zu füllen und am Klang zu bestimmen, wie voll es ist. Ich führte meine Eltern durch unbekanntes Terrain – und auch ab und zu vor einen Laternenpfahl. Shit happens, da war ich nicht die Einzige. Und trotz all dieser Dinge waren es noch immer meine Eltern, die das meiste für mich taten. Nicht umgekehrt. Was die Augen nicht mehr hergaben, wurde durch Tast-, Geruchs- und Gehörsinn sowie Kombinationsgabe und Ideenreichtum kompensiert. Meine Mutter hat mich Blockflöte spielen und viele Gedichte gelehrt, mein Vater hat mir das Schach spielen und Schwimmen beigebracht und mir auf seinem Blindenatlas Geografie sowie die ersten Grundzüge der Astronomie erklärt. Beide haben qualifizierte Berufe ausgeübt. Sie haben mehr Bücher auf Tonband und in Brailleschrift gelesen als viele Sehende in Schwarzschrift. Für mich war also im Grunde alles genau wie bei anderen Kindern auch. Zunächst.

Mit den Jahren stellte ich fest, dass es durchaus Unterschiede gab – teilweise sehr zweischneidige. Aussehen hat zum Beispiel bei der Auswahl der Freunde meiner Eltern nie eine Rolle gespielt. Ob sich jemand geschmackvoll kleidete oder als Punker herumlief, die Form eines Gesichts oder die Farbe der Haut waren schlicht nicht von Belang. Ich lernte durch meine Eltern von Anfang an, auf andere Dinge zu achten. Auf Inhalt, Klang, Lautstärke und Tonfall der Stimme, auf den Duft (oder Geruch…), auf den Händedruck, den Schritt und das Lachen eines Menschen. Der Rest war uninteressant. Da fand Multikulti und Integration ganz selbstverständlich statt. Das war die eine Seite der Medaille.

Die andere wurde sichtbar, wenn meine Mutter für mich Kleidung kaufen ging. Ich konnte ziemlich sicher sein, dass sie mit den Ladenhütern nach Hause kam, die man den sehenden Müttern nicht andrehen konnte. Funktional und dem Wetter immer angemessen, aber größtenteils altbacken und hoffnungslos unmodern. Meine Eltern wussten schlicht nicht, was „in“ war in meiner Altersgruppe. Bei einer Schulaufführung in der Westfalenhalle war ich das einzige von 400 Mädchen, das keine Jeans trug. Mein Aussehen machte mich mit zur Außenseiterin. Man ließ sich gerne von mir Nachhilfe geben, aber zu Geburtstagen wurde ich sehr selten eingeladen. Ich war einfach nicht cool genug. Andererseits: Auch ich konnte meine Freundschaften schon früh daran messen, wer an mir selbst interessiert war, statt an den Marken meiner Kleidung, der Coolness meines Haarschnitts oder den Raffinessen meines bis heute nicht vorhandenen Make-ups.

Interessanterweise war einer der Aspekte, auf den ich als Kind am häufigsten angesprochen wurde, das Fehlen eines Autos. Wie man auch ohne ein solches einkaufen oder weite Ferienreisen unternehmen konnte – und das noch dazu als Blinde mit Kind – war offenbar für viele ein Mysterium. Über den genauen Inhalt ihrer Zweifel und Befürchtungen kann ich nur spekulieren. Sie reichen vermutlich vom Warten auf dem falschen Bahnsteig über ein Umsteigen in den verkehrten Zug bis hin zur Unfähigkeit, überhaupt Fahrkarten zu besorgen. Fakt ist jedoch: Bis ich die Grundschule beendet hatte, hatte ich mit meinen Eltern bereits mehrere europäische Länder bereist. Allesamt mit Zug und Taxi. Das ist mehr, als ein Großteil meiner Klassenkameraden von sich behaupten konnte.

Natürlich habe ich die Blindheit meiner Eltern auch wissentlich ausgenutzt – noch etwas, worauf ich des Öfteren angesprochen wurde. Die bekritzelte Tapete oder zerrissene Hose verschweigen, mal eben bei Tisch noch eine Scheibe Käse mehr auf die Schnitte legen, dem Vater die ungeliebte Mettwurst auf den Teller mogeln oder beim Essen ein Buch lesen… kein Problem. Bis das Klappern des Löffels oder das Rascheln der Seiten beim Umblättern auffiel.

Der Alltag mit blinden Eltern hat mir sicherlich in mancher Hinsicht mehr Selbstständigkeit und Wissen abverlangt und mehr Verantwortung auferlegt als den meisten Kindern sehender Eltern. Ich persönlich betrachte das allerdings heute noch als Vorsprung und muss auch ganz klar ergänzen: Wie in jeder Familie hängt der Werdegang eines Kindes mehr von der Persönlichkeit der Eltern als von deren Behinderung ab. Was zählte, war nie, was meine Eltern nicht konnten, sondern ihr Optimismus, ihr Interesse an Neuem, ihr Humor, ihr Wille, einen Weg zu finden, sich ihre Grenzen einzugestehen und gegebenenfalls auch Hilfe anzunehmen – für sich selbst oder für ihr Kind.