Wie die Brailleschrift funktioniert

Dass Louis Braille im Jahre 1825 sechs Punkte ausreichten, um die tastbare Blindenschrift zu entwickeln, ist genial. Heute ist die Braille-Schrift weltweit verbreitet und auch im Computerzeitalter keineswegs unmodern.

Sechs Punkte, die in zwei senkrechten Reihen zu je 3 Punkten nebeneinander angeordnet und so optimal ertastbar sind, bilden die Grundform. Man stelle sich einen Eierkarton mit 6 Eiern vor. Die Eier (oder Punkte) können wir nun nummerieren. Links oben ist Punkt 1, darunter Punkt 2, darunter Punkt 3. Rechts oben ist Punkt 4, darunter 5 und unten rechts ist Punkt 6. Die Buchstaben der Blindenschrift bestehen nun aus Kombinationen dieser Punkte: Steht Punkt 1 alleine, haben wir ein „a“, Punkt 1 + 2 ergeben ein „b“, Punkt 1 + 4 ein „c“…

Eine 6-Punkte-Zelle, wie wir sie in der Blindenschrift haben, ermöglicht 63 Punktekombinationen. Wir müssen also sparsam mit unseren Punkten umgehen. Das erreichen wir unter anderem dadurch, dass wir darauf verzichten, eigene Zeichen für Großbuchstaben zu definieren. Wir praktizieren also in der Blindenschrift die absolute Kleinschreibung und haben keine Probleme damit. Natürlich können wir die Großschreibung darstellen: Wir verwenden Hilfszeichen, die z. B. besagen, dass der nächste Buchstabe im Originaltext groß geschrieben wurde. Ähnlich verhält es sich mit Zahlen. Für die Zahlen 1 bis 10 verwenden wir die Buchstaben „a“ bis „j“. Vor die erste Ziffer setzen wir das so genannte „Zahlenzeichen“, das uns anzeigt, dass jetzt nicht eine Buchstaben-, sondern eine Zahlenfolge kommt

Darstellung des Braille-Alphabets

Alphabet in Brailleschrift, dargestellt mit Unicode-Zeichen

⠁ = a (Punkt 1)

⠃ = b (Punkte 1 2)

⠉ = c (Punkte 1 4)

⠙ = d (Punkte 1 4 5)

⠑ = e (Punkte 1 5)

⠋ = f (Punkte 1 2 4)

⠛ = g (Punkte 1 2 4 5)

⠓ = h (Punkte 1 2 5)

⠊ = i (Punkte 2 4)

⠚ = j (Punkte 2 4 5)

⠅ = k (Punkte 1 3)

⠇ = l (Punkte 1 2 3)

⠍ = m (Punkte 1 3 4)

⠝ = n (Punkte 1 3 4 5)

⠕ = o (Punkte 1 3 5)

⠏ = p (Punkte 1 2 3 4)

⠟ = q (Punkte 1 2 3 4 5)

⠗ = r (Punkte 1 2 3 5)

⠎ = s (Punkte 2 3 4)

⠞ = t (Punkte 2 3 4 5)

⠥ = u (Punkte 1 3 6)

⠧ = v (Punkte 1 2 3 6)

⠺ = w (Punkte 2 4 5 6)

⠭ = x (Punkte 1 3 4 6)

⠽ = y (Punkte 1 3 4 5 6)

⠵ = z (Punkte 1 3 5 6)

⠜ = ä (Punkte 3 4 5)

⠪ = ö (Punkte 2 4 6)

⠳ = ü (Punkte 1 2 5 6)

⠮ = ß (Punkte 2 3 4 6)

⠡ = au (Punkte 1 6)

⠌ = äu (Punkte 3 4)

⠩ = ei (Punkte 1 4 6)

⠬ = ie (Punkte 3 4 6)

⠣ = eu (Punkte 1 2 6)

⠹ = ch (Punkte 1 4 5 6)

⠱ = sch (Punkte 1 5 6)

⠾ = st (Punkte 2 3 4 5 6)

⠼ = Zahlzeichen (Punkte 3 4 5 6)

Punktschrifttafel

Punktschrifttafel

Es gibt auch ein Schreibgerät, mit dem man schreiben kann, indem man die Buchstaben seitenverkehrt, also von rechts nach links, Punkt für Punkt in ein Papier sticht. Man braucht dazu eine Art Schablone, die wir als Tafel bezeichnen.

Tafeln gibt es in allen Größen, von DIN A4 bis hin zur einzeiligen Tafel, die man zur Beschriftung von Prägeband nutzen kann. Der Vorteil der Tafel gegenüber einem elektronischen Notizgerät besteht darin, dass man Geschriebenes auch ohne das Hilfsmittel lesen kann, mit dem es notiert wurde. Die Tafel ist sozusagen der Kugelschreiber der Blinden.

Punktschriftmaschine

Punktschriftbogenmaschine

Bei der Punktschriftmaschine ist jedem Punkt eine Taste zugeordnet. Beim Schreiben eines Buchstabens drückt man einfach die Tasten gleichzeitig, die man zur Erzeugung dieses Zeichens braucht. Mit der Punktschriftmaschine kann man deshalb schneller schreiben als mit der Tafel.

Schrift und Emanzipation

Punktschriftbuch

Die Brailleschrift, mit deren Hilfe blinde Menschen erstmals die Möglichkeit hatten, sich auch schriftlich auszudrücken, war die größte Revolution in der Entwicklung des Blindenwesens. Gab es früher nur vereinzelte blinde Menschen, die ein durchschnittliches oder höheres Bildungsniveau erreichten, so wurde dies plötzlich allen möglich. Wer aber eine umfassende Bildung hat und seine Interessen selbst ausdrücken kann, möchte auch über sein eigenes Geschick selbst bestimmen. Die Geburtsstunde der Blindenselbsthilfebewegung hatte geschlagen.

1874, als die Brailleschrift noch nicht ganz 50 Jahre alt war, wurde in Berlin der erste Blindenverein gegründet, und in vielen anderen deutschen Ländern folgte man diesem Beispiel. Auch außerhalb des eigentlichen Blindenwesens wurde der Nutzen dieser Schrift erkannt. So entstanden in allen Ländern Brailleschriftdruckereien und -bibliotheken. Da nicht jeder eine solche Bücherei in seiner Nähe hat, können die Bücher per Fernleihe ausgeborgt werden. Voraussetzung dafür, dass dieses System funktioniert, ist eine Regelung, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Kraft trat und inzwischen weltweit gilt: Punktschriftsendungen dürfen bis zu einem Gewicht von 7 kg portofrei verschickt werden.

Brailleschrift braucht nämlich mehr Platz als reguläre Druckschrift. Punktschriftbücher haben häufig das Format 27 x 34 cm und, was ihre Dicke anbetrifft, wäre ein Telefonbuch eher ein dünneres Werk. Die Portokosten, die unsere Verlage und Büchereien, aber auch wir selbst, bezahlen müssten, wären also enorm. Politiker, für die das Prinzip „sparen“ über das Prinzip „Vernunft“ geht, haben bereits mit dem Gedanken gespielt, diese Regelung abzuschaffen. Die Folgen kann sich jeder denkende Mensch selbst ausmalen. Einen solchen Rückschritt darf es nie geben.