Mein Braille: Renate Reymann

Ohne Punkte geht es nicht. Warum DBSV-Präsidentin Renate Reymann nicht mehr auf die Brailleschrift verzichten möchte – nicht persönlich und nach der langen erfolgreichen Tradition dieser Schrift auch nicht für alle blinden Menschen.

Ein Beitrag von Renate Reymann, Präsidentin des DBSV.

In meinem Leben war es bis vor zehn Jahren selbstverständlich, Informationen durch Schwarzschrift aufzunehmen: Lebensmittelverpackungen, Busfahrpläne, die Beschriftung auf der Musikanlage und natürlich Zeitungen und Bücher. Doch meine Sehfähigkeit lässt aufgrund einer fortschreitenden Augenerkrankung immer mehr nach und ich muss mich zunehmend daran gewöhnen, Punktschrift zu benutzen. Allerdings muss ich noch immer in vielen Bereichen darauf verzichten. Weder im Supermarkt noch auf meinen Haushaltsgeräten finde ich Punktschrift vor, im öffentlichen Raum schon gar nicht und das Angebot an Zeitschriften und Büchern ist im Vergleich zu dem, was Sehenden zur Verfügung steht, verschwindend gering.

Natürlich gibt es auch positive Beispiele: Immer mehr Bahnhöfe weisen uns durch die Brailleschrift am Treppengeländer den Weg zum richtigen Gleis oder zum Taxistand. Medikamente sind in Braille beschriftet und die Punktschriftverlage bieten jedes Jahr eine Menge neuer Bücher an. In Beruf und Freizeit hilft die Braillezeile, schnell und zuverlässig den Computer zu bedienen. Das alles ist auch ein Verdienst des DBSV, der sich zusammen mit seinen Mitglieds- und Partnerverbänden für die Verbreitung der Brailleschrift stark macht.

Damit könnte ich zufrieden zum Punktschriftbuch greifen, wenn nicht die skeptischen Fragen wären: Brauchen wir mit unseren komfortablen Audioformaten im DAISY- und MP3-Player, im Computer und auf dem Handy eigentlich noch die Punktschrift? Müssen wir erblindeten Senioren und Kindern heute noch mit den sechs Punkten kommen? Ich sage: Ja, auf jeden Fall!

Als Louis Braille die geniale Sechs-Punkte-Schrift erfand, gab er blinden Menschen eine Kulturtechnik unter die Hände, die ihnen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit brachte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Selber lesen geht oft schneller und ist intensiver, als einer vorlesenden Stimme zu lauschen. Wie viel einfacher ist es, Telefonnummern abzulesen, statt vom Diktiergerät abzuhören oder Gewürze an der selbst angebrachten Aufschrift zu erkennen, statt mit aufwändigen technischen Hilfsmitteln am Herd zu hantieren. Für blinde Menschen ist die Tätigkeit an Computerarbeitsplätzen ohne Brailleschrift kaum denkbar. Allein für den beruflichen Erfolg ist die Punktschrift unerlässlich.

Darum ist es mir so wichtig, dass der DBSV den Einsatz der Punktschrift in allen gesellschaftlichen Bereichen auch künftig fördert. Mit der Tour de Braille wollen wir zum 200. Geburtstag von Louis Braille ein klares Zeichen setzen. Der DBSV arbeitet eng mit den Punktschriftverlagen zusammen und setzt sich an vielen Stellen für die Verwendung der Brailleschrift ein. Er wirbt für das Recht blinder Kinder, Brailleschrift in der Schule zu lernen, was qualifizierte und engagierte Lehrkräfte voraussetzt. Er motiviert blinde Menschen in jedem Lebensalter, die Punktschrift zu erlernen. Nicht nur für die eigene Rechtschreibung ist sie unerlässlich, sondern auch für neue Lerninhalte, die sich unter den Fingern besser einprägen.

Gehörte Texte haben damit keinen geringeren Stellenwert. Sprachausgaben am Computer, Handy und vielen anderen Geräten sind für Menschen mit Seheinschränkung eine große Hilfe. Und viele blinde Menschen, die keine Brailleschrift lesen können, genießen Hörbücher und informieren sich über DAISY-Zeitschriften. Das Angebot ist groß und verbessert die Informationsversorgung. DAISY und Braille ergänzen sich wunderbar, sie sind sozusagen Bruder und Schwester. Sie haben ihre jeweils eigenen Eigenschaften, aber sie gehören unbedingt zusammen. Ich brauche täglich beide für den Zugang zu Informationen, zur Orientierung, für die Selbstständigkeit und nicht zuletzt für meine Leselust.