Mein Braille: Jennifer Sonntag

„Ich werde niemals in Braille denken“.

Ein Beitrag von Jennifer Sonntag (29). Sie arbeitet als Sozialpädagogin am Berufsförderungswerk Halle.
Ihr Erblindungsprozess setzte mit Anfang 20 ein, ausgelöst durch Retinitis Pigmentosa und eine Makula-Degeneration.

Meine Handschrift war mir stets heilig. Ich hegte und pflegte meine Stifte, als wären sie das Sprachrohr, durch welches ich mein Inneres nach außen fließen ließ. Als ich bemerkte, dass ich aufgrund einer degenerativen Netzhauterkrankung mit dem Kuli nicht mehr die Zeilen traf, ergriff mich die pure Verzweiflung. Ich verlor sie, die geliebten Pinsel und Farbtöpfchen, die Radiergummis und Anspitzer, meine Blei-, Bunt- und Filzstifte.

Noch heute neige ich dazu, nach der „Feder“ zu greifen und mit Tinte in mein Tagebuch hineinzuerzählen. Nur diese Schrift ist für mich meine wahre Seelenschrift. Meine Kompromisslösungen sollten aber nun, nach meiner Erblindung, sterile Schriftkörper sein. Punktschriftbücher, Streifenschreiber und Braillezeilen empfand ich als leblose Fremdkörper, als kalte, unpersönliche Objekte.

Als Sehende war ich von der Punktschrift fasziniert. Ich hatte Freude daran, sie zu erkunden, ihre Symbolik aufzudecken, mit ihr zu „spielen“. Als jedoch aus dem Spiel Ernst wurde und sie zu meiner Schrift werden sollte, begann sie mir Angst zu machen. Meine Schrifterzeugnisse nicht mehr visualisieren zu können, brachte mich fast um den Verstand. Verluste verändern Gegebenheiten und eröffnen neue Möglichkeiten.

Ich habe gelernt, die Punktschrift als Chance zu betrachten, auch wenn ich niemals in Braille denken werde, sondern bei der Verinnerlichung von Texten in erster Linie die Schwarzschrift vor mir sehe.