Alleinerziehend und blind
Fortschreitender Sehverlust und alleinerziehend: Da kann die Behinderung in der Familie nicht außen vor bleiben. Mutter und Kinder müssen immer wieder neue Arrangements treffen, Hilfe von außen wird nötig.
Ein Bericht von Uta Mengdehl.
Uta Mengdehl versucht, ihren Kindern alle Türen zu öffnen. Sie möchte ihnen trotz des Schmerzes über den eigenen Sehverlust Stärke vermitteln – und die Fähigkeit, das Leben mit positiven Energien zu gestalten.
Ich bin inzwischen zu 100 Prozent schwerbehindert. Man bezeichnet das Ganze als fortschreitende Myopie magna und Makula-Degeneration. In den letzten zehn Jahren gab es keinen gleichbleibenden Status quo. Kaum war ein Arrangement getroffen, kam es zur nächsten Verschlechterung: Lesen nur mit absoluter Top-Konzentration, kein Autofahren mehr, irgendwann keine Zeitungen, keine Bücher mehr, auch nicht in Großschrift, kein Fahrrad, Beginn des Mobilitätstrainings… Derzeit lerne ich die Braille-Schrift.
Ich bin Mutter von drei Kindern, seit acht Jahren vom Vater der Kinder getrennt. Seit vier Jahren leben die beiden Großen (15 und fast 17) beim Vater, etwa 20 Kilometer entfernt, der „Kleine“ (13), hochgradiger Legastheniker, lebt bei mir. Den großen Sohn sehe ich zweimal pro Woche, die große Tochter oft am Wochenende. Der „Kleine“ ist regelmäßig von Samstag auf Sonntag beim Vater. Ich bin mit 30 Wochenstunden in Teilzeit beschäftigt und leite den Hort an einer Grundschule.
Unsere Kinder haben alle eine sehr gute Sehkraft, fast 100 Prozent oder sogar darüber. In der Erziehung habe ich zunächst versucht, meine Behinderung außen vor zu lassen und alles selbst zu regeln, damit die Kinder keine Einschränkungen spüren. Mit einer Behinderung wird man kreativer, denn man muss andere als die üblichen Lösungswege finden, um bestenfalls an das gleiche Ziel zu gelangen. Als ich nicht mehr Autofahren konnte – meine Kinder waren damals eins, drei und fünf Jahre alt – habe ich zwei in den Fahrradanhänger gesetzt und eins in den Sitz an der Lenkergabel und bin zum Großeinkauf gefahren. Das war oft sehr abenteuerlich.
Mit der Zeit fühlte ich mich genötigt, die eigenen Ziele umzudefinieren. Meine Immobilität schmerzte mich persönlich, aber auch hinsichtlich der eingeschränkten Möglichkeiten für die Kinder: Ich konnte sie nie zu Freunden, zum Sport oder auf eine Hütte fahren. Und als sie mit zunehmendem Alter unterschiedliche Interessen entwickelten – worauf ich sehr achtete, damit sie sich nicht im Einheitspaket entwickeln – wurde es noch schwieriger. So musste ich akzeptieren, dass ich immer wieder auf die Unterstützung von Freundinnen oder anderen Müttern angewiesen war. Dabei störte mich zunehmend, immer als Bittstellerin aufzutreten. Im Gegenzug führte das aber auch zu sehr intensiven sozialen Kontakten. Die Kinder hingegen wurden auf diese Weise sehr früh selbstständig. Das war eine Notwendigkeit – ob das nun gut ist oder nicht, sei dahingestellt.
Spätestens ab dem Zeitpunkt, als ich nicht mehr lesen, oder allerspätestens, als ich nicht mehr Fahrradfahren konnte, mussten meine Einschränkungen besprochen werden. Nicht nur ich musste mich mit ihnen arrangieren, auch die Kinder mussten für sich im Verhältnis zur Mutter ein Arrangement finden. Vieles basiert auf ehrlichem Austausch. Wenn sie eine Klassenarbeit heimbringen und ich unterschreiben soll, zeigen sie mir mit dem Finger gerade noch, wo ich unterzeichnen muss. Die Note bekomme ich gesagt, ganz selten lesen sie mir ein, zwei Fragen und Antworten vor. Eigentlich sind sie aber froh, die Arbeit hinter sich zu haben. Mit den Lehrern von meinem Jüngsten habe ich vereinbart, dass sie mir die Arbeitsmaterialien, die ihnen digital zur Verfügung stehen, zumailen, was aber leider nur sehr unregelmäßig klappt.
Auf der einen Seite war es gut, dass die Kinder bereits etwas älter waren und mit einem hohen Grad an Verständnis auf mich zukamen, als meine Augen immer schlechter wurden. Auf der anderen Seite kamen sie in die Pubertät, und da ist es eben nicht unbedingt angesagt, vieles mit den Eltern zu teilen. Diese Zeit lässt uns alle in einer lebendigen Auseinandersetzung in unseren sozialen und kommunikativen Fähigkeiten weiter wachsen.
Ich versuche, meinen Schmerz mit mir oder anderen betroffenen Freunden zu teilen. Den Kindern gegenüber will ich stark sein. Was nicht bedeutet, dass sie nicht an meiner Trauer teilhaben dürfen. Ich möchte ihnen vor allem vermitteln, dass man sein Leben mit positiven Energien gestalten kann, ob behindert oder nicht. Gerade als alleinerziehende Mutter ist es mir wichtig, dass ich so selbstständig wie möglich bleibe. Denn ich möchte unbedingt vermeiden, dass sich die Kinder durch meine Einschränkungen in ihrer eigenen Entwicklung nicht frei entfalten können. Ich denke zum Beispiel an die Zeit, wenn Kinder aus dem Haus gehen wollen. Dann müssen sie nach meiner Auffassung unbedingt ein gutes Gefühl haben und sollen nicht überlegen, wie ich wohl zurechtkomme, wenn sie zur Ausbildung in eine andere Stadt ziehen.
Als Alleinerziehende braucht man vermutlich noch mehr Kreativität, um zum angestrebten Ziel zu kommen. Umso wichtiger ist ein gut ausgebautes soziales Netz, in dem es vielfältige Möglichkeiten der Hilfestellungen gibt. Ich bin davon überzeugt, dass eine einzelne Person überfordert wäre bzw. die Freundschaft ihre Qualität auf einmal im sozialen Hilfsdienst wiederfände. Meiner Meinung nach besteht aber die Basis einer Freundschaft aus gegenseitiger Unterstützung. Oftmals ist es besser, externe Hilfe zu organisieren als im Freundeskreis als Bittstellerin aufzukreuzen. Es darf nicht als Ablehnung der Persönlichkeit begriffen werden, wenn ich von bestimmten Personen keine Hilfe annehmen möchte, sei es im allgemeinen, in einer speziellen Situation oder in einer bestimmten Tagesverfassung. So unterscheidet sich die Beziehung zu Freunden kaum von der zu den eigenen Kindern. Was im Umkehrschluss die Kinder zu Freunden macht.