IX Leistungen der Eingliederungshilfe
1 Allgemeines
Eingliederungshilfeleistungen sind Sach-, Geld- oder Dienstleistungen, die der Staat erbringt. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können.
Die Eingliederungshilfe ist im zweiten Teil des SGB IX mit dem Titel „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen“ geregelt.
Zu den Leistungen der Eingliederungshilfe gehören Leistungen der medizinischen Rehabilitation (§§ 109 ff. SGB IX), Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 111 SGB IX), Leistungen zur Teilhabe an Bildung (§§ 112 ff. SGB IX) und (nachrangig) Leistungen der sozialen Teilhabe (§§ 113 ff. SGB IX). Für diese Leistungsgruppen wird die Aufgabe der Eingliederungshilfe in § 90 SGB IX jeweils abschließend definiert.
Zuständig für die Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe ist der Träger der Eingliederungshilfe, eine durch das jeweilige Bundesland bestimmte Behörde.
Eingliederungshilfe wird nur auf Antrag gewährt. Sie ist nachrangig gegenüber anderen Teilhabeleistungen.
Welche Leistungen man erhält, richtet sich nach dem konkreten Bedarf im Einzelfall. Dieser Bedarf wird im Rahmen eines Gesamtplanverfahrens (§§ 117 ff. SGB IX) ermittelt, festgestellt und fortgeschrieben.
Die Eingliederungshilfe ist auf die Fachleistung beschränkt, also die Unterstützung, die ein Mensch speziell wegen der bestehenden Behinderung benötigt (z. B. Hilfsmittel, Assistenz, heilpädagogische Leistungen etc.). Sie wird personenzentriert unabhängig vom Leistungsort ermittelt und erbracht. Existenzsichernde Leistungen sind – bis auf wenige Ausnahmen – nicht mehr Teil der Eingliederungshilfe. Genügt das eigene Einkommen und/oder Vermögen nicht, um den Lebensunterhalt zu sichern, müssen daneben existenzsichernde Leistungen in Anspruch genommen werden (siehe Kapitel XI, 2).
2 Zugang
Einen Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe haben Menschen, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann (§ 99 Abs. 1 SGB IX i. V. m. §§ 1–3 der Eingliederungshilfe-Verordnung in der am 31.12.2019 geltenden Fassung). Bei einer Seheinschränkung
sind folgende Personen anspruchsberechtigt: Blinde oder solche sehbehinderte Menschen, bei denen mit Gläserkorrektion ohne besondere optische Hilfsmittel auf dem besseren Auge oder beidäugig im Nahbereich bei einem Abstand von mindestens 30 cm oder im Fernbereich eine Sehschärfe von nicht mehr als 0,3 besteht oder wenn Störungen der Sehfunktion von entsprechendem Schweregrad vorliegen. Besteht ein besseres Sehvermögen, so stehen Leistungen im Ermessen des Eingliederungshilfeträgers.
3 Zu einzelnen Teilhabeleistungen
Bezüglich der Leistungen zur Teilhabe an Bildung wird auf Kapitel V, 3.2 sowie Kapitel VI, 3 verwiesen und hinsichtlich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auf Kapitel VII, 4. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gibt es im Rahmen der Eingliederungshilfe nur in einem außerordentlich begrenzten Rahmen; sie werden hier nicht behandelt.
Angesprochen seien hier die Leistungen der sozialen Teilhabe. Ihre besondere Aufgabe ist es, die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern.
Zu den Leistungen zur sozialen Teilhabe gehören u. a.: Assistenzleistungen einschließlich Elternassistenz, heilpädagogische Leistungen, Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten einschließlich der blindentechnischen Grundausbildung, Leistungen zur Mobilität, Hilfsmittel.
Die Assistenzleistungen werden zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen. Leistungsberechtigten Personen, die ein Ehrenamt ausüben, sind angemessene Aufwendungen für eine notwendige Unterstützung zu erstatten, soweit die Unterstützung nicht zumutbar unentgeltlich erbracht werden kann. Die notwendige Unterstützung soll hierbei vorrangig im Rahmen familiärer, freundschaftlicher, nachbarschaftlicher oder ähnlich persönlicher Beziehungen erbracht werden.
4 Gemeinsame Leistungserbringung
Bestimmte Leistungen können an mehrere Leistungsberechtigte gemeinsam erbracht werden, soweit dies nach § 104 SGB IX zumutbar ist und mit Leistungserbringern entsprechende Vereinbarungen bestehen (sogenanntes Pooling).
5 Eingliederungshilfe im Verhältnis zu anderen Leistungen
Eingliederungshilfe und Blindenhilfe werden nebeneinander erbracht (siehe auch Kapitel IV, 7).
Der Gleichrang von Eingliederungshilfe und Pflegeversicherungsleistungen nach dem SGB XI bleibt erhalten. Beim Zusammentreffen von Leistungen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII im häuslichen Umfeld (das wird ganz überwiegend nur blinde oder sehbehinderte Menschen mit mehrfacher Beeinträchtigung betreffen) wird seit 2020 das sogenannte „Lebenslagenmodell“ umgesetzt (§ 103 Abs. 2 SGB IX). Das heißt: Bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze umfassen die Leistungen der Eingliederungshilfe die Leistungen der Hilfe zur Pflege. Damit gelten für die Betroffenen die günstigeren Einkommens- und Vermögensgrenzen der Eingliederungshilfe, und zwar über das Renteneintrittsalter hinaus. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass bei Menschen, die erstmals nach Erreichen der Regelaltersgrenze einen Anspruch auf Eingliederungshilfe haben und bei denen zusätzlich Hilfe zur Pflege erforderlich ist, beide Leistungen nebeneinander gewährt werden, man aber vorrangig von einer Pflegeleistung ausgeht.
6 Heranziehung von Einkommen und Vermögen
Zu den Leistungen der Eingliederungshilfe ist – von Ausnahmefällen abgesehen – ein Eigenbeitrag zu leisten. Berücksichtigt wird nur das Einkommen der antragstellenden Person selbst und bei Minderjährigen dasjenige der Eltern.
Das Einkommen und Vermögen der Partnerin bzw. des Partners wird nicht herangezogen. Ebenso müssen unterhaltsverpflichtete Familienangehörige nicht nachrangig zu den Kosten beitragen.
Für die Ermittlung des Eigenbeitrages ist das Jahresbruttoeinkommen abzüglich Werbungskosten maßgeblich. Auf die individuelle Situation (z. B. hohe behinderungsbedingte Unterkunftskosten in Ballungsräumen) kommt es nicht an. Maßgeblich für die Ermittlung des Beitrages ist die Summe der Einkünfte des Vorvorjahres nach § 2 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes sowie bei Renteneinkünften die Bruttorente des Vorvorjahres. Wenn zum Zeitpunkt der Leistungsgewährung eine erhebliche Abweichung zu den Einkünften des Vorvorjahres besteht, sind die voraussichtlichen Jahreseinkünfte des laufenden Jahres zu ermitteln und zugrunde zu legen.
Wie berechnet sich der Eigenbeitrag? Zunächst wird der individuelle Einkommensfreibetrag ermittelt. Dieser ist abhängig von der Art des Einkommens und den familiären Verhältnissen. Als Bezugsrahmen für die Ermittlung des Einkommensfreibetrages dient die Sozialversicherungsbezugsgröße nach § 18 SGB IV für die alten Bundesländer. Diese wird jährlich festgesetzt und beträgt für das Jahr 2022 39.480 Euro.
Ein Beitrag zu den Aufwendungen der Eingliederungshilfe ist gem. § 136 SGB IX aufzubringen, wenn das Einkommen überwiegend
- aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit erzielt wird und 85 Prozent der jährlichen Bezugsgröße übersteigt oder
- aus einer nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oder aus Vermietung oder Verpachtung erzielt wird und 75 Prozent der jährlichen Bezugsgröße übersteigt oder
- aus Renteneinkünften erzielt wird und 60 Prozent der jährlichen Bezugsgröße übersteigt.
Diese Beträge erhöhen sich für den nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartner, den Partner einer eheähnlichen oder lebenspartnerschaftsähnlichen Gemeinschaft sowie für jedes unterhaltsberechtigte Kind im Haushalt entsprechend § 136 Abs. 3 oder 4 SGB IX). Bei minderjährigen Leistungsberechtigten gilt § 136 Abs. 5 SGB IX.
Beispiel: Bei einem oder einer alleinstehenden versicherungspflichtig Beschäftigten wird ein Eigenbeitrag für Leistungen der Eingliederungshilfe im Jahr 2022 erst ab einem steuerpflichtigen Jahreseinkommen von 33.558 Euro erhoben.
Von dem die Einkommensgrenzen übersteigenden Jahreseinkommen sind 2 Prozent als monatlicher Beitrag aufzubringen (§ 137 SGB IX), im Ergebnis also 24 Prozent des die Grenzen übersteigenden Jahreseinkommens. Der ermittelte Monatsbetrag wird auf volle 10 Euro abgerundet.
Beispiel: Alleinstehende mit einem zu versteuernden Jahres-Bruttoeinkommen von 35.000 Euro hätten im Jahr 2022 monatlich 20 Euro als Eigenbeitrag zu leisten (35.000 – 33.558 = 1.442 (überschießendes Einkommen) davon 2 Prozent = 28,84 Euro, gerundet 20 Euro).
Bei einmaligen Leistungen zur Beschaffung von z. B. Hilfsmitteln, deren Gebrauch für mindestens ein Jahr bestimmt ist, ist höchstens das Vierfache des monatlichen Beitrages einmalig aufzubringen.
Der Vermögensfreibetrag beträgt 150 Prozent der jährlichen Bezugsgröße (§ 139 SGB IX). Das sind 2022 59.220 Euro.
Zusätzlich zu diesem Freibetrag werden, wie bisher, bestimmte Vermögenswerte nicht berücksichtigt (§ 139 SGB IX). Das betrifft etwa das selbst genutzte angemessene Wohneigentum. Der Gesetzgeber hat für Menschen, die bereits vor 2020 einen Anspruch auf Eingliederungshilfe hatten, einen Bestandsschutz im Gesetz verankert. Hier gilt: Solange der Eigenbeitrag nach neuem Recht höher ist als der Eigenbeitrag des Übergangsrechts, darf nur der geringere Eigenbeitrag verlangt werden.
Bei bestimmten Leistungen der Eingliederungshilfe wird aus sozialpolitischen Gründen ein Kostenbeitrag nicht oder nur in geringerem Umfang verlangt. So wird beispielsweise für die Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung gemäß § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IX oder für heilpädagogische Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind, kein Kostenbeitrag verlangt (vgl. zu den Privilegierungstatbeständen insgesamt § 138 SGB IX). Bei Internatsunterbringung ist insoweit nur ein Kostenbeitrag in Höhe der häuslichen Ersparnis zu leisten. Das Vermögen wird in diesen Fällen nicht berücksichtigt.