"Ich und meine Familie"
Gestaltung von Tastbüchern für Kinder im Vorschulalter
Mein Kind wird lesen und begreifen
Im Rahmen eines regelmäßig stattfindenden Eltern-Kind-Kurses der Beratungsstelle Ilvesheim wurde das Buch "Ich und meine Familie" hergestellt.
Das Konzept und die Standards entwickelten sich hier in langjähriger intensiver Auseinandersetzung und Erprobung mit dieser Thematik.
Frau Sariyannis, Mutter von zwei blinden Kindern, hatte die Idee zur Geschichte und setzte sie in intensivem Austausch mit der Beratungsstelle Ilvesheim als Buch um.
1. Grundsätze der Buchgestaltung
Die Bücher werden i. d. R. im DIN A5 Format erstellt, da diese Größe dem Tastraum blinder Vorschulkinder angemessen ist. (Größere Formate überfordern manche Kinder bei der Orientierung auf den Buchseiten.)
Auf jeder Doppelseite ist links der Text in Normaldruck und Brailleschrift gedruckt. Auch wenn das Kind noch nicht lesen kann, ist die Begegnung mit Texten für die Entwicklung eines Schriftkonzepts wichtig.
Die Gestaltung der Bilder folgt den Grundsätzen für taktile Darstellungen, z. B. beschrieben bei Lang/Hofer/Beyer, Didaktik des Unterrichts mit blinden und hochgradig sehbehinderten Schülerinnen und Schülern. Dinge werden möglichst nahe am Original modellhaft und in Material und Oberflächengestaltung dargeboten. Die Sicht auf die Bilder ist immer gerade von oben oder von der Seite und nicht perspektivisch.
Die meisten Bilder enthalten bewegliche Elemente, mit denen das Kind die erzählte Geschichte selbst mit- oder nachspielen bzw. variieren kann. Objekte können aus dem Buch herausgenommen werden, um damit spielerisch umzugehen.
Alle Bilder enthalten Brailleschrift: Straßen werden als Zeilen von Braillebuchstaben dargestellt (die kleine b-Straße), Namen von Personen, Tieren oder Gebäuden, Mengenangaben durch die entsprechende Zahl von Braillepunkten ...
Die Bücher enthalten Aufgaben zur Förderung von Taststrategien wie: Zählen, Verfolgen von Linien, Vergleichen von Gegenständen, Symbolen oder Buchstaben, Orientierung auf einer Buchseite.
Die Geschichte kann durch austauschbare Elemente variiert werden, so dass sie dem Kind bei jedem Vorlesen anders erscheint, z. B. können auf eine Filz-Seite immer wieder andere Buchstaben mit Klett befestigt werden.
Die Geschichte enthält Dinge, die das Kind in seiner Begriffsbildung fördern (z. B. Körperkonzept, Tierarten, Umwelt und Natur).
2. Gestaltung des Vorlesens
Das Buch liegt möglichst auf einem Tisch auf rutschfester Unterlage vor dem Kind, das selbst das Buch aufschlägt, die Seiten erkundet und umblättert. So erhält das Kind ein Verständnis von Büchern und dem Umgang damit.
Vor dem Lesen analysiert die Vorleserin/der Vorleser das Buch auf Elemente, die sich zur Förderung der Begriffsbildung eignen. So kann ein dargestelltes Gesicht zur Entwicklung des Körperbewusstseins genutzt werden und ein Stück Rinde zur Umwelterfahrung.
Die Vorleserin holt Hintergrundinformationen zu den im Buch enthaltenen Sachthemen ein, nutzt zusätzliche Objekte oder Modelle und gibt sie kindgerecht weiter.
Bei jedem Vorlesen wählt sie Themen aus, die ausführlich besprochen werden können. Die Auswahl kann sich nach dem aktuellen Interesse des Kindes richten, nach seinem Wissensstand oder Erfordernissen, was gerade gelernt werden sollte.
Das Buch wird vor dem Lesen mit Varianten der Aufgaben vorbereitet, die darin enthalten sind (z. B. beim Zuordnen von Braille-Buchstaben). Damit ist das Buch jedes Mal ein bisschen anders.
Zu einzelnen Themen können auch Aktivitäten stattfinden, wie Ausflüge in den Wald.
3. Beispielbuch: Ich und meine Familie
Die beschriebenen Punkte werden deutlich bei dem Buch "Ich und meine Familie", das Frau Sariyannis in einem Eltern-Kind-Kurs der Beratungsstelle Ilvesheim am 29.10.2011 in Rastatt/Deutschland vorstellte.
1. Seite:
Text: "Ich heiße … und bin … Jahre alt. Ich weiß schon wie mein Name geschrieben wird. Du auch?"
Die Titelseite ist ein Gesicht - das Gesicht des Kindes. Auf die Stirn können verschiedene Frisuren geheftet werden. Das Gesicht kann beim Vorlesen Anlass sein, das Körperschema des Kindes zu entwickeln. Was gibt es in einem Gesicht? Was befindet sich wo? Das Kind sollte die Möglichkeit bekommen, verschiedene Gesichter von Familienmitgliedern und Verwandten zu betasten. Auch verschiedene Gesichtsausdrücke können vermittelt werden, genau so wie unterschiedliche Frisuren. Unter dem Gesicht ist ein Streifen aus Klettband. Hier kann das Kind aus Braillebuchstaben seinen Namen anheften. In das Buch ist eine Seite aus Filz eingeordnet (aus einem Fußabstreifer geschnitten). Auf dieser Seite können die Buchstaben aufgeheftet und so bereit gehalten werden. Das Kind kann auch dort Wörter aus Braillebuchstaben bilden. Alternativ können die Buchstaben auch in einer Streichholzschachtel bereitgestellt werden.
2. Seite:
Text: "Zu mir gehören: Mama, Papa, mein großer Bruder Leo, Oma und Opa. Wir wohnen in der kleinen a Straße Hausnummer 2."Das Haus der Familie "Kurz".
Das Haus der Familie "Kurz". Das Bild zeigt ein Haus mit Tür, die geöffnet werden kann, Fenster, Namensschild, Hausnummer, Dach und Schornstein. Anhand des Hauses im Buch kann sich das Kind die Strukturen von Häusern bewusst machen.
Unter dem Haus führt eine Reihe von a in Braille entlang.
Im Fenster und in der Tür ist Klettband. Hier kann der Name des Kindes aus einzelnen Braillebuchstaben angeheftet werden. Dabei kann man die genannte Filzseite zur Hilfe nehmen.
3. Seite:
Text: "Mama ist in der Küche und schreibt einen Einkaufszettel. Wie viele Bananen, Brezeln, Eier und Kekse möchte sie kaufen?"
Das Kind kann die vier Gegenstände ertasten. Sie können näher thematisiert werden. Sie können mit Originalobjekten verglichen werden. Es ist z. B. auch ein Experiment mit Eiern möglich: Von drei Eiern wird eines für drei Tage und eins für einen Tag in Essig gelegt. Nach drei Tagen werden die drei Eier miteinander verglichen. Das Kind kann alle Dinge natürlich auch zu essen bekommen. Neben jedem Gegenstand ist eine Reihe von Braillepunkten von 2 bis 5, die das Kind zählen soll. Auf den Klettpunkt daneben soll es die Zahl als Punktmuster auf dem Würfel zuordnen.
Als weiteres Thema kann das Einkaufen an dieser Buchseite festgemacht werden. Das Kind kann beim Einkaufen gehen lernen, wo im Supermarkt sich welche der vier Produkte befinden, wie sie tastend erkannt werden können und wie sie verpackt sind.
4. Seite:
Text: "Leo macht im Kinderzimmer Hausaufgaben. Die Aufgabe lautet: Suche den Partner. Möchtest du ihm dabei behilflich sein?"
Das Kind soll hier aus einer Auswahl von Buchstaben vier zu vorgegebenen Buchstaben zuordnen. Die Aufgabe kann bei jedem Lesen variiert werden.
5. Seite:
Text: "Opa und Oma sind wandern. Opa hat auf dem Sandweg neben der b Straße eine Schleimspur enteckt. Wo die wohl hinführt?"
Der Sandweg aus Schleifpapier führt parallel zu einer Reihe von Braille b. Auf dem Weg ist ein Silikonstreifen mit "Schleimspur" beschriftet. Das Kind kann hier Linien aus unterschiedlichen Materialien verfolgen und die Breite der Strecken vergleichen.
6. Seite:
Text: "Sie führt über weiches Moos, einen Stein und ein Stück Rinde bis zu einem verwelkten Blatt. Wer sich wohl darunter versteckt hat? Schau mal nach."
Das Kind kann die Spur über verschiedene Untergrundmaterialien verfolgen. Alle auf der Seite vorkommenden Dinge können vertieft behandelt werden. Dabei sollten möglichst Originalobjekte - am besten bei Ausflügen in die Natur - betastet werden. Das Kind darf aber nicht gezwungen werden, Dinge anzufassen, weil so Tasthemmungen entstehen können.
Dazu zeigt Frau Sariyannis z. B. ein orginalgetreues Modell einer Weinbergschnecke, die größte Gehäuseschnecke in Europa, das Haus einer thailändischen Mammutschnecke aber auch das Haus einer Achatschnecke aus Nigeria, einer der größten Schnecken der Welt, mit einer Länge von bis zu 30 cm. Die Weinbergschnecke hat eine Raspelzunge auf der sich ca 40.000 Hornzähnchen befinden, was mit einer Küchenraspel verdeutlicht werden kann. Mit der Kriechsohle ihres Fußes kriecht sie über jeden, vorher von ihr beschleimten Untergrund. Mit solch profundem Hintergrundwissen gibt es immer wieder Neuigkeiten, die man mit dem Kind beim Vorlesen besprechen kann.
7. Seite:
Text: "Papa sagt mir einen Buchstaben und ich suche aus dem Säckchen einen Gegenstand, der mit diesem Buchstaben beginnt."
Auf die Seite kann ein Braillebuchstabe geheftet werden. In ein Säckchen können verschieden viele Gegenstände gesteckt werden. Das Kind soll den Gegenstand oder alle Gegenstände aus dem Säckchen herausfinden, die mit dem vorgegebenen Buchstaben beginnen, z. B. p = Pilz.
Die Gegenstände im Säckchen können wiederum zum Anlass genommen werden, sie näher zu besprechen und vertiefend zu erläutern.
Resümee
Im hier vorgestellten Buch wurde eine Möglichkeit aufgezeigt wie man ein Aktionsbuch für blinde Vorschulkinder herstellen kann.
Beim Gestalten des Buches wurde den Eltern die Wichtigkeit einiger Standards bewusst gemacht; sie hatten in diesem Rahmen die Möglichkeit - dank vieler Vorarbeiten von Frau Sariyannis und der Beratungsstelle der Schloss Schule Ilvesheim - selbst ein Buch mit nach Hause zu nehmen.
Es stellte sich heraus, dass die Erstellung sehr aufwändig und in Eigenregie kaum zu leisten ist.
Daher wäre es erstrebenswert, dass eine größere Auswahl entsprechender taktiler Aktionsbücher produziert wird. Dann könnten blinde Kinder auch aus mehreren Büchern auswählen, wie dies bei Sehenden selbstverständlich ist.
Finden Sie hier die englische Fassung: Me and my family