Ein Zwischenruf zur Blindenbildung in Deutschland

Zum 200. Geburtstag Louis Brailles.

Was haben die Wörter „Blindenpedergoge“, „Harz 4“ und „Deffinition“ gemeinsam?

Genau: Alle drei Wörter sind falsch geschrieben.

Dass Rechtschreibfehler mal häufiger, mal seltener in allen Arten von Publikationen vorkommen, ist an sich nichts Außergewöhnliches, und perfekt ist absolut niemand. Das Besondere ist aber, dass sich derlei Schreibweisen eben gerade unter blinden jungen Menschen in letzter Zeit häufen. Beobachtet habe ich dies insbesondere in entsprechenden Mailinglisten. Ganz offensichtlich handelt es sich dabei um eine Auswirkung der Tatsache, dass sich die gute alte „Braille“-Schrift immer geringerer Beliebtheit erfreut und durch synthetische Sprache ersetzt wird. Von einer Sprachausgabe kann man aber die Rechtschreibung nur sehr bedingt lernen. Schlimmer noch: „Braille“ scheint immer weniger ein unterrichtsrelevanter, für die schulische Bildung blinder Jugendlicher unerlässlicher Kulturträger zu sein.

Ich möchte dabei keineswegs behaupten, dass das Hörbuch und die moderne Technik an sich schlecht und grundsätzlich abzulehnen sind. Es ist aber schon ein gewaltiger Unterschied, ob man beispielsweise in einer Gymnasialklasse die Deutsch-Lektüre in Schwarzschrift unter den Augen bzw. in „Braille“ unter den Fingern hat, oder ob man sich das Buch in einer womöglich gekürzten Hörfassung zu Gemüte führt. Dass aber Lehrkräfte sich damit begnügen und es für normal halten, dass ein Blinder nun einmal mit dem Lesen Probleme hat, ist ein Alarmsignal. Was mir in Sachen „Braille“-Praxis von integrierten Schülern (also blinden Schülerinnen und Schülern in Regelschulen) berichtet wird, sind Beispiele für eine gefährliche Entwicklung zur „Schriftlosigkeit“ blinder Menschen.

Fast 200 Jahre nach der Geburt des genialen Louis Braille und mehr als 100 Jahre nach der Durchsetzung der „Braille“-Schrift als die praktikabelste Blindenschrift, liegt es mehr denn je an uns blinden Menschen selbst, uns vor einem Abdriften in den praktischen oder funktionalen Analphabetismus zu schützen! Es ist nicht der Computer, der uns die Punktschrift nimmt – sie lässt sich ja auf der „Braille“-Zeile anzeigen oder im Bedarfsfall auf Papier ausdrucken. Es ist der Trend zur Audio-Berieselung, dem wir uns hier entgegenstellen müssen. Wenn uns Verlage Zeitschriften nur noch im hörbaren DAISY-Format und ohne lesbaren digitalen Text anbieten, ist dies nicht gerade ein ermutigendes Zeichen.

Die oben erwähnte gefährliche Entwicklung in Sachen „Braille“ betrifft aber gar nicht nur integriert beschulte Kinder und Jugendliche und die Punktschrift. Vielmehr geht es darum, was blinden Menschen heute an Selbständigkeit und Bildung zugetraut und – im guten Sinne des Wortes – abverlangt bzw. zugemutet wird. An den Sehbehinderten- oder Blindenschulen, die – in geradezu krankhafter „Political Correctness“ – als „Förderzentren mit dem Förderschwerpunkt Sehen“ bezeichnet werden, ist es mit „Braille“-Kenntnissen nicht überall gerade weit her. Ein Grund dafür ist, dass geeignete Lehrkräfte fehlen bzw. aus Geldmangel nicht eingestellt werden. Woher soll blindenpädagogisches und blindendidaktisches Wissen kommen, wenn Lehrerstellen gestrichen werden und selbst einige Förderschulen personell und materiell chronisch unterversorgt sind?

Ähnlich unbefriedigend ist die Situation auch beim Erwerb lebenspraktischer Fertigkeiten. Oft fehlt es an der so wichtigen Schulung von Mobilität und Orientierung. Manch einer, der sich selbst als „integrationsgeschädigt“ bezeichnet, wird dann leider auch an der Förderschule enttäuscht, weil inzwischen auch dort die Mittel fehlen. Punktschrift-Lesewettbewerbe der Blinden- und Sehbehindertenverbände auf Landes- und Bundesebene sind ein guter Ansporn, dem Trend zu immer weniger Leseförderung und -forderung entgegenzuwirken.

In Sachen Förderung von Mobilität und lebenspraktischen Fertigkeiten müssten wir uns wohl erst noch pfiffige Aktionen einfallen lassen, um die Öffentlichkeit – blind wie sehend – wachzurütteln.

Bei dieser oft prekären Lage ist es fast nur noch ein kleines Detail, das über die reine Schulleistung hinausgehende Begabungen häufig auf der Strecke bleiben. Wo früher an Blindenschulen sprachliche, musische oder andere Talente mit den Mitteln der damaligen Pädagogik gefördert wurden (aus heutiger Sicht manchmal mit zu viel Druck und Drill), verkümmern sie heute meist völlig. Der Grund: Es fehlen Zeit und Kompetenz, solche Begabungen zu entdecken, geschweige denn sie geschickt und zur Freude aller Beteiligten zu fördern!

So könnte uns die Integration mit ihren höchst erfreulichen sozialen Aspekten um Bildung, Mobilität und lebenspraktische Fertigkeiten bringen, weil wieder einmal am falschen Ort gespart wird. Dann könnte es sein, dass eine breite Öffentlichkeit vom blinden Klassenkameraden gelernt hat, dass Blinde „halt nur ganz langsam lesen und ,schwierige Sachen’ nicht selbständig essen können“ oder dass sie „im öffentlichen Personenverkehr eine sehende Begleitung haben müssen, weil alles andere für jeden Blinden zu kompliziert ist.“ Schuld an dieser schlechten Entwicklung ist nicht die Integration selbst, sondern die Tatsache, dass sie selten so gut funktioniert, wie sie funktionieren könnte! Es liegt an falsch umgesetzter, weil unkoordinierter Inklusion blinder Kinder im normalen Unterricht, ohne zusätzliches Personal und angepasste bzw. ergänzte Lerninhalte.

Zugespitzt lautet der Befund: Blinde junge Menschen werden heutzutage in Deutschland oft um ihre Bildung betrogen – im umfassenden Sinne des Wortes! Selbstverständlichkeiten wie Lesen und Schreiben sowie praktisch eingeübter zwischenmenschlicher Umgang miteinander (Stichwort „Teamfähigkeit“ bzw. „angemessenes Auftreten“) sollten ja auch bei Menschen ohne Sehbehinderung dazu gehören – warum dann nicht bei uns Blinden oder hochgradig Sehbehinderten?

Am 200. Geburtstag von Louis Braille darf es im High-Tech-Land Deutschland nicht sein, dass blinden Menschen Bildung vorenthalten wird. Der Staat glaubt, durch Abbau der Förderschulen und durch Integration blinder Kinder zum Nulltarif die billigere Lösung herbeiführen zu können, ohne dafür dann die notwendigen sonderpädagogischen Rahmenbedingungen zu schaffen. Es darf nicht zum Regelfall werden, dass ein blindes Kind mehr schlecht als recht im Klassenzimmer am Unterricht teilnimmt, weil jeder Fall von Integration ein neues aufwändiges Pilotprojekt für alle Beteiligten ist. Es ist ein untragbarer Zustand, dass (oft überforderte oder schlecht ausgebildete) sonderpädagogische Lehrkräfte dem blinden Schüler durchschnittlich gerade einmal 20 Minuten pro Woche zur Verfügung stehen.

Es muss wieder zum Regelfall werden, dass alle blinden Kinder und Jugendlichen fundierte „Braille“-Kenntnisse erwerben. Keine Experimente mit verschiedenen Zeichensätzen wie „Euro“-Braille oder mal sechs, mal acht Punkten mehr! Die Blindenkurzschrift könnte sich als Auslaufmodell herausstellen. Meiner Meinung nach sollte sie aber nicht leichtfertig aufgegeben werden. Vielmehr sollten Jugendlichen die Vorteile der Kurzschrift, z. B. als Leseschrift auf der „Braille“-Zeile eines Computersystems, gezeigt und schmackhaft gemacht werden.

Des Weiteren muss gewährleistet sein, dass es für Schüler, Eltern und Lehrer von der ersten Grundschulklasse bis zum Abschluss klare, verlässliche Integrations-Standards gibt, die kulturelle und soziale Kompetenzen vermitteln. Nur mit einer solchen Ausstattung, bestehend aus guter Schul- und Persönlichkeitsbildung, können wir wirklich möglichst viel Teilhabe und selbstbestimmtes Leben realisieren – im Beruf, im privaten Umfeld, in der Gemeinde.

Gefordert sind alle, die in den Selbsthilfeverbänden, in Blindenschriftverlagen oder einfach als möglichst aktive Leserinnen und Leser zeigen können: „Braille“, das sind und bleiben „sechs Richtige“ für uns Blinde und das Tor zur Bildung! Die Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe mit dem DBSV an der Spitze fordert zurecht: Je nach erreichbarem Selbständigkeitsgrad und -bedürfnis muss die Wahlfreiheit erhalten bleiben zwischen (endlich standardisierter) Integration und (gut ausgestatteter) Förderschule, zwischen selbständigem und stärker betreutem Leben, zwischen Leben mit mehr oder weniger Assistenz je nach Wunsch und Bedarf. Für diese Position müssen wir uns einsetzen – sachlich gut argumentierend zum Wohle kommender Generationen blinder junger Menschen!

Informationen zum Autor:

Aleksander Pavkovic ist Jahrgang 1976 und geburtsblind. Derzeit promoviert er im Fach Slavistik an der Universität München. Parallel dazu ist Pavkovic in lokalen und überregionalen Blindenverbänden (Bayerischer Blinden- und Sehbehindertenbund „BBSB“, Deutsches Katholisches Blindenwerk „DKBW“ und Internationale Föderation katholischer Blindenvereinigungen „FIDACA“) aktiv.