Hieronymus Lorm - Leben und Werk

Auszug aus einem Artikel von Dr. Hartmut Mehls, erstmals erschienen in den Vereinsnachrichten des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin (ABSV), Ausgabe 6/2013

Kolorierter Holzstich: Kopf und Oberkörper von Hieronymus Lorm im Halbprofil. Sein dichtes, kurzes Haar und Vollbart sind grau, er trägt ein dunkles Jackett und Weste mit hellem Hemd und Fliege.
Heinrich Landesmann (Hieronymus Lorm), 1878. Bild: Wikimedia Commons, gemeinfrei

Wir danken Dr. Mehls und dem ABSV für die freundliche Genehmigung, diesen Text für die Internetseite des DBSV und als Pressetext zu Hieronymus Lorm zu verwenden.

Heinrich Landesmann
mit Pseudonym
Hieronymus Lorm

Die Erfindung des "Lormens", für die der Name Hieronymus Lorm heute steht, war ein notwendiges Nebenprodukt, das im Verlaufe der Ertaubung und Erblindung des Schriftstellers und Philosophen entstand. Aber neben der bei uns bekanntesten Verständigungssprache mit und zwischen taubblinden Menschen hinterließ Lorm ein umfangreiches lyrisches, essayistisches, literarisches und philosophisches Werk.

Einige Lebensdaten zu Hieronymus Lorm

Er wurde als Heinrich Landesmann am 9. August 1821 in dem kleinen mährischen Städtchen Nikolsburg (Tschechien) von jüdischen Eltern geboren. Sein Vater war ein wohlhabender Kaufmann. Die Familie zog nach Wien, wo die Eltern einen Salon führten, in dem Künstler und Schriftsteller verkehrten.

Bei diesen Empfängen beobachtete Heinrich das Verhalten der "guten Gesellschaft" und lauschte auf ihre Gespräche. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse spiegeln sich beispielsweise in seinem reifsten Roman "Die schöne Wienerin" wider, der als treffendste Darstellung der Gesellschaft Wiens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt.

Bei den Empfängen im Elternhaus trat Heinrich als virtuoser Klavierspieler auf. Die Laufbahn als Musiker musste er jedoch wegen seiner schwachen Gesundheit und schließlichen Ertaubung abbrechen.

"Memoiren eines Mannes, der nichts erlebte" – diesen Titel wollte Lorm seinen Erinnerungen geben, falls er solche schreiben würde. Er tat es leider nicht; lediglich wenige Erinnerungsblätter sind erhalten. Nur selten wäre eine Überschrift irreführender gewesen, als die obengenannte. Die Selbsteinschätzung seines Lebens und Werkes zeigt aber die eigene Wertung seiner Lebensleistung. Der Kampf zur Meisterung des Lebens als tauber und blinder Mensch beinhaltete aus seiner Sicht keine Erlebnisse, die in Memoiren überliefert werden müssen. Es ist nur folgerichtig, dass Lorm weder Blindheit noch Taubheit zum Gegenstand seines literarischen Werkes noch einer gesonderten Studie machte. In wesentlichen Punkten unterschied sich Lorm von Oskar Baum, einem anderen deutschsprachigen jüdischen Autor, der sich in seinen Werken mit der deutsch-österreichischen Blindenlehrerschaft anlegte.

Heinrich Landesmann ertaubte in seinem fünfzehnten Lebensjahr, und es begannen seine Augenleiden, die allmählich zur Erblindung führten. Mit fünfundzwanzig Jahren emigrierte er nach Berlin, da ihm in Wien Repressionen drohten.

Nach der Revolution von 1848 kehrte er nach Wien zurück und wurde einer der bekanntesten deutschsprachigen Feuilletonisten der folgenden Jahrzehnte.

Im Jahre 1856 heiratete er Henriette Frankl, eine kluge sowie warmherzige Frau. Ihr und seiner Tochter Marie setzte Lorm in seinen Büchern literarische Denkmäler. Sie zum Vorbild nehmend, schuf er starke Frauengestalten in seinen Prosawerken.

Die Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung des taubblinden Mannes durch die Verleihung des Doktorgrades für Philosophie in den 70er Jahren wird in der Literatur nur selten – und dann beiläufig – erwähnt. Es wäre verdienstvoll, dies exakter unter dem Gesichtswinkel eines taubblinden Menschen zu untersuchen.

Lorm gelang es dank seiner Begabung und eines enormen Fleißes, was nicht vielen vollsinnigen Zeitgenossen gelang: Seine Familie mit Hilfe literarischer Arbeiten zu ernähren und seinen drei Kindern eine solide Ausbildung zu geben. Er wohnte in Berlin, Wien, Baden (bei Wien) und Dresden. 1892 zog Lorm nach Brünn (Tschechien), wo sein ältester Sohn als Arzt praktizierte. Dort starb er am 3. Dezember 1902.

Hieronymus Lorm und sein Werk

In der zweiten Hälfte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts – kurz nach seiner Ertaubung – veröffentlichte Heinrich Landesmann seine ersten Gedichte. 1843 erschien "Abdul", eine Faust-Sage in fünf Gesängen. Seine Aufsätze nahmen an Schärfe zu und richteten sich gegen die Zensur in Wien. Ein Freund warnte die Familie, dass ihr Unannehmlichkeiten und Heinrich Gefahren seitens der österreichischen Behörden drohen. Um sich und die Seinen vor Verfolgung zu schützen, veröffentlichte Heinrich Landesmann ab 1846 unter dem Pseudonym Hieronymus Lorm. Er dachte nicht daran, sich einen Maulkorb anlegen zu lassen, und emigrierte zunächst nach Leipzig zu seinem Freund Moritz Hartmann, um nach einem kürzeren Aufenthalt nach Berlin zu gehen. Hier beobachtete er die Revolution von 1848 aus nächster Nähe. Nach der Ablösung des Metternich-Regimes kehrte er nach Wien zurück.

Lorm hinterließ ein vielschichtiges und umfangreiches Werk. Zahlreiche Aufsätze erschienen in Zeitungen und Zeitschriften. Sie harren noch ihrer Erschließung; seine Lustspiele und Dramen, von denen einige im Wiener Burgtheater zur Aufführung gelangten, müssen erst wieder aufgefunden werden. Aber ein Teil seiner Feuilletons, Kritiken und Essays erschien zu seiner Lebzeit in Buchform. Sie sind relativ leicht zugänglich, unter anderem in der Bibliothek des Deutschen Blinden-Museums.

Am ergiebigsten für den heutigen Leser sind seine Gedichtsammlungen. Hieronymus Lorm war in seinem Innersten Lyriker. Was er durchlebte, fühlte und dachte, sprach er am deutlichsten in seinen Gedichten aus. Es gibt drei Sammlungen, die bis zu sieben Auflagen erlebten.

Seine Lyrik ist aus drei Gründen unverwechselbar:

  1. Die musikalische Begabung von Lorm schlug sich in der Melodik seiner Gedichte nieder. Die Schönheit der Sprache und die Tiefe der Gedanken regten mehrfach Musikschaffende zu Kompositionen an, obwohl mir keine Schallplatten- oder Tonaufnahmen bekannt sind.
  2. In den Gedichten spiegelt sich das Schicksal von Lorm wider, ohne pessimistisch und niederdrückend zu wirken. Wer seine Biographie kennt, kann nur bewundernd staunen, wie sich in ihnen sein "grundloser Optimismus" (wie er sein philosophisches Hauptwerk nannte) zeigte; aber auch die Einsamkeit des Taubblinden klingt an, führt aber nie zur erwarteten Resignation oder gar Verzweiflung. In seinem Alter fand er ein prägnantes Bild: Er müsse "innerlich kichern", wenn er bedauert werde, denn "der Duft der Rose" sei ihm doch geblieben. Die Strophe eines Gedichtes gibt seine Haltung wieder:

    Und droht auch Nacht der Schmerzen ganz
    mein Leben zu umfassen –
    ein unvernünft'ger Sonnenglanz
    will nicht mein Herz verlassen.

  3. In seinen Gedichten benutzte er visuelle und akustische Motive und Bilder aus der Natur, in denen sich oft die Sehnsucht nach Harmonie ausdrückt. Sie entstehen aus der Erinnerung und seinem Gefühl. Während die Erinnerung über die Jahrzehnte die Bilder noch vertiefen und verinnerlichen lässt, reifen sie zu Gleichnissen. Die Umsetzung der Bilder gelingt ihm hier nicht in dem Maße wie in seinen Romanen.

Vor allem mit Literaturkritiken, Feuilletons und Essays zu mannigfaltigen Themen verdiente Lorm den Unterhalt für die Familie. Aneinandergereiht ergäben sie einen Überblick über die deutschsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts. So weckte er beispielsweise das Interesse der Leser an Willibald Alexis, dem Autor von acht Romanen zur Berlin-Brandenburgischen Geschichte. Lorms Aufsätze, die in geringer Auswahl in Sammelbänden zugänglich sind, dokumentieren die umfangreichen Kenntnisse und die exakte Ausdruckskraft dieses taubblinden Mannes.

Er nahm sich die großen französischen und englischen Essayisten zum Vorbild und befruchtete dieses Genre in der deutschsprachigen Publizistik. Die kompromisslose und kritische Beurteilung von Neuerscheinungen erklärt, weshalb selbst die angesehensten Periodika seine Beiträge gern druckten und weshalb kritisierte Autoren ihm distanziert bis feindlich gegenübertraten und – im Falle von Victor von Scheffel – sogar vor Gericht gingen.

Neben der Taubblindheit war die Empfindlichkeit der kritisierten Autoren ein weiterer Grund für Lorms Isolierung. Aber andere Autoren – wie beispielsweise Marie von Ebner-Eschenbach – unterhielten einen lebhaften Briefwechsel mit ihm. Er besaß keinen sehr großen, aber treuen Leserkreis. Dies erwies sich im Prozess mit Victor von Scheffel, den Lorm verlor und der mit einer empfindlichen Geldstrafe für ihn endete. Seine Verehrer sammelten, und er erhielt eine wesentlich höhere Summe, als er zur Entschädigung zahlen musste.

Dem Vorbild vieler Autoren des 19. Jahrhunderts folgend, verfasste Lorm zahlreiche Novellen, die er in Sammelbänden herausgab. Sie sind noch heute lesenswert. In den Jahren zwischen 1878 und 1888 schrieb Lorm die meisten seiner zwölf Romane. Er selbst wertete sie nicht hoch und meinte einmal, der Bäcker und der Fleischer hätten ihn zum Schreiben gezwungen. Mit derselben Schärfe des Urteils, die er gegenüber anderen Autoren anwandte, verfuhr er auch mit seinen Romanen. (Der Verfasser dieses Beitrags schließt sich solcher Selbstkritik von Lorm nur bedingt an.) Ein Leser, der leichte Urlaubslektüre sucht und die Modeliteratur von heute nicht mag, wird "dem Bäcker und dem Fleischer" Dank wissen. Wenn der Inhalt aus heutiger Sicht auch zuweilen konstruiert wirkt, sind die Milieu- und Charakterschilderungen durchaus treffend, sprachlich gut durchgestaltet und von allgemeingültiger Aussage. Die fesselndsten der Romane spiegeln die Wiener Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wider, bei denen Lorm aus seinen Jugenderinnerungen schöpfen konnte.

Das philosophische Schriftgut des taubblinden Menschen ist am interessantesten. Seine Naturbetrachtung und sein "grundloser Optimismus" führen jedoch in dieser Übersicht zu weit, da sie eine Auseinandersetzung mit der Philosophie von Kant über Hegel, Schopenhauer bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erfordern. Lorms philosophisches Hauptwerk "Der grundlose Optimismus" fasst die Quintessenz seines Denkens zusammen.

Für uns, denen mit der Blindenschrift und dem Computer umfangreiche Hilfsmittel zur Verfügung stehen, ringt das Arbeitspensum von Hieronymus Lorm höchste Bewunderung ab. Eine ganze Bibliothek mit philosophischen und schriftstellerischen Werken hat er zunächst noch mühsam selbst lesen können und später mit Hilfe des Lormens in die Hand diktiert bekommen. Die Werke von Goethe, Jean Paul und anderen Autoren waren für den Vorleser und für den taubblinden Empfänger noch relativ leicht zu versehen. Wie stand es aber mit Kant und Hegel? Alle diese oft umfangreichen philosophischen Bände wurden ihm von seiner Frau und vor allem von seiner Tochter Marie mittels des Lormens vorgelesen. Seine Werke und den umfangreichen Briefwechsel diktierte er mündlich, wobei er bis ins hohe Alter über eine deutliche Aussprache verfügte. Marie weihte ihr Leben dem Vater.

Um sich dem taubblinden Menschen verständlich zu machen, erfanden er selbst sowie seine Frau und die Tochter das "Lormen". Dieses Tastalphabet überarbeitete Marie und veröffentlichte es nach dem Tode ihres Vaters dann im Jahre 1908.