Kriterien für gute Tastbücher für blinde und sehbehinderte Kinder

Im Rahmen des internationalen EVEIL-Projektes mit Förderung des EU-Programms COMENIUS wurden Anforderungen für die Herstellung tastbarer Bilder und von Büchern für blinde und sehbehinderte Kinder zusammengetragen. Diese Kriterien sind nicht neu. Es wird aber versucht, sie möglichst umfassend und auch für Laien verständlich zu formulieren.

Zentrale Grundlage dieser Darstellung sind Regeln zur Erstellung taktiler Bücher in der Frühförderung, die im Rahmen des Vorschulcurriculums der Sonderpädagogischen Beratungsstelle der Schloss-Schule Ilvesheim von Michaela Pfeifer, Adalbert Wagner und Inge Ziehmann entwickelt und erprobt wurden.

Das EVEIL-Projekt unterstützte einen Elternkurs zur Herstellung eines taktilen Vorschulbuches, "Ich und meine Familie" der Ilvesheimer Beratungsstelle in Zusammenarbeit mit der Mutter eines blinden Vorschulkindes Susanne Sariyannis, in dem diese Kriterien auch praktisch mit Eltern und ihren Kindern angewandt wurden.

Darüber hinaus wurden für diese Darstellung Kriterien für das Erstellen taktiler Abbildungen aus der entsprechenden Fachliteratur ausgewertet (Lang 2008, Hanke 2006).

Orientierung an den Kindern

Die folgenden Kriterien gelten nicht für alle blinden und sehbehinderten Kinder gleich. Bei der Gestaltung von Bildern und Büchern sollte man immer die konkrete Zielgruppe berücksichtigen. Für ältere und in Tastschulung und Begriffsentwicklung fortgeschrittene Kinder können auch wesentlich abstraktere Abbildungen sinnvoll sein als hier dargestellt, z. B. um sie mit der visuellen Bildersprache der Sehenden vertraut zu machen.

Abbildungen

Einfache Bilder! - nicht originalgetreu nachbauen

  • Das Bild muss auf die wesentlichsten Elemente beschränkt werden, allein schon, weil das Ertasten länger dauert.

  • Die Darstellungen müssen an Alter, Tastfähigkeiten und Erfahrungsschatz der Kinder angepasst sein.

  • Komplizierte Sachverhalte sollten ggf. auf mehrere Tastbilder verteilt werden.

  • Symbole und Darstellungsweisen sollen einheitlich sein.

Materialvielfalt

  • Es sollten möglichst verschiedene Materialien verwendet werden. Je jünger blinde Kinder sind, desto weniger nutzen ihnen Reliefs auf Plastikfolie.

  • Die verwendeten Materialien sollen sich möglichst ähnlich anfühlen, wie die dargestellten Objekte. Geeignet sind z. B. Artikel aus Dekogeschäften (Blätter von Kunstblumen), aus Kunststoff-Modelliermasse selbst gefertigte Miniaturen.

  • Es können auch direkt Originalobjekte verwendet werden, wie Steine, Holzstücke, Fell, Schneckenhäuser oder Muscheln.

Deutliche Unterschiede

  • Die Elemente eines taktilen Bildes sollen deutlich voneinander unterscheidbar sein, z. B. durch klare Kanten, Höhenunterschied oder Unterschiede in der Oberflächenbeschaffenheit.

  • Formen gestalten statt Linien zeichnen.

  • Die dargestellten Objekte sollten in ihrer Form möglichst originalgetreu wiedergegeben werden. Eine kreisförmige erhabene Fläche kann leichter als Ball erkannt werden als eine tastbare Kreislinie; eine gewölbte angeschnittene Kugel noch besser.

Tastanatomie berücksichtigen

  • Linien oder Punkte die weniger als 2 mm voneinander entfernt sind, können nicht mehr gut ertastet werden. Daher müssen die Abstände stets größer sein.

  • Linienverläufe sind nicht so gut ertastbar. Sich annähernde oder kreuzende Linien erzeugen leicht den Eindruck geschlossener Figuren. Linienüberschneidungen und Linienunterbrechungen sollen vermieden werden.

  • Die unterschiedliche taktile Gestaltung von Flächen durch Punktierung oder Schraffur ist zwar visuell meist gut zu unterscheiden, nicht aber durch Tasten.

Keine Perspektive

  • Objekte sollen immer in einem geraden Blickwinkel dargestellt werden. Von einem Haus sollte z. B. die Vorderfassade abgebildet werden und nicht zusätzlich schräg eine Seitenwand. Tiere sollten entweder gerade von der Seite oder gerade von vorn dargestellt werden, nicht schräg.

  • Objekte, die vom Betrachter weiter entfernt sind, können nicht einfach kleiner dargestellt werden.

  • Elemente sollen nebeneinander und nicht hintereinander abgebildet werden und sich nicht überlappen.

Kräftige Farben verwenden

Da die meisten Menschen mit Seheinschränkung über geringes Restsehvermögen verfügen, müssen auch Tastbilder kontrastreich mit Farben gestaltet sein, um die Sehfähigkeit der Kinder zu schulen.

Nicht zu groß

  • Die zu tastende Fläche soll nicht größer als der Arm-Tastraum des Kindes sein.

  • Bei Vorschulkindern hat sich eine Bildgröße von DIN A5 (15 x 21 cm) bewährt.

Bücher

Bücher sind allgemeines Kulturgut unserer Gesellschaften. Auch blinde und sehbehinderte Kinder müssen wissen, was ein Buch ist, wie es aufgebaut ist und wie es gehandhabt wird.

Geschichten lassen sich blinden Kindern auch mit anderen Materialien veranschaulichen, z. B.

  • Wichtige taktile Gegenstände einer Geschichte können in der Reihenfolge ihres Auftauchens an einer Schnur oder Wäscheleine aufzureihen. Der Zuhörer tastet sich dann zeitgleich zum Erzählstrang an seiner Erzählschnur entlang.

  • Gegenstände können auch in Fühlsäckchen oder –kisten verstaut und dann passend zum Verlauf der erzählten Geschichte herausgeholt und ertastet werden.

  • Auch ein faltbares Leporello in Ziehharmonikaform ist möglich; hier werden die tastbaren Seiten nicht hinter, sondern nebeneinander organisiert.

Mit Büchern lernen blinde und sehbehinderte Kinder aber,

  • dass es ein Vorne und Hinten, oben und unten gibt

  • dass Text von links nach rechts und von oben nach unten gelesen wird

  • dass Seiten umgeblättert werden und immer zwei Seiten nebeneinander liegen

  • dass es eine Titelseite, Seitenzahlen, Kapitel und Überschriften gibt

  • und vieles mehr - also ein Buchkonzept zu entwickeln

Bücher sollten immer inklusiv konzipiert sein. Sie sollten mit dem gleichen Spaß für sehende, sehbehinderte und blinde Kinder nutzbar sein. Taktile Bilder müssen zugleich farblich ansprechen, Text muss in Braille und Schwarzschrift gedruckt sein.

Schrift

  • Auch für Kinder, die noch nicht lesen können, ist Schrift wichtig. Gerade blinde Kinder begegnen anders als Sehende in ihrem Alltag kaum der Brailleschrift. Schrift in Kinderbüchern hilft ihnen, Vorstellungen von Schrift zu bekommen und Buchstaben oder Wörter zu erkennen.

  • In Büchern kann der Text immer auf einer und die taktilen Bilder immer auf der anderen Seite angeordnet sein.

  • Bei blinden Kindern ist es sinnvoll, auf einer Seite immer den Braille- und Schwarzschrifttext parallel zu haben. So kann bei geringem Restsehvermögen auch Schwarzschrift wahrgenommen werden und Sehende Vorleser oder Geschwister können den Text mitlesen.

  • Die Brailleschrift ist für Vorschulkinder folgendermaßen optimal:
    * linksbündiger Text
    * große und kleine Buchstaben
    * keine Worttrennungen
    * keine wörtliche Rede
    * doppelter Zeilenabstand
    * kein doppelter Buchstabenabstand

  • Schrift kann auch in die Bilder integriert werden: Objekte können beschriftet sein, es kann Straßen aus Buchstaben, Namens oder Hinweisschilder geben.

  • Die Bilder können auch anheftbare Buchstaben oder Wörter enthalten, mit denen sich vielfältige Variationsmöglichkeiten und Aufgaben für das Kind ergeben, z. B. den fehlenden Buchstaben im eigenen Namen zu suchen und richtig einzusetzen.

  • Optimal ist es, wenn die Beschriftungen im Buch auf das Kind angepasst werden können. Motivierend ist es, wenn die Hauptfigur des Buches z. B. den gleichen Namen trägt wie das Kind hat.

  • Beschriftungen dürfen aber das Ertasten des Bildes nicht stören. Hinweis- und Beschriftungspfeile erschweren das Erkennen. Ggf. können Abkürzungen oder eine Legende verwendet werden.

Handelnd begreifen

  • Möglichst viele Elemente sollen beweglich sein und dem Kind ermöglichen, die Geschichte selbst mit zu spielen und zu gestalten. So könnte ein Tier in einer Höhle versteckt und auch wieder herausgezogen werden können. Passende Objekte könnten durch das Kind einander zugeordnet werden. Mit Klettband lassen sich sehr viele Seitenelemente flexibel und beweglich gestalten.

  • Das Buch kann auch Gegenstände enthalten, die ganz herausgenommen und zum Erkunden und Spielen benutzt werden können, wie Auto, Stofftier ...

  • Die Buchseiten sollten in ihrer Gestaltung variiert werden können. So ist das Buch bei jedem Lesedurchgang anders und für das Kind neu interessant. Bei Zählaufgaben ("Wie viele Bananen will Mama kaufen?") kann die jeweilige Zahl veränderbar gemacht werden.

  • So kann das Buch viele Aufgaben für das Kind enthalten, die es fördert
    * in Feinmotorik, Kraft und Taststrategien
    * im Begriffsverständnis
    * in der Lesevorbereitung

  • Neben einer spannenden taktilen Gestaltung kann ein Buch auch Elemente zum Hören, Riechen oder Schmecken enthalten.

Buchaufbau

  • Das Buch sollte einerseits als solches erkennbar sein mit Buchdeckel und -rücken sowie Seiten zum Umblättern. Andererseits ist es hilfreich, wenn Seiten zum besseren Ertasten herausnehmbar sind. So kann auch der Gesamtumfang und Schwierigkeitsgrad des Buches variiert werden. Ist das Kind schon müde und unkonzentriert, kann man das Buch einfach um die Hälfte reduzieren.

  • Die Seitenzahlen des Buches können durch entsprechend viele tastbare Punkte links unten angegeben werden.

  • Als praktikabel hat sich die Verwendung von Ordnern erwiesen.

  • So kann das Kind auch die in der Schulzeit benötigte Fähigkeit des Ein- und Ausheftens üben.

  • Die Buchseiten sollten fest sein, damit sie eine solide Grundfläche zum Tasten bilden.

  • Die Seiten, Bilder und Texte sollten stabil, Widerstandsfähig und möglichst auch abwaschbar sein.

  • Erfahrungsgemäß sind folgende Materialien gut geeignet:
    * Bristolkarton als Grundmaterial für die Seiten
    * d-c-fix-Folie als Seitenoberfläche auch zum Prägen von Brailleschrift
    * Fußabstreifer (geschlungene Fasern) als Klettfläche zum zusammenfügen von Buchstaben, Wörtern und Objekten

Quellen

Markus Lang (2008): Inhaltsbereiche und konkrete Ausgestaltung einer spezifischen Didaktik des Unterrichts mit blinden und hochgradig sehbehinderten Schülerinnen und Schülern. In: Lang, M. / Hofer, U. / Beyer, F.: Didaktik des Unterrichts mit blinden und hochgradig sehbehinderten Schülerinnen und Schülern. Kohlhammer, Stuttgart, 151-197

Peter Hanke (2006): Gestaltungsmöglichkeiten für taktile Bilderbücher - Vorgestellt an einem taktilen Bilderbuch für blinde und sehbehinderte Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren - Darlegung des Konzepts unter wahrnehmungsphysiologischen, pädagogischen, technischen und entwicklungspsychologischen Aspekten, Marburg

Inge Ziehmann, Adalbert Wagner (2012): Ilvesheimer Standards für die Buchherstellung zum Erwerb der Brailleschrift. Unveröffentlichtes Manuskript der Beratungsstelle der Schloss-Schule Ilvesheim

 

Finden Sie hier die englische Fassung: Good tactile books for children