Qualität der Förderung blinder und sehbehinderter Schüler

  • Blinde und sehbehinderte Lernende und ihre Eltern müssen wissen, welche spezielle Förderung für sie vorgesehen ist. So können sie einschätzen, ob alle nötigen Maßnahmen auch tatsächlich angeboten werden.
  • Verantwortliche in Politik und Verwaltung brauchen Maßstäbe, welche Förderung gewährleistet werden muss und welche Maßnahmen dazu ggf. zu ergreifen sind.
  • Lehrkräfte - vor allem Blinden- und Sehbehindertenpädagogen - brauchen Richtlinien, welche Förderung sie blinden und sehbehinderten Lernenden anbieten müssen.

Nachfolgend werden in vereinfachter und verständlicher Form die Inhalte der Modell-Leistungsbeschreibung „Bildung, Erziehung und Rehabilitation blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher in einer inklusiven Schule in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland - Standards, Spezifisches Curriculum“ vorgestellt.

Zusammengestellt von

Reiner Delgado Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV) Sozialreferent Telefon: 030 285387-240

Autorisiert vom Vorstand des Verbands für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik (VBS).

Einführung

Auch blinde und sehbehinderte Schüler sollen in der Schule die gleichen Lerninhalte erarbeiten und die gleichen Lernziele erreichen wie gut sehende Mitschüler. Darüber hinaus sind aber viele Dinge zu lernen, die man als spezifisches, zweites oder zusätzliches Curriculum (Lehrplan) bezeichnen kann. Diese hier beschriebenen Bestandteile eines spezifischen Curriculums gelten für Schüler mit Seheinschränkung unabhängig davon, ob sie an einer allgemeinen oder an einer Förderschule unterrichtet werden oder ob zu ihrer Seheinschränkung noch weitere Beeinträchtigungen hinzukommen.

1. Förderung des Sehens

Durch Sehförderung sollen sehbehinderte Schüler ihr vorhandenes Sehvermögen optimal ausnutzen lernen. Bestandteile dieser Sehförderung sind:

  • Der Bericht vom Augenarzt über die Augenerkrankung und die Sehfähigkeit wird ausgewertet.
  • Zusätzlich wird im Schulalltag getestet, wie sich die Augenerkrankung auswirkt und welche Sehfähigkeit und Sehbeeinträchtigungen die Schüler konkret haben. (funktionales Sehen). Neben der Sehschärfe kann z. B. im Alltag das Gesichtsfeld, Farbsehen, Blendempfindlichkeit oder ein Augenzittern großen Einfluss auf das Sehen haben.
  • Die Gestaltung des Lernumfeldes (z. B. durch besondere Beleuchtung, wenig Blendung, deutliche gute Kontraste, vergrößerte Objekte und die Möglichkeit, nah an Objekte herangehen zu können.
  • Lernmedien, wie Bücher, Hefte, Tafeln, White Board sind so gestaltet, dass sie gut gesehen werden können, z. B., durch große Schrift, Kontraste und einfache grafische Darstellungen.
  • Die Schüler erhalten auf sie abgestimmte Sehhilfen wie Lupen, Monokulare (Ferngläser für ein Auge), Lesegeräte und werden in deren Benutzung ausführlich geschult.
  • Sie lernen außerdem geschult, ihr Sehvermögen optimal einzusetzen, z. B. durch „visuelles Abtasten“ oder visuelles Verfolgen bewegter Objekte.
  • Zusammenarbeit mit Augenarzt, Optiker, und Orthoptist, Low Vision-Trainer, Eltern

2. Wahrnehmung und Lernen

Für blinde und sehbehinderte Schüler sind Hören, Tasten, Riechen, Schmecken und die Selbstwahrnehmung besonders wichtig. Damit sie diese Sinne optimal nutzen können, wird folgende Förderung angeboten:

  • Ermutigung zum Erkunden der Umwelt mit allen Sinnen
  • Wahrnehmungsförderung: Die Schüler werden angeleitet aus Sinneseindrücken möglichst viele Informationen zu entnehmen, um Dinge oder Vorgänge zu erkennen.
  • Begriffsbildung: Sie lernen Begriffe für konkrete oder abstrakte Dinge, lernen ihre Eigenschaften kennen und lernen sie mit ihren Sinnen erkennen.
  • Sie lernen, wie man tastet (Taststrategien), um Objekte systematisch, gründlich, schnell und exakt zu erkennen. Dazu werden ihnen angemessene Tastmedien zur Verfügung gestellt, wie z. B. Originalobjekte, Modelle und tastbare Grafiken.
  • Sie lernen, ihr Gehör optimal zu nutzen zur Erkennung von Dingen, ihrer Entfernung und wo sie sich befinden. Sie lernen, aus gehörter Sprache wie in Hörbüchern effizient Informationen zu entnehmen.
  • Es wird geprüft, ob Schüler aufgrund ihrer Seheinschränkung Brailleschrift (Blindenschrift) nutzen müssen. Sie werden auf die Brailleschrift vorbereitet und erlernen, si zu lesen, zu schreiben und effizient zu nutzen. Sie lernen die Blindenvoll- und Kurzschrift, die Brailleschrift für Computer-Braillezeilenschrift sowie die Darstellung von mathematischen und anderen naturwissenschaftlichen Formeln in Punktschrift und werden in die Blindennotenschrift eingeführt.
  • Die Verwendung von Methoden und Medien für alle Sinne wird in den Unterricht eingebaut. Solches Lernen erfordert oft eine andere Unterrichtsorganisation und mehr Zeit. Das wird berücksichtigt.

3. Orientierung und Mobilität (O&M), Lebens- bzw. Alltagspraktische Fähigkeiten (LPF), Motorik

  • Eine gesunde und altersgemäße Motorik (Bewegungsfähigkeiten) ist für blinde und sehbehinderte Schüler sehr wichtig. Sie ist Voraussetzung für gutes Lernen. und eine normale Teilhabe am Schulleben. Sie wird gezielt gefördert, z. B. in Fein- und Grobmotorik, Körperwahrnehmung und Koordination sowie Raumwahrnehmung und Orientierung.
  • Im Unterricht in lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF) lernen blinde und sehbehinderte Schüler, selbstständig Alltagsaufgaben zu bewältigen, wie Körperpflege, An- und Auskleiden, Essen., Ordnungssysteme und Suchtechniken. Diese Fähigkeiten sind auch wichtig, um selbstständig am Schulalltag teilzunehmen.
  • Im Unterricht in Orientierung und Mobilität (O&M) lernen sie, sich selbstständig in Gebäuden, draußen und im Straßenverkehr zu orientieren, sowie öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.
  • Zusammenarbeit: Der Unterricht in O&M und LPF wird im Einzelunterricht von Rehabilitationslehrern für Blinde und Sehbehinderte erteilt.
  • Die Schule wird so gestaltet, dass die Orientierung für blinde und sehbehinderte Schüler erleichtert ist, z. B. durch Beleuchtung, gute Kontraste, große und tastbare Beschilderung, Leitlinien auf dem Boden.
  • Außerdem sind Bewegungsförderung, LPF und O&M Unterrichtsprinzipien und werden stetig ins alltägliche Lernen eingebaut. Die Befreiung blinder und sehbehinderter Schüler vom Sportunterricht nur aufgrund der Seheinschränkung ist nicht zulässig.
  • Diese spezielle Förderung nimmt für blinde und sehbehinderte Schüler einen wesentlich größeren Raum ein als bei normal sehenden Schülern. Sie ist daher nur zusätzlich zum regulären Lernprogramm der Schule leistbar.

4. Technische Hilfsmittel

Technische Hilfsmittel helfen blinden und sehbehinderten Schülern bei vielen Alltagsaufgaben und vor allem bei der Informationsaufnahme.

  • Blinde und sehbehinderte Schüler erhalten die auf ihre Behinderung abgestimmten Hilfsmittel und lernen, wie sie benutzt werden. Sie werden unterstützt, die Hilfsmittel und ihre Verwendung zu akzeptieren. Im Unterrichtsgeschehen wird ermöglicht, dass die nötigen Hilfsmittel auch eingesetzt werden.
  • Solche Hilfsmittel sind u. a. Braillezeile, Screenreader, Sprachausgabe, Vergrößerungssoftware, Bildschirmlesegerät, optische Vergrößerungshilfen, Medien der Unterstützten Kommunikation.
  • Zusammenarbeit mit Optiker, Orthoptist, Hilfsmittelanbieter, Beratungsstellen, Selbsthilfeorganisationen

5. Lebensplanung, Berufsorientierung, Freizeitgestaltung

Lernangebote zu diesen Bereichen umfassen:

  • Schüler lernen, ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten einzuschätzen, und darauf Planungen für ihre Lebensgestaltung aufzubauen.
  • Sie bekommen vielfältige Gelegenheiten, sich in unterschiedlich schwierigen Anforderungssituationen zu erproben.
  • Sie lernen verschiedene Berufsfelder und zugehörige Ausbildungsmöglichkeiten kennen und erfahren, welche eigenen Fähigkeiten, sächliche Voraussetzungen, Hilfsmittel und Assistenz nötig sind und finden so zu einer fundierten Berufswahl.
  • Ihnen werden geeignete Freizeitaktivitäten vorgestellt sowie Voraussetzungen und Teilhabemöglichkeiten an Freizeit, Kultur und Sport aufgezeigt.

6. Soziale Kompetenz

Für eine gute soziale Kompetenz ist neben LPF und O&M die Förderung in folgenden Bereichen nötig:

  • Blinde und sehbehinderte Schüler mit guten kommunikativen Fähigkeiten kennen die Bedeutung und die Funktion nonverbaler Kommunikation und die Wirkung der eigenen Körpersprache und können ihr eingeschränktes Sehvermögen in diesen Bereichen weitgehend ausgleichen..
  • Sie lernen auch den aktiven Umgang mit der eigenen Behinderung. Dies kann sich in der Selbsteinschätzung oder im Wissen um Bewältigungsstrategien äußern und sie wissen, wie man mit verschiedenen Situationen gut umgeht.
  • Sie sind in Autonomie und Selbstbestimmung gestärkt (empowerment) und haben die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Menschen mit Gleichbetroffenen (Peers), i. d. R. organisiert durch Selbsthilfeorganisationen. Sie wissen über ihre sozialen Rechte als behinderte Menschen Bescheid.

Stundenzahlen der spezifischen Förderung

Für die dargestellte Förderung müssen neben anderen Fachleuten vor allem Blinden- und SehbehindertenlehrerInnen eingesetzt werden.

Gesamtstundenaufwand an jährlicher Förderung für

  • a) Anfangsdiagnostik: 19 Stunden
  • b) wesentlich sehbehinderte Lernende: 158 Stunden jährlich
  • c) hochgradig sehbehinderte Lernende, die i.d. R. mit Schwarzschrift und Brailleschrift kombiniert arbeiten: 432 Stunden jährlich
  • d) für blinde Lernende: 696 Stunden jährlich
  • e) für Lernende mit Seheinschränkung und weiteren Beeinträchtigungen: zusätzlich 237 Stunden jährlich

Der Zeitaufwand fällt an in den Bereichen:

  1. Schülerbezogene Leistungen
    1. Erstkontakt
    2. Hilfsmittelausstattung und Förderangebote
    3. Beratung im Unterricht
  2. Schulbezogene Leistungen (Konferenzen, Teamsitzungen, Dokumentation)
  3. Netzwerk (Vor- und Nachbearbeitung, Konzeptarbeit, Abstimmung mit anderen Fachleuten)
  4. zusätzliche Kursangebote für blinde und sehbehinderte Schüler
  5. Fahrten zu den allgemeinen Schulen, wo die Schüler lernen (hängt von der Entfernung ab)
  6. Medienherstellung

Leistungen, die direkt beim Schüler ankommen sollten:

  1. Schülerbezogene Leistungen
    • b) sehbehindert: 99 Stunden jährlich
    • c) hochgradig sehbehindert: 215 Stunden jährlich
    • d) blind: 478 Stunden jährlich
    • e) mehrfachbehindert: zusätzlich 114 Stunden jährlich
  2. Kursangebote: 9 Stunden jährlich für alle Schüler
  3. Medienherstellung
    • a) sehbehindert: 15 Stunden jährlich
    • b) hochgradig sehbehindert: 30 Stunden jährlich
    • c) blind: 120 Stunden jährlich
    • d) mehrfachbehindert: -