Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF) im Forschungslabor

Aus gefühltem Nutzen ist nachweisbarer Nutzen geworden. Erstmals hat sich die Wissenschaft mit dem Thema LPF befasst. Sabine Lauber von der Universität Marburg präsentierte am 29. Oktober 2010 beim DBSV-Verwaltungsrat in Magdeburg die Ergebnisse ihrer Studie. Demnach lassen sich Selbstständigkeit und Lebensqualität durch LPF-Schulungen steigern. Im Interview mit der „Gegenwart“ erläuterte die Pädagogin, wie sie ihre Studie aufgebaut hat und wie sich die Wirksamkeit der Schulungen belegen lässt.

Interview mit Sabine Lauber von der Universität Marburg

Portrait Frau Lauber
Zeigt in ihrer Studie die positiven Effekte von LPF-Schulungen: Sabine Lauber von der Universität Marburg

Gegenwart: Frau Lauber, Sie sind wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften an der Uni Marburg und haben im Auftrag der Blista eine Studie zum Thema LPF durchgeführt. Wie lautet die Fragestellung, von der Sie ausgegangen sind?

Sabine Lauber: Die Fragestellung war zum einen, wie der Unterricht in LPF sich auf die Selbstständigkeit und die Lebensqualität von älteren Erwachsenen auswirken kann. Zum anderen haben wir uns mit der Frage befasst, ob die Schulungskonzeption sinnvoll ist und ob es da Verbesserungsmöglichkeiten gibt.

Gegenwart: Letztlich ging es also darum, den Erfolg von LPF-Schulungen zu ermitteln…

Sabine Lauber: Genau, wie erfolgreich sie sind und wie man diesen Erfolg weiter unterstützen kann.

Gegenwart: Welches waren die Kriterien, nach denen Sie die Teilnehmer ausgewählt haben?

Sabine Lauber: Wir haben uns für die Gruppe der älteren Erwachsenen entschieden, das heißt, die Teilnehmer waren im Schnitt über 55 Jahre alt. Die genaue Altersspanne reichte von 52 bis 81 Jahren. Die Entscheidung ist deswegen auf diese Gruppe gefallen, weil es dort im Vergleich zur Arbeit mit Schülern oder der beruflichen Rehabilitation relativ wenige Erfahrungen gibt und es gleichzeitig unter den blinden und sehbehinderten Menschen die Gruppe ist, die am stärksten wächst. Ein dritter Faktor war, dass hier die Finanzierung am ungesichertsten ist. Und wenn man keine vernünftigen Daten hat, um zu belegen, dass etwas funktioniert, kann man natürlich schlecht über Finanzierungen verhandeln.

Gegenwart: Die zwölf Teilnehmer haben alle ein 20-stündiges LPF-Training durchlaufen. Wie sind Sie methodisch vorgegangen, um die Wirksamkeit der Schulungen zu ermitteln?

Sabine Lauber: Wir haben mit den Teilnehmern zu verschiedenen Zeitpunkten gesprochen. Sie haben zunächst Besuch von den Rehalehrern bekommen, die in einem Erstgespräch erfragt haben, was sie überhaupt lernen wollen. Dann bin ich hingefahren und habe mich mit ihnen anderthalb Stunden über ihr Leben, ihre Biografie, ihre Erfahrungen mit der Sehbehinderung unterhalten und noch mal nachgefasst, was im Unterricht behandelt werden soll, was ihre Ziele, ihre Wünsche sind. Dann kam der Unterricht und danach habe ich die Teilnehmer noch zweimal interviewt, einmal direkt im Anschluss und einmal sechs Wochen später, um zu erfahren, inwieweit das Training erfolgreich war, was sie gelernt haben, was sie gerne noch gelernt hätten, ob die Zeit ausgereicht hat und wie sie den Unterricht empfunden haben. Außerdem haben wir mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens der Weltgesundheitsorganisation vor und nach dem Training erfasst, wie die Lebensqualität der Teilnehmenden war.

Zerteilen eines Apfels
Das Zerteilen eines Apfels bringt Übung im Umgang mit dem scharfen Messer

Gegenwart: Wie kann man denn so etwas wie Lebensqualität oder Selbstständigkeit messen?

Sabine Lauber: Die Sozialwissenschaft fasst Lebensqualität mittlerweile sehr weit und berücksichtigt auch Aspekte wie Umwelt, soziales Umfeld, Wohnumfeld, Gesundheit, Zufriedenheit mit dem Leben. Es geht also nicht nur darum, den wirtschaftlichen Erfolg zu messen, sondern es spielen auch soziale Faktoren eine Rolle. Hierzu gibt es einen Fragenkatalog, der an vielen Leuten getestet wurde und den man einsetzen kann. Dann erreicht man einen gewissen Wert, den man mit der Vergleichsgruppe, die vorher befragt wurde, in Verbindung setzen kann. Lebensqualität kann man aber auch ganz subjektiv erfassen, indem man die Leute danach fragt und sich das erzählen lässt, die Ergebnisse dann miteinander vergleicht und intensiv auswertet. Das haben wir in den Interviews gemacht. Und Selbstständigkeit ist ein genau definierter pädagogischer Begriff, der sich aus Selbsttätigkeit und der Fähigkeit, selbst ständig eine Tätigkeit ausüben zu können, herleitet. Das heißt, das Ziel ist, jemanden durch eine pädagogische Handlung so zu fördern, dass er selbstständig etwas bewerkstelligen kann, was er vorher nicht konnte.

Gegenwart: Was waren das zum Beispiel für Punkte, an denen die Teilnehmer einen Zugewinn an Selbstständigkeit festgemacht haben?

Sabine Lauber: Das fängt bei relativ einfachen Dingen an: die Wasserflasche aufschrauben, gezielt das Glas finden, das auf dem Tisch steht, sich selbstständig etwas eingießen und damit selbst bestimmen können – Selbstbestimmung ist ein wesentlicher Bestandteil von Selbstständigkeit – , wann man wie viel trinken möchte. Das kann auch bedeuten, sich das Telefon zurückzuerobern, indem man bestimmte Tastenkombinationen, Markierungen kennen lernt, die einem helfen, sich auf dem Telefon zu orientieren und selbstständig bestimmen zu können, wann man mit wem kommuniziert, anstatt auf den Impuls von außen warten zu müssen. Bis hin zu einer Teilnehmerin, die begeisterte Köchin ist. Vor ihrer Erblindung war das Kochen für andere ein wesentlicher Bestandteil ihres sozialen Lebens und das kann sie jetzt wieder. Das ist für sie ein großer Gewinn an Selbstständigkeit und auch an sozialer Zufriedenheit, weil sie wieder aktiv an ihrem Freundeskreis teilnimmt, ohne sich als hilfsbedürftig zu empfinden.

Gegenwart: Wie sind nun, grob gefasst, die Ergebnisse Ihrer Studie?

Sabine Lauber: In Zahlen ausgedrückt, ging es den Teilnehmern vor der Studie im Durchschnitt gleich gut oder besser als 48 Prozent der Bevölkerung. Nach der Studie lag dieser Wert bei 54 Prozent. Das ist keine große Steigerung, aber insgesamt bewegt sich der Wert um die Mitte der Gesamtbevölkerung. Anhand des standardisierten Fragebogens kann man also sagen, dass sich die Lebensqualität durch das LPF-Training steigern lässt. In den Interviews haben wir uns das noch mal genauer angeschaut und haben dort nach der subjektiven Sicht auf die Lebensqualität gefragt: Hat sich Ihre Lebensqualität verbessert? Hat sich Ihre Selbstständigkeit verbessert? Woran machen Sie das fest? Und da haben zehn der zwölf Teilnehmer ganz klar gesagt, dass sowohl die Selbstständigkeit als auch die Lebensqualität gestiegen sind, dass sie von dem Unterricht sehr profitiert haben und es ihnen subjektiv deutlich besser geht als vorher. Das betrifft insbesondere die Gestaltung des eigenen Tages und die Unabhängigkeit vom Umfeld. So hat eine Teilnehmerin erzählt, dass sie ihren Mann nicht mehr ruft, weil er ihr das Wasser einschenken soll, sondern weil sie mit ihm zum Beispiel eine Radiosendung hören möchte. Solche Beschreibungen gab es mehrfach und daran wird deutlich, dass die subjektive Selbstständigkeit und Lebensqualität wirklich enorm gestiegen sind.

Gegenwart: Nun ist es ja leider so, dass sich Kostenträger mehr für die Kostenfrage als für die Wirksamkeit einer Reha-Maßnahme interessieren. In dem Zusammenhang hat mich der Fall einer Teilnehmerin beeindruckt, die über 80 Jahre alt ist und mit ihrem Mann zusammenlebt, der während der Studie erkrankt ist und ins Krankenhaus musste. Und diese Frau hat es mit Unterstützung von Familie und Pflegedienst geschafft, ihren Alltag eigenständig zu bewältigen, was sie dem LPF-Training zuschreibt. Sonst hätte sie vielleicht vorübergehend in ein Pflegeheim gehen müssen. Kann man da nicht ansetzen und gegenüber den Kostenträgern argumentieren, dass man mit LPF präventiv investiert, um später Kosten einsparen zu können?

Sabine Lauber: Wie man das politisch verwendet, da möchte ich mich weitestgehend zurückhalten. Aber man kann diese Effekte deutlich belegen, nicht nur in diesem einen Fall. Personen, die erst im höheren Erwachsenenalter erblinden, haben viel sehende Vorerfahrung. Da kann man mit einem relativ geringen Aufwand von 20 Stunden große Effekte erzielen, die dazu beitragen, dass die Leute möglichst lange aktiv und selbstverantwortlich ihr Leben gestalten. Ich bin auch überzeugt davon, dass das gesundheitliche Effekte hat, im Sinne von Aktivierung, Mobilisierung, Teilhabe am Leben, Verantwortung für die eigene Gesundheit, vernünftige Ernährung, gesundes Trinkverhalten, systematische Einnahme von Medikamenten. Wenn ich zum Beispiel meine Tablettenschachteln aufgrund von Markierungen sicher identifizieren kann, ist das ein großer Gewinn für die Stabilität der allgemeinen Gesundheit. Das war in den Schulungen ein großes Thema: die Dosierung und Einnahme von Medikamenten, aber auch die Zubereitung von vollwertigen Mahlzeiten oder der sichere Umgang mit Maschinen und Geräten, die eine Unfallgefahr bergen. All dies haben die Teilnehmer beschrieben.

Gegenwart: Nach den Empfehlungen des Verbandes der Allgemeinen Krankenkassen wurden die LPF-Trainings in Ihrer Studie alle 20-stündig durchgeführt. Wie war die Rückmeldung der Teilnehmer: Reicht das?

Sabine Lauber: Wenn eine Grundorientierung im Haushalt gegeben ist und der Gesundheitszustand stabil ist, kommt man mit den 20 Stunden hin. Wir hatten aber auch einen Fall, wo man eigentlich noch mal 20 Stunden gebraucht hätte. Da hatte der Teilnehmer relativ wenig sehende Vorerfahrung im Haushalt und in Folge einer weiteren Erkrankung, die mit Bewegungseinschränkungen einherging, war das Haus gerade umgebaut worden. Da gab es einfach Adaptionsschwierigkeiten. Was bei der Frage aber wesentlich entscheidender ist, ist die Sorge der Teilnehmer, was passiert, wenn sich nach dem Training etwas ändert, wenn sich die Augen erneut verschlechtern und man etwa mit dem Lesegerät nicht mehr klarkommt, sondern ein neues Gerät braucht. Deshalb wäre es aus meiner Sicht wichtig, dafür zu sorgen, dass es auch kleinere Angebote für Nachschulungen gibt.

Gegenwart: Sie sind der Lebenswelt blinder und sehbehinderter Menschen während der Studie recht nahe gekommen. Was ist Ihr persönlicher Wunsch, was diese Studie bewirken soll?

Sabine Lauber: Auf der politischen Ebene hoffe ich, dass man in die Diskussion kommt und sachliche Argumente findet, um zu guten Lösungen zu gelangen. Forschung ist ja dazu da, objektive Ergebnisse zu produzieren, mit denen man weiterarbeiten kann. Wenn unsere Datengrundlage hierzu dienen kann, würde mich das sehr freuen. Für die Teilnehmenden und für alle, die in Zukunft ein LPF-Training absolvieren, hoffe ich, dass alles, was wir über das Konzept erarbeitet haben, dazu beiträgt, dass die Schulungen noch weiter verbessert werden und noch wirksamer werden. Und für die Forschung war es ein Start, der gezeigt hat, dass noch viel zu tun ist. Hier hoffe ich, dass man gesehen hat, dass es sich lohnt, in diesem Feld weiter zu forschen.

Dieses Gespräch führte Irene Klein.

Kurzinfo: LPF – wissenschaftlich untersucht

Die LPF-Studie wurde von der Deutschen Blindenstudienanstalt (Blista) in Auftrag gegeben und finanziert. Für die Teilnehmer, die keine Bewilligung durch ihre Krankenkasse bzw. den Sozialhilfeträger erhalten haben, hat die Blista auch die Kosten für das LPF-Training übernommen. Der DBSV unterstützte die Studie von Anfang an und leistete im Rahmen seiner Möglichkeiten einen finanziellen Beitrag.